#10. Türchen

by Bücherstadt Kurier

Großstadt Schneeleopard

„Ich sehe was, das du nicht siehst...“, unter­bricht er unser Schwei­gen. Seine Worte knis­tern in der eis­kal­ten Stille. Seit Stun­den schneit es. Fri­sche, wei­che Flo­cken schmie­gen sich um die auf­ge­schüt­te­ten, grauen Schnee­türme am Wegesrand.
Ich sehe zu ihm hinüber.
Unter­schied­li­cher könn­ten zwei Män­ner nicht sein.
Ich bin der Giraffentypos.
Ich schwanke träge und ori­en­tie­rungs­los durch das Gelände.
Er hin­ge­gen bewegt sich geschmei­dig und sicher.
Wenn ich ihn mir hier in der ver­eis­ten Winterwüsten-Parkanlage anschaue, erin­nert er mich
an einen Schneeleoparden.
Er hat alles unter Kontrolle.
Das bewun­dere ich.
Der Schnee­leo­pard und ich.
Uns ver­bin­det nicht viel.
Nur das Laufen.
Jog­gen, bei Wind und Wetter.
„Also?“, fragt er.
„Ich sehe noch nichts.“
Dabei strenge ich meine Augen wirk­lich an. Sie schwei­fen in alle Him­mels­rich­tun­gen und ent­de­cken nichts.
Kein Wunder.
Um uns herum ist alles weiß, hier und da sind ver­schwun­gene Pfade, graue Bäume und Sträucher.
Die Natur schläft.
Es ist Winter.
„Ich sehe was, das du nicht siehst und es ist blau!“, beginnt er von Neuem.
Der Schnee­leo­pard sieht also etwas.
Ich habe es gehört und lache in mei­nen dün­nen Giraffenhals.
Da ist doch nichts.
Er kann gar nichts sehen.
Weit und breit nur Winter.
Der Großstadt-Schneeleopard will mich ärgern.
Wahr­schein­lich hat er mal wie­der so ein Gefühl.
So ein Gespür.
Dau­ernd spürt er was.
Was soll das sein, das nur er spürt und nie­mand sieht?
„Ich sehe was, das du nicht siehst und es ist blau, rot und gelb“, sagt er neben mir und schnauft.
Wir erhö­hen das Tempo.
„Du spinnst!“, sage ich.
Trotz­dem kneife ich meine Augen fest zusammen.
Plötz­lich ein Fleck in der Ferne.
Im wei­ßen Nichts.
Ein schwe­ben­der Punkt.
Ein Farbklecks.
Er ent­steht direkt vor mei­nen Augen. So als wäre ein Maler Herr über die Win­ter­land­schaft vor mir.
Mit dem Klecks beginnt er sein neues Werk. Fie­ber­haft, mit zar­ten Pin­sel­tup­fen, wagt er sich an eine neue Idee, bannt sie auf die Leinenwand.
Der Rest ist Fantasie.
Meine Fantasie.
Ich stelle mir vor, ich... ich stelle mir vor, es ist...
„Ja? Was?“, fragt der Großstadt-Leopard neben mir, meine Gedan­ken lesend.
Ich bleibe stumm.
Ich sehe ja noch nichts, außer einem Klecks.
Keine Details.
Keine Formen.
Keine Far­ben, geschweige denn blau, rot und gelb.
„Ist es ein Tier?“, fragt er.
„Nein.“
Ein Tier?
Im Stadtpark?
Meine Güte, bitte nicht!
Wir lau­schen und war­ten, aber blei­ben nicht stehen.
Rhyth­mus und Tempo hal­ten uns warm.
Der Klecks in der Ferne wächst und bekommt eine merk­wür­dige Form, die seine zar­ten Umrisse in das Win­ter­weiß malt.
Es ent­steht dar­aus eine Menschengestalt.
Mein Puls ist in Höchstform.
Hei­ßer Atem schießt wie Loko­mo­ti­ven­qualm in die Kälte.
Die Gestalt vor mir wird gleichmäßig.
Geschwungen.
Weich.
Weiblich.
„Eine Frau!“, ver­künde ich, als sei es eine Offenbarung.
Ein wohl­ge­form­ter Kör­per mit Armen, Bei­nen und Kopf.
Sie geht schnell.
Ein schwung­vol­les Stampfen.
Die Arme wip­pen dazu leicht.
Ich finde, es sieht ein biss­chen wie ein Urwald-Tanz aus.
„Beschreib sie!“, fleht er.
Füh­len ist eben nicht Sehen, mein Freund! Ich kneife die Augen erneut zusam­men. Die Schnee­flo­cken ver­dich­ten sich.
Es dau­ert ein biss­chen, bis ich mehr als nur Kopf, Arme und Beine wahr­neh­men kann.
Ich sehe ein Gesicht.
Ein Lächeln.
Fröhlich.
Hände wischen Schnee von den Wangen.
„Hübsch“, murmle ich.
„Genauer!“
„Eng anlie­gen­der Man­tel mit Knöp­fen bis über die Knie.“
„Blau“, flüs­tert der Schneeleopard.
„Kor­rekt. Der Man­tel ist blau.“
Natür­lich hat er das von Anfang an gespürt.
Die Frau rückt näher und näher. Sie ist nicht mehr weit weg und hat uns entdeckt.
Ihr Tempo bleibt gleich.
Ich frage mich, wie wir drei ein­an­der vor­bei­kom­men wol­len. Der Weg zwi­schen den hohen
Schnee­ber­gen links und rechts ist zu schmal.
„Was siehst du noch?“, bet­telt er neben mir.
„Eine Woll­mütze und Handschuhe.“
„Gelb.“
„Ja. Und ein lan­ger Schal!“
„Rot.“
Mein Freund der Schnee­leo­pard fei­ert sich und sein Gespür.
Ich bin fasziniert.
Blauer Mantel.
Gelbe Mütze und Handschuhe.
Roter Schal.
Blau.
Gelb.
Rot.
Meine Fähig­keit zu spre­chen habe ich schlag­ar­tig verloren.
Wegen ihr.
Wegen ihm.
Wegen ihm.
Wegen des Momentes.
Ihr Gang wird langsamer.
Unsicher.
Sie zögert.
Dann ist sie so nah, dass ich einen Arm nach ihr aus­stre­cken kann. Ich schaue ihr in die Augen.
Sie erwi­dert den Blick.
Mir wird schwindelig.
Das Blau, Rot und Gelb leuch­tet mir bedroh­lich ent­ge­gen. Ein Zusam­men­prall mit dieser
Farb­pa­lette steht unmit­tel­bar bevor, also rufe ich in mei­ner Not: „Hände hoch!“
Der Schnee­leo­pard und ich, sein Freund, die Giraffe, rei­ßen die schlaf­fen, müden
Vor­der­glied­ma­ßen in die Höhe, sodass der bezau­bernde Farb­klecks in Gestalt der Frau
zwi­schen uns hindurchgleitet.
Ein zar­ter Windhauch.
Süß­li­ches Parfüm.
Grüne Augen.
Ein Funke Verwunderung.
Wir jog­gen weiter.
Gleichschritt.
Atmen.
Kein Blick zurück.
Kein Wort.
Doch ich halte es nicht aus und drehe mich nach ihr um. Die Frau ist ste­hen geblie­ben und
sieht uns nach. Ich weiß, was sie denkt, was sie sich fragt.
Was habe ich da gesehen?
Nicht etwa einen Schnee­leo­par­den und eine Giraffe.
Nein.
Die Frau hat zwei neben­ein­an­der jog­gende Män­ner, die mit einer dün­nen Schnur, Arm an
Arm geket­tet sind, gese­hen. Das Band zwi­schen mir und ihm ist eine Sicherheitsleine.
Der Schnee­leo­pard ist blind.
Die Giraffe nicht.
Die Umrisse der Frau wer­den immer klei­ner. Das macht mich trau­rig. Die Far­ben ihrer
Gestalt ver­bla­sen, ver­lau­fen, wer­den vom Schnee eingesaugt.
Die Welt ist farb­los, eine unbe­fleckte Leinwand.

Text und Bild: Lolita Büttner
www​.lineer​ror​.de

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0 comment

Marko Stiebritz 10. Dezember 2015 - 8:07

Ich habe mir den Schluss schon fast so vor­ge­stellt! Sehr gut!

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Dorothea Ender 10. Dezember 2015 - 10:54

Wouww, das ist ja ein Mara­thon-Gedicht. Inter­es­sant. Ich glaube ‚jeder von uns hatte schon ein­mal so eine Begeg­nung. Ich mag Tiere sehr gerne, doch als ich ein­mal mit mei­nen Kin­dern in einem Zoo in Jamaica war,
stan­den wir plötz­lich einem Tiger gegen­über. Uns trennte nur ein lächer­li­cher Draht­zaun, ähn­lich wie wir hier die Hüh­ner ver­wah­ren. Der Tiger stand uns gegen­über und ich ver­spürte die Kraft, die in die­sem Tier steckte. Panik ergriff mich, denn ich traute die­sem Zäun­chen nicht. Wenn er jetzt die Pfote hob und an die­sem Zaun rüt­telt, was dann ? Ich umklam­merte die Händ­chen mei­ner Kin­der und diese waren auch ganz still gewor­den. Ich werde nie diese Hilf­lo­sig­keit ver­ges­sen, ich konnte mich nicht ein­mal mehr bewe­gen. Der Tiger starrte mich an– und ich glaube, ich starrte zurück. Viel­leicht waren dem Tiger diese mensch­li­chen Sta­tuen auf die Dauer zu lang­wei­lig, denn er drehte ab und ging majetä­tisch davon. und mein­ten, jetzt gehen wir zu den Krokodilen.

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Zeichensetzerin Alexa 11. Dezember 2015 - 17:21

Das klingt nach einem auf­re­gen­den Aben­teuer, das man so schnell nicht vegisst! Danke, dass Du diese Geschichte mit uns geteilt hast!

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