#21. Türchen

by Bücherstadt Kurier

269 Bowery1

269 Bowery

Im Dezem­ber 1973 war die Kälte in New York all­ge­gen­wär­tig – wie ein hin­ter­häl­ti­ger Ein­dring­ling hatte sie Besitz von der Stadt ergrif­fen. Sie fegte als eisi­ger Wind durch die Stra­ßen, sie kroch durch die Rit­zen in den Woh­nun­gen und gleich, wie warm man auch ange­zo­gen war, ließ sie die Kno­chen unter der Klei­dung porös wer­den. Für mich war es ein beson­de­res Jahr, denn es war das erste Jahr, in dem ich fern mei­ner Hei­mat auf eige­nen Füßen ste­hen musste. Eine feind­se­lig gestimmte Stadt emp­fing mich, grau und aus­ge­stor­ben. Der gefro­rene Schnee­matsch knirschte unter mei­nen Schu­hen und ließ mich unwill­kür­lich an das Geräusch mah­len­der Zähne den­ken. Es war so bit­ter­kalt, dass selbst meine Gedan­ken ein­zu­frie­ren drohten.

Alle Stra­ßen in Man­hat­tan süd­lich der 14. wur­den von zwie­lich­ti­gen Gestal­ten am Rande der Gesell­schaft bevöl­kert, von Dea­lern und Jun­kies, Nut­ten, Trans­ves­ti­ten, Stri­chern und Kri­mi­nel­len – und seit heute auch von mir. Noch süd­li­cher, im Finan­cial District, lie­fen weit­aus mehr Ver­bre­cher durch die Stra­ßen. Sie klei­de­ten sich nur anders als wir, die Bewoh­ner der Bowery. Meine neue Woh­nung passte in diese her­un­ter­ge­kom­mene Kulisse. Sie lag über einem leer­ste­hen­den Geschäft, in des­sen Schau­fens­ter ein hand­ge­schrie­be­nes Schild For sale ver­kün­dete, und bestand aus einem Zim­mer mit Küchen­ni­sche. Ein Bad gab es nicht. Auf den Ober­flä­chen der spär­li­chen Möblie­rung klebte eine schmie­rige Schmutz­schicht, die jedem Putz­mit­tel stand­hielt. Drin­nen war es kaum wär­mer als drau­ßen. Ich stopfte alte Socken und Tücher in die offe­nen Löcher am Boden, um die Kälte ein wenig aus­zu­sper­ren, wäh­rend sich über mei­nem Kopf das Unwet­ter zusammenbraute.
Und dann fing ich an zu malen. Wie im Deli­rium bear­bei­tete ich Lein­wände, Skiz­zen­blö­cke, selbst die nack­ten Wände der Woh­nung. Ich ging nicht vor die Tür, aß kaum noch und fuhr nachts von Alb­träu­men gequält aus mei­nem Schlaf hoch. Mein bes­tes Werk war eine zwei auf zwei Meter große Lein­wand, die ich mit kräf­ti­gen Far­ben bear­bei­tete. Rot, Blau, Grün und Gelb gin­gen in wil­den For­ma­tio­nen in ein har­mo­ni­sches Gemälde auf. Wäh­rend der Schnee­sturm vor mei­nem Fens­ter tobte, saß ich vor dem Bild und betrach­tete, wie es lang­sam in der feuch­ten Luft trock­nete. Dann griff ich nach dem schwar­zen Farb­ei­mer und über­malte die Far­ben, bis keine ein­zige bunte Stelle mehr zu erken­nen war. Durch diese Zer­stö­rung gewann das Gemälde an neuer Inten­si­tät, einer unge­ahn­ten Tiefe. Eine weiße Lein­wand schwarz zu malen hätte nie­mals die glei­che Kraft beses­sen. Ich war zufrieden.

In mei­ner Bleibe wurde es immer käl­ter. Ich setzte mich vor die offene Ofen­klappe, um ein wenig Wärme abzu­be­kom­men. Meine Blei­stift­zeich­nun­gen musste ich auf­ge­ben, da ich ohne Hand­schuhe nicht mehr arbei­ten konnte. Auch meine ande­ren Werke wur­den schwä­cher und ver­lo­ren an ihrer Potenz. Nach und nach ging mir die Inspi­ra­tion aus. Trotz des bei­ßen­den Win­ters lief ich in ruhe­lo­sen Näch­ten immer öfter durch die Stra­ßen Man­hat­tans, die ver­las­sen vor mir lagen. Selbst die hart­ge­sot­te­nen Lower East Sider mie­den es, bei dem Wet­ter aus ihren Löchern her­vor­zu­krie­chen. Nur die Pro­sti­tu­ier­ten arbei­te­ten stän­dig. Ich hörte ihnen beim Strei­ten zu, wenn ich mich auf mei­ner fle­cki­gen Matratze hin- und her­wälzte. Nach meh­re­ren Wochen in der Stadt betrat ich zum ers­ten Mal eine Tele­fon­zelle und rief meine Eltern an. Das Gespräch war kurz. Der Hörer drohte, an mei­nem Ohr fest­zu­frie­ren – oder bil­dete ich mir das nur ein? – und ich been­dete das Tele­fo­nat, um unste­ten Schritts nach Hause zu eilen.
Weder die Kälte noch die Ein­sam­keit hat­ten bis­her meine Seele berührt. An Hei­lig­abend änderte sich das schlag­ar­tig. Mich über­kam eine Trau­rig­keit, auf die ich nicht vor­be­rei­tet war, eine Trau­rig­keit, die sich wie eine eiserne Rüs­tung um mich legte. Die Kälte gab den Bewoh­nern New Yorks keine Ver­schnauf­pause, auch tags­über war der Him­mel bedeckt und dun­kel. Trotz­dem ließ ich mich am 24. durch die Stadt trei­ben. Ziel­los lief ich durch Mid­town und schließ­lich hoch zur Upper East Side, wo ich die Rei­chen beob­ach­ten wollte und doch nur Dienst­per­so­nal sah, das für letzte Weih­nachts­ein­käufe und Geschäft zu Geschäft hetzte.
Vor dem Ein­gang eines teu­ren Kauf­hau­ses wünschte ein Weih­nachts­mann den Pas­san­ten frohe Fei­er­tage. Ich ver­spürte einen Anflug von Mit­leid für den Mann, aber wahr­schein­lich war ihm in sei­nem Kos­tüm wär­mer als mir. In den noblen Wohn­vier­teln in Lauf­weite zum Cen­tral Park ver­suchte ich, in die hell erleuch­te­ten Fens­ter zu schauen. Ich stellte mir dahin­ter glück­li­che Fami­lien vor und dachte vor allem an die Kin­der, die ihre Geschenke erwar­tend in die­ser Nacht kaum schla­fen würden.

Aus­ge­laugt von dem Spa­zier­gang betrat ich die Metro, um zurück in mein ungleich schä­bi­ge­res Vier­tel zu fah­ren, in dem mich außer mei­nen alten Gemäl­den und den aus­blei­ben­den Ideen nichts erwar­tete. In Gedan­ken ver­lo­ren stieg ich aus der Bahn. In der Sta­tion fla­cker­ten ver­ein­zelte Neon­lich­ter. Ein abge­ma­ger­ter Puerto Rica­ner, kaum dem Teen­ager­al­ter ent­wach­sen, lun­gerte am Aus­gang und bot mir unver­se­hens Heroin an. Ich starrte ihn einen Moment lang ent­geis­tert an und wollte dann wei­ter­lau­fen, doch so leicht ließ er sich nicht abwim­meln. Du siehst ein­sam aus, sagte er. Ich kann dir hel­fen. Ich mache dir auch einen guten Preis, ist ja Weihnachten.
Ich dachte an mein tris­tes Zuhause, in dem mich nichts und nie­mand erwar­tete, in dem ich bloß an die Sinn­lo­sig­keit mei­nes Seins erin­nert würde. Die Ein­sam­keit wirkte wie ein schlei­chen­des Gift, das meine Seele Stück um Stück zer­setzte. Ich war wehr­los. Der Junge erkannte mein Zögern und sagte, komm‘ mit, du kannst immer noch nein sagen. Wie ein Lämm­chen folgte ich ihm durch die Gas­sen, trot­tete schwei­gend hin­ter ihm her, bis wir in einen Hin­ter­hof kamen.
Der Schnee ließ Müll­berge erah­nen, hatte unan­ge­nehme Gerü­che aber neu­tra­li­siert. Im Hin­ter­hof stie­gen wir in ein Kel­ler­ge­wölbe hinab, in dem sich ein Dea­ler vor mir auf­baute. Er wog gut und gerne das Dop­pelte des schmäch­ti­gen Jun­gen. Der Puerto Rica­ner war in der Dun­kel­heit ver­schwun­den. Der Dea­ler taxierte mich mit einem abschät­zi­gen Blick, der eine sar­kas­ti­sche Note annahm, als ich stot­ternd eine schwin­dend geringe Menge Heroin kaufte. Hast aber eini­ges vor heute, sagte er und lachte rau. Ich machte, dass ich wegkam.

Zu Hause beäugte ich das Tüt­chen. Heroin gehörte wahr­lich nicht zu mei­nen bevor­zug­ten Dro­gen. Zur Hölle, ich hatte sogar Angst vor Nadeln! Aber alle nah­men es, die Kids auf der Straße, die Musi­ker, die Künst­ler. Es war keine große Sache. Mit mei­nem Zei­ge­fin­ger tippte ich vor­sich­tig in das Zel­lo­phan und leckte die Fin­ger­spitze ab. Es schmeckte scheuß­lich. Ein tau­bes Gefühl machte sich in mei­nem Mund breit, das nicht unan­ge­nehm war. Eine erneute Fin­ger­spitze und dann beschloss ich, das Pul­ver wie in den Fil­men durch die Nase einzunehmen.
…Eine Hit­ze­welle, gepaart mit einem tie­fen Glücks­ge­fühl, brei­tete sich blitz­ar­tig in mir aus und schwappte über den Rand mei­nes Bewusst­seins. Plu­to­nium pul­siert in mei­nen Venen. Ich glühte, ver­glühte, wann war mir das letzte Mal so heiß gewe­sen? Und das Glück! Das Glück! In mei­nem gan­zen Leben hatte ich nie ein sol­ches Glück emp­fun­den! Die Welt war wun­der­schön und vol­ler Liebe. Ich löste mei­nen Schal und warf Jacke und Mütze zu Boden. Ich fühlte mich frei. Ich nahm noch eine Brise und noch eine und die Gefühle inten­si­vier­ten sich. Meine Seele leuch­tete auf und über­trug die Hitze auf mei­nen Kör­per. Ich befreite mich von mei­nen Kla­mot­ten und legte mich auf die Matratze, die Arme weit aus­ge­brei­tet. Das Leben über­wäl­tigte mich, am liebs­ten hätte ich die ganze Welt umarmt.

Meh­rere Wochen spä­ter wurde die Tür von Frank Wit­ters Woh­nung gewalt­sam auf­ge­bro­chen. Alar­miert über die Funk­stille ihres Sohns hat­ten Franks Eltern die Poli­zei ver­stän­digt. In der Woh­nung war es eis­kalt. Schon vor lan­gem hat­ten sich die Rat­ten durch die Tücher gefres­sen, mit denen Frank die Löcher in den Leis­ten gestopft hatte. Beim Ein­tre­ten bot sich den Beam­ten ein bizar­res Bild: Nur in Unter­hose beklei­det lag die tief­ge­fro­rene Lei­che eines jun­gen Manns auf der Matratze. Frank Wit­ter hatte den rech­ten Fuß über den lin­ken gelegt und beide Arme im rech­ten Win­kel von sich gestreckt. In sei­nem Gesicht zeigte sich noch immer die gött­li­che Ver­zü­ckung. Der sieht aus wie Jesus, mur­melte einer der Poli­zis­ten. Nur der Dor­nen­kranz fehlt.

Text und Bild: Isa­bella Caldart

Kurz­vita:

Isa­bella Cald­art ver­fasst Arti­kel und Kri­ti­ken für das Jour­nal Frank­furt und diverse Online­ma­ga­zine, ihre wahre Lei­den­schaft aber gilt fik­tio­na­len Tex­ten. Obwohl sie mehr­fach im Aus­land gelebt hat, zieht es sie immer wie­der in ihre Hei­mat­stadt Frank­furt zurück. Die Kurz­ge­schichte „269 Bowery“ ent­stand wäh­rend eines Auf­ent­halts in New York. Mehr unter www​.isa​bel​la​cald​art​.de.

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