1. Türchen

by Bücherstadt Kurier

Über­ra­schung!

Es war ein­mal ein erfin­de­ri­scher japa­ni­scher Geschäfts­mann. Er lebte davon, äußerst aus­ge­fal­lene Advents­ka­len­der zu ent­wi­ckeln und zu ver­trei­ben. Jedes Jahr ließ er sich eine neue ver­rückte Idee ein­fal­len und machte damit Men­schen mit ver­schie­dens­ten Inter­es­sen glücklich.

Für Rei­se­freu­dige hatte er den Kalen­der „In 24 Tagen um die Welt“ ent­wor­fen. Hin­ter jeder Kalen­der­tür ver­barg sich ein ande­rer Ort. Das konnte ein klei­nes Nach­bar­dorf sein, eine islän­di­sche Insel, eine Wüs­ten­stadt oder eine asia­ti­sche Metro­pole. Sobald der Benut­zer ein Tür­chen öff­nete, wurde er in Sekun­den­schnelle in die abge­bil­dete Umge­bung kata­pul­tiert und konnte den lie­ben lan­gen Tag dort ver­brin­gen. Zum Glück waren die Kalen­der so pro­gram­miert, dass der eigene Wohn­ort nicht darin vor­kam. Zu groß wäre die Ent­täu­schung gewe­sen, den Namen sei­ner Hei­mat­stadt zu lesen und sich kein biss­chen vom Fleck zu rüh­ren. Es war aller­dings rat­sam, die Gebrauchs­an­wei­sung genau zu stu­die­ren. So man­cher hatte im Eifer des Gefechts ver­säumt, seine Kof­fer mit Som­mer- und Win­ter­sa­chen zu packen und für die Reise bereit­zu­stel­len. Wer völ­lig unvor­be­rei­tet und ver­schla­fen eine Tür auf­klappte, ris­kierte, sich in sei­nen Pyja­mas am Urlaubs­ort wiederzufinden.

Jeden Tag einen ande­ren Ort der Welt zu erkun­den ist nicht jeder­manns Sache. Es soll sogar Men­schen geben, die gar nicht gerne rei­sen. Aber auch an die­je­ni­gen hat der Kalen­der­tüft­ler gedacht. Die Vari­ante „24 Begeg­nun­gen mit der Ver­gan­gen­heit“ zum Bei­spiel brachte die Men­schen nicht aus ihren Häu­sern in diverse Städte, son­dern diverse Men­schen zu ihnen in die Häu­ser. Dabei han­delte es sich kei­nes­wegs um irgend­wel­che frem­den Leute, son­dern um Bekannte und Ver­wandte, die man min­des­tens seit fünf Jah­ren nicht gese­hen hatte. So konnte es zum Bei­spiel sein, dass man am 1. Dezem­ber auf das Foto sei­ner Grund­schul­leh­re­rin blickte , am 2. Dezem­ber von sei­nem ehe­ma­li­gen Zahn­arzt ange­lä­chelt wurde, am 3. Dezem­ber eine Urlaubs­be­kannt­schaft wie­der erkannte usw.
Nach weni­gen Minu­ten mate­ria­li­sierte sich die Per­son im Zim­mer, man begrüßte oder umarmte sich herz­lich und konnte nach Lust und Laune einen gesel­li­gen Tag mit­ein­an­der ver­brin­gen. Beson­ders bei Senio­ren stand die­ser Advents­ka­len­der hoch im Kurs. Sie freu­ten sich über jede Abwechs­lung und hat­ten jede Menge Zeit, um sich mit dem Über­ra­schungs­gast zu beschäf­ti­gen. Es soll schon vor­ge­kom­men sein, dass viele ältere Men­schen erst durch den Kalen­der in den Genuss kamen, ihre Enkel­kin­der zu sehen und einen gan­zen Tag mit ihnen zu ver­brin­gen. Und das auch noch vor den Fest­ta­gen und ohne der gesam­ten Sipp­schaft! Der soziale Mehr­wert war dem Her­stel­ler ver­mut­lich gar nicht bewusst gewe­sen. Sehr wohl bewusst war ihm dage­gen, dass er sich vor mög­li­chen Kon­flik­ten und Kla­gen schüt­zen musste. Daher baute er eine Zusatz­funk­tion ein, für die die Kun­den in der Tat sehr dank­bar waren: Unlieb­same Begeg­nun­gen zum Bei­spiel mit Ver­flos­se­nen konn­ten sie ver­hin­dern, indem sie die Tür sofort wie­der zuklapp­ten. Nicht jedes Ant­litz, das zum Vor­schein kam, löste schließ­lich Wie­der­se­hens­freude aus.

Der Advents­ka­len­der für 2016 soll bereits in Arbeit sein. Das Thema ist natür­lich streng geheim. Es kur­sie­ren Gerüchte, dass er dies­mal für Bücher­nar­ren kon­zi­piert ist. Nähe­res wer­den die Leser des Bücher­stadt Kuriers sicher als erste erfahren.

Über die Autorin:
Ich heiße Yukiko und lebe in Mün­chen. Um Schau­plätze der Welt geht es auch in mei­nem Blog www​.Yuk​Book​.me. Ich lasse mich von Ort zu Ort trei­ben – durch Rei­sen, Bücher, Film und Fern­se­hen – und teile meine Ein­drü­cke mit mei­nen Lesern.

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11 comments

kuschelflummi 1. Dezember 2014 - 9:09

Hat dies auf Nekos Geschich­ten­körb­chen reb­loggt und kommentierte:
Awww... das ist mal ein süßer Adventkalender 🐾🐱

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Yukiko 1. Dezember 2014 - 20:13

Danke schön!

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Dorothea Ender 1. Dezember 2014 - 9:35

Hallo Yukiko , ein ganz faz­si­nie­ren­der Advents­ka­len­der, In fer­ner oder etwas nähe­rer Zukunft wer­den wir uns sicher­lich an ferne Wunsch­ziele bea­men kön­nen. Dann ist es lei­der mit dem Rei­se­fie­ber und den Rei­se­vor­be­rei­tun­gen vor­bei und jeden von uns kann täg­lich ein “ Über­a­schungs­gast“ in die Woh­nung schneien. Nach mei­nem Geschmack könnte es erst ein­mal beim Hl. Niko­laus blei­ben, der durch den Kamin in unser Haus blummst, aber bei allen ande­ren Heim­su­chun­gen hätte ich gerne eine Vorabankündigung.

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Yukiko 1. Dezember 2014 - 20:16

Ja, das Rei­se­fie­ber würde ich auch ver­mis­sen. Da loben wir uns doch eine geruh­sa­mere Adventszeit 🙂

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Ute Elsberger 1. Dezember 2014 - 10:23

Liebe Yukiko.
Wie immer ist dir auch diese Geschichte sehr gut gelun­gen. Ich mag deine Kurz­ge­schich­ten sehr gerne, weil ich keine Lese­ratte bin und Bücher immer ein Ewig­keits­werk für mich sind.
LG Ute

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Ingrid 1. Dezember 2014 - 11:05

Eine köst­li­che Idee, eine amü­sante Geschichte, die man selbst für sich noch wei­ter­spin­nen kann.

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Erika Kappelbauer 1. Dezember 2014 - 11:27

Hallo Yukiko.
Das ist ja wirk­lich eine Über­ra­schung, dass Deine Geschichte schon heute erschie­nen ist, da hast Du bestimmt nicht damit gerechnet.
Ich gra­tu­liere Dir zu Dei­nem Erfolg und zu der sehr guten und amü­san­ten Geschichte.

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Tanja 1. Dezember 2014 - 19:33

Eine bezau­bernde Geschichte, die zum Wei­terträu­men ani­miert! Vie­len Dank dafür.

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Literarischer Adventskalender 2014 | Bücherstadt Kurier 1. Dezember 2014 - 23:56

[…] mir Lade...‹ Nebel, bläu­lich graue…1. Türchen […]

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Molly L. 2. Dezember 2014 - 0:12

Oh, mir gefällt der mär­chen­hafte Cha­rak­ter die­ser Geschichte, als auch die feine, sinn­bild­li­che bis – sorry! – gars­tige Iro­nie! Sag, liebe Yukiko: Ist das Absicht, oder lese ich das nur sub­jek­tiv heraus? 😉 🙂

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Yukiko 2. Dezember 2014 - 7:46

Liebe Molly, das hast Du schon ganz rich­tig erfasst 😉 Danke für Dein Feedback!

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