Literaturrezensionen sowie Kunst und Kultur eigener Art
Die Vergeblichkeit der Erinnerung V
Ulrich Gärtner war knapp über ein Meter achtzig groß, sah eigentlich schlank und kräftig aus, sodass man auf seine innere Krankheit rein äußerlich nicht sofort geschlossen hätte. Seine dunkelblonden, glatten Haare waren vor zehn Jahren einmal länger gewesen, jetzt hatten sie sich zu einem ziemlich normalen, mittellangen Haarschnitt verändert und einen linken Scheitel hatte er schon immer gehabt. Krankenhäuser verschlingen dich, sie berauben dich der Freiheit, selbst über dich zu entscheiden, dachte er. Aber war das nicht ein lebenslanges Los, fremdbestimmt zu werden: Erziehung, Schule, Beruf, Krankheit, das Alter, geradezu eine Kette der fortgesetzten Fremdbestimmung, vom Schicksal selbst mal ganz zu schweigen. Er erinnerte sich, einen Film mit dem Titel “Das Gespenst der Freiheit” gesehen zu haben. War der Mensch nun per se unfrei oder wie die Existentialisten behauptet hatten, ein sich in jeder Sekunde frei entscheidendes Wesen? Nur in seinen Gedanken mochte man sich die Illusion einer Freiheit bewahren, die real wohl doch nie ganz existierte, grübelte er vor sich hin. Schon was man allgemein Schicksal nannte, schien gerade das größte Indiz lebenslanger, allumfassender Knechtschaft.
Wo er jetzt lag, gaben riesige Gebäudestrukturen die Wege vor, Essenspläne regelten die Nahrungsaufnahme, Fieberkurven wurden zum Einmaleins des Alltags. In dieser mühlenartigen Maschinerie zu verschwinden kostete ihn stets mühevolle Überwindung. Er fixierte im Bett liegend einen scheinbar beliebigen Gegenstand, eine Vase, eine Uhr, den Schlüssel in dem schmalen Kleiderschrank, als ob in einem von ihnen das Geheimnis seines jetzt hier Verortet-Seins zu finden wäre. Die große Uhr mit dem schwarzen Ziffernblatt animierte zum Nachdenken über die Zeit und unwillkürlich dachte er an Dylan Thomas und das Gedicht, in dem dieser vom “Prinz der Apfelstädte” und der gnadenvollen Zeit der Kindheit sprach: “Fern Hill”. In den fernen Bergen zuhause, was mochte wohl die Freundin und ihre beiden Hunde in diesem Moment machen? Er vermisste die Spaziergänge durch den Wald, egal ob Sommer oder Winter, raschelndes Laub oder glitzernde Schneebälle, das Laufen mit dem Freund und den beiden Hunden, Anna und Tommi, schwarzer Schnauzer und Airedale-Terrier, Mischlinge beide und wie gern sie den geworfenen Stöcken hinterherliefen. Der Rüde suchte sich die größten und dicksten Stämme aus, um der Hündin zu imponieren. Am meisten aber vermisste er die leicht philosophischen Gespräche über Literatur und Musik mit diesem Sohn des Inhabers eines Fleischereigeschäfts in der Kreisstadt, wo er auch seine Freundin kennengelernt hatte. Ja, bei dem Freund hatten sie sich das erste Mal getroffen, in seiner Werkstatt, in der er antiquarische Möbel aufarbeitete, um sie gewinnbringend wieder zu verkaufen. Er machte damals eine Tischlerlehre und das letzte, was ihm im Gedächtnis bleiben sollte war, dass er Möbel nicht nur schleifen und lackieren, sondern seine eigenen entwerfen und herstellen wollte, um später sogar nach Kanada auszuwandern. Vielleicht hatte er das zu unrecht als unausgegorene Jugendträume belächelt, er wusste es nicht.
Wie er jetzt im Krankenhausbett an die Decke starrte, wurde ihm bewusst, dass letztlich nur die Photographie von einem dieser gemeinsamen Hundespaziergänge im tief verschneiten Winter in seinem Gedächtnis tiefgefroren war. Immer würde die ausholende Bewegung des schweren Körpers seines Freundes, die den Schneeball in den Himmel werfenden Arme das Zentrum seines Erinnerns bleiben. Wie nicht nur der Ball, sondern der Schleudernde selbst ein wenig von der Erde abhob, als gelte es, dort oben das eigene Schicksal zu treffen. Dabei warf er doch nur zerplatzende Schneebälle oder Stöckchen für die Hunde.
Er löste sich mühsam von diesem Bild und wurde in die Gegenwart zurückgeholt, als es an der Tür klopfte und der Stationsarzt zur Eingangsuntersuchung und Anamnese eintrat. Das Klopfen war wie immer nur eine Art Höflichkeitsreflex. Die Ärzte zögerten nie, unmittelbar sofort hereinzuschneien, ohne auch nur die geringste Patientenreaktion abzuwarten. Er empfand dies als Teil einer allgemeinen Entmündigung und schämte sich gleichzeitig für seine Überempfindlichkeit. Unscheinbare Momente machen die Kette des Lebens aus, dachte er und erinnerte sich an einen Morgen, wo er in diesem Krankenhaus zwei Schwestern auf dem Raucherbalkon belauscht hatte. Die eine redete von einem Lackschaden an ihrem Auto, während man von der Patiententoilette daneben laut und deutlich Urin in das Becken plätschern hörte. Draußen hatte leise fallender Regen diese Szene untermalt. Ihm war aufgefallen, wie blank der Regen das Grün der Blätter putzte. Später hallte nur noch entfernt das Schnattern der Schwestern über den Stationsflur und zäh und bleiern wie ein erkaltender Lavastrom hatte sich die Zeit durch den folgenden, ereignislosen Nachmittag gezogen.