Als er jetzt von der Autobahn abfuhr, stieg plötzlich das Bild des honorigen Professors in ihm hoch, den er während seines halbjährigen Aufenthalts zumindest gelegentlich zu Gesicht bekommen hatte. Sein markanter, weißer Bart über dem gleichfarbigen Arztkittel, die tiefe Stimme und eine warme, aber herrschaftliche Ausstrahlung, dazu sein Bewegungsduktus, alles schien wie selbstverständlich Vertrauen auszustrahlen. Eine deutschlandweite Koryphäe auf seinem Spezialgebiet konnte er froh sein, überhaupt von ihm behandelt zu werden. Seine bescheidene soziale Herkunft jedenfalls war bei der Überweisung nicht behilflich gewesen und nur die Schwere seines Falles und die Intervention seines Vaters hatten ihn schließlich in diese Großstadt und an diese besondere Institution gebracht. Der halbjährige Zwangsaufenthalt lag nun schon ein paar Jahre zurück, aber immer noch beschäftigten ihn einzelne Szenen und Erfahrungen. Noch nie war er so lange abgeschieden gewesen von der Welt, die dauerhafte Isolation veränderte die Wahrnehmung. Passend dazu hatte er sich zwei dicke Romane damals mitgenommen und irgendwie auch in ihren so anderen Zeiten und Orten Schutz gesucht. Sie waren Ausgangspunkt in eine andere Welt, wenn die seines Krankenhausbettes zu eng und außer regelmäßigen Visiten nichts zu bieten hatte. „Der Zauberberg“ von Thomas Mann mit Settembrini, Nafta und Claudia Chauchat war der eine und eine englische Ausgabe von Joyce´ „Ulysses“ der andere. Er suchte eine Herausforderung, die seinen Lesehorizont erweitern sollte. Beide Bücher taten dies, ohne mit der Wimper zu zucken und nach Jahren sang er noch seine selbst verfasste Melodie zum „Joking Jesus“.
„I´m the queerest young fellow that ever you heard
My mother´s a Jew, my father’s a bird …
What’s bred in the bone cannot fail me to fly
And Olivet’s breezy, Goodbye now, Goodbye.”
Sein Vokabelwortschatz im Englischen war dem Sprachreichtum Joyce´ so wenig gewachsen, wie eine Maus, die sich auf den Rücken eines Elefanten verirrt hatte. Die gelesenen Seiten glichen einem Gewimmel aus Unterstreichungen und angemerkten Übersetzungen, dass er manchmal glaubte, auch gleich im Wörterbuch selbst weiterlesen zu können. Viel war ihm von dieser längsten stationär verbrachten Krankenhauszeit nicht in Erinnerung geblieben und das wenige verschwamm wie ein langsam ausbleichendes Foto. Jetzt, wo er einmal mehr allein durch die Stadt hinauf zum Krankenhaus fuhr, dachte er an damalige Bettnachbarn. Die Straßen waren noch morgendlich leer, die Häuserwände mausgrau, was zu seinem ernüchterten Gefühl des Ausgeliefertseins passte. Seit fast zehn Jahren diktierte die Krankheit nun seinen Lebensablauf und hielt ihn in einer Art Würgegriff. Sie forderte unablässig den ihr eigenen Tribut, auch den der regelmäßig stattfindenden Kontrollen, deren unbekannte Ergebnisse im voraus eine beklemmende Angst schürten. Er fuhr durch die steinerne Einfahrt des Krankenhauskomplexes als passierte er ein Gefängnistor und parkte den Wagen auf dem dafür vorgeschriebenen Areal. Das Aussteigen zögerte er noch einen kleinen Moment hinaus und warf dann einen letzten Blick in dem Bewusstsein über die Schulter zurück, das Auto mindestens eine Woche lang nicht mehr zu benötigen. Was in seinen Knochen steckte und in seinem Bauch würde ihn auf keinem Öl- oder Kalvarienberg der Welt wie ein Vogel davonfliegen lassen.