#11. Türchen

by Bücherstadt Kurier

O du fröhliche

Es stimmt schon: Jede Medaille hat zwei Sei­ten und es ist nicht alles Gold, was glänzt. Vor mei­nen Augen glänzt und leuch­tet es wun­der­voll, doch habe ich die Kehr­seite der Medaille erwischt.
Ver­schlei­ert quillt war­mes Licht durch die dunk­len Gas­sen der Alt­stadt. Chor­ge­sang dringt von fern an meine frie­ren­den Ohren. Ich ziehe die Ohren­klap­pen des aus­ran­gier­ten Trap­per-Hutes nach unten und puste mir in die hoh­len Hände. Dick ein­ge­packte Men­schen lau­fen fröh­lich an mir vor­über. Es duf­tet nach gebrann­ten Man­deln und Maronen.
Ich greife nach der ange­lau­fe­nen Cola-Fla­sche, schraube sie mit gefro­re­nen Fin­ger­kup­pen auf und nehme einen kräf­ti­gen Schluck der unde­fi­nier­ba­ren Flüs­sig­keit zu mir. Für einen kur­zen Augen­blick schme­cke ich Anis, dann Kori­an­der und schließ­lich brennt es nur noch. Woh­lige Wärme brei­tet sich in der Magen­ge­gend aus.
Als ich wie­der auf­bli­cke, fällt eine Münze klim­pernd auf das nass­kalte Kopf­stein­pflas­ter. Ich angle danach. Ein Mann mit brau­ner Leder­ta­sche und har­ten Absät­zen an sei­nen Schu­hen läuft über meine Fin­ger. Ich schreie auf, er meckert herum, wäh­rend er sich kurz zu mir umdreht. Locker den Schal um den Hals und das Mobil­te­le­fon am Ohr has­tet er wei­ter. Die ande­ren Men­schen eben­falls. Ich reibe mir meine schmer­zen­den Finger.

Es wird käl­ter. Der ein­set­zende Nie­sel­re­gen gefriert sogleich am Boden. Die enge Gasse wird zur Rutsch­bahn. Eltern brül­len ihre Kin­der an, dass sie gefäl­ligst auf­pas­sen sol­len, nur um dann selbst hinzufallen.
Schwer­fäl­lig und steif­ge­fro­ren erhebe ich mich. Mein weni­ges Hab und Gut ist schnell geschul­tert und meine Schritte füh­ren mich hin­aus aus der Enge. Auf einen offe­nen Platz, der mich mit sei­ner Lich­ter­flut und einem unvor­stell­ba­ren Stim­men­ge­wirr emp­fängt. Ich bleibe am Rand, bleibe im Schat­ten ver­bor­gen. Eine nasse Holz­bank wird mein Lager. Durch einen gla­si­gen Schleier dreht sich der bunte Schim­mer im Takt der fest­li­chen Trompetenklänge.
Ein wei­te­rer Schluck aus der Cola-Fla­sche. Nun ist sie leer. Mit dem Ärmel mei­ner grau­grü­nen Tweed-Jacke wische ich mir zunächst die feuch­ten Wan­gen, dann den feuch­ten Mund ab. Die wild­ge­wach­se­nen Bart­haare erzeu­gen ein krat­zen­des Geräusch auf dem Stoff.
Kin­der tra­gen Zucker­watte an mir vor­bei. Erwach­sene pros­ten sich mit Glüh­wein­s­tie­feln zu, wobei sie die Hälfte ver­kle­ckern. Ein über­di­men­sio­na­ler lila­far­be­ner Stof­fe­sel kommt auf mich zu. Kurz vor­her biegt er ab. Die kur­zen Ärm­chen, die ihn tra­gen, rei­chen kaum um des­sen Hals herum.
Sachte aber ste­tig sam­meln sich kleine weiße Punkte auf mei­nen Ärmeln. Das Trei­ben geht wei­ter, geht immer wei­ter. Es wird käl­ter, wird wei­ßer und schließ­lich endet alles. Die Lich­ter gehen aus – Stück für Stück. Die Musik ver­stummt. Der Schnee­fall setzt aus. Keine Men­schen mehr. Ein paar Raben, Tau­ben und eine Katze. Alles ist weiß, alles ist still. Nur die Raben zan­ken um die her­un­ter­ge­fal­le­nen Leckerbissen.

Noch immer sitze ich auf der Bank. Es ist so unend­lich kalt. Am auf­kla­ren­den Nacht­him­mel fun­keln eisig die Sterne. Eine Hand legt sich von hin­ten auf meine Schul­ter. Ich drehe mich um und bli­cke in ein jun­ges weib­li­ches Gesicht, wel­ches oben von einer blauen Schild­mütze begrenzt wird.
„Sie kön­nen hier nicht über Nacht blei­ben“, sagt die Polizistin.
Ich packe meine Sachen und ziehe wei­ter. Quer über den ver­stumm­ten Weih­nachts­markt. Wohin? Ich weiß es noch nicht.
Nun hat sie also begon­nen, die frohe Zeit.

Text: Marco
Bild: Celina

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Pega Mund 11. Dezember 2015 - 11:05

„Es stimmt schon: Jede Medaille hat zwei Sei­ten und es ist nicht alles Gold, was glänzt. Vor mei­nen Augen glänzt und leuch­tet es wun­der­voll, doch habe ich die Kehr­seite der Medaille erwischt.“ – fei­ner apho­ris­mus, musste schmunzeln 😉

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Zeichensetzerin Alexa 11. Dezember 2015 - 17:08

Ging mir beim Lesen auch so!

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Marko Stiebritz 11. Dezember 2015 - 13:14

Super plas­tisch!!! Habe beim lesen wirk­lich gefroren!

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Zwischenzeilenverstecker Marco 11. Dezember 2015 - 17:34

Und wenn es uns schon beim Lesen (oder in mei­nem Fall Schrei­ben) so ergeht ...

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