#22. Türchen

by Bücherstadt Kurier

Ein fetter Kerl im roten Kostüm und andere historische Absurditäten2Ein fet­ter Kerl im roten Kos­tüm und andere his­to­ri­sche Absurditäten

„Erklär mir das noch­mal“, beschwerte sich Stan­ley und ver­suchte, in dem dunk­len Wald etwas zu erken­nen, seine Stie­fel mach­ten in dem fest­ge­fro­re­nen Schnee knir­schende Geräu­sche. „Es gehört also mit zur Tra­di­tion, dass man mit einer vor­sint­flut­li­chen Axt auf einem hilf­lo­sen Bäum­chen rumhackt?“
„Man fällt es“, kor­ri­gierte ihn Dan. Der zier­li­che chi­ne­sisch­stäm­mige Mann hatte offen­sicht­lich seine liebe Mühe mit der schwe­ren Axt klar­zu­kom­men, denn er war etwas aus­ser Atem. „Du weisst schon, weil das mehr Sinn macht als herumzuhacken.“

Stan­ley zer­zauste ver­schmitzt sein dun­kel­blon­des Haar, wäh­rend er Dan dabei beob­ach­tete, wie die­ser aus­holte und den Stamm der klei­nen Fichte mit einem Hieb trak­tierte. „Komm schon, Junge, das wird nichts! Tra­di­tion hin oder her, es gibt effi­zi­en­tere Metho­den, einen Baum zu fällen.“
„Okay, okay“, murrte Dan indi­gniert, als er auf­gab. „Mach ihn platt.“
Stan­ley nahm die Strah­len­waffe von sei­nem Gür­tel, zielte auf das dünne Stämm­chen und drückte ab. Ein grel­les Auf­blit­zen des Lasers, das Kra­chen des zer­fet­zen Hol­zes, die Arbeit war getan. Der Geruch nach Ozon stieg ihm in die Nase, wäh­rend er geblen­det die Augen zusam­men­kniff. „Siehst du, geht auch mit einem Blas­ter“, kom­men­tierte er trocken.
„Schon“, schmollte Dan, als er den umge­fal­le­nen Baum inspi­zierte. „Das heisst aber noch lange nicht, dass es stil­echt ist.“
Er trat seuf­zend hinzu, konnte sich aber eine wei­tere Frot­ze­lei nicht ver­knei­fen. „Du bist Pilot, nicht Ver­an­stal­ter eines His­to­rienevents, benimm dich gefäl­ligst mal so.“
„Ich habe auch Kul­tur­anthro­po­lo­gie stu­diert“, kam sogleich die Ant­wort. Dan liess wirk­lich keine Gele­gen­heit aus, irgend­was über Sit­ten und Gebräu­che ande­rer Zei­ten oder Orte zu refe­rie­ren. Er liess es aber aus­nahms­weise dabei bewen­den, sodass sie sich daran machen konn­ten, den Baum zu verladen.

Schon bald waren die bei­den Män­ner mit der auf einen Schwe­be­wa­gen gepack­ten Tanne bei der Lich­tung ange­langt, auf der sie ihr Ster­nen­schiff geparkt hat­ten. Die kan­tige Sil­hou­ette hatte die Dimen­sio­nen zweier Ein­fa­mi­li­en­häu­ser und Stan­ley hätte nicht fro­her sein kön­nen, sie zu sehen. „Home Sweet Home! Bei der Kälte hätte ich mir frü­her oder spä­ter die Zehen abgefroren.“
„Sag mal“, begann Dan zöger­lich. Er war­tete auf ein zustim­men­des Geräusch, ehe er fort­fuhr, „hast du eigent­lich eine Ahnung, wie viel du über das Wet­ter rum­jam­merst für einen, der als Ers­ter Maat eigent­lich mein Vor­ge­setz­ter wäre?“

Stan­ley ver­schluckte sich, unter­drückte ein Lachen und schob den Wagen auf die Lade­rampe des alten Raum­frach­ters. „Echt jetzt, du sitzt den gan­zen Tag nur auf dei­nem wei­chen Pilo­ten­ses­sel und starrst ein paar Holo­gramme oder die Sterne an – kei­ner schätzt mehr hart arbei­tende Leute wie mich!“
„Hast du dich nicht ent­schie­den, Welt­raum­schmugg­ler zu wer­den, damit du nicht hart arbei­ten musst?“, kon­terte Dan breit grin­send und drückte auf den Schal­ter, wel­cher die Lade­rampe schloss. Eines musste Stan­ley dem jun­gen Pilo­ten las­sen, er war ziem­lich schlag­fer­tig, wenn es dar­auf ankam. „Haupt­sa­che wir kön­nen abhe­ben und müs­sen uns nicht wei­ter auf der ver­ma­le­dei­ten Kühl­truhe von einem Pla­ne­ten her­um­trei­ben, weil der Herr einen Baum fäl­len möchte.“
„Ach, komm schon, wir wer­den alle unsere Freude daran haben“, meinte Dan ver­söhn­lich ehe er moti­viert über die Treppe in Rich­tung der Brü­cke davon­joggte. Stan­ley blieb nichts, aus­ser fata­lis­tisch zu grum­meln und ihm hinterherzuschreiten.

„Koor­di­na­ten sind gesetzt, bereit zum Hyper­raum­sprung“, erklärte Stan­ley und warf einen Blick auf den lee­ren Raum vor ihnen – end­lich ging ihre Reise wei­ter. Der Pilot tippe eine auf der Glas­platte der Kon­sole ein­ge­blen­dete Taste an; mit einem gequäl­ten Auf­heu­len des Antriebs sprang der alte Frach­ter über die Lichtgeschwindigkeit.
Stan­ley lehnte sich zufrie­den auf sei­nem Ses­sel zurück. „Okay, erklär mir das noch­mal. Wir ste­hen um drei Uhr nachts auf, wenn alle an Bord noch schla­fen, lan­den mit einem Fracht­raum vol­ler ille­ga­ler Dro­gen ein­fach so neben­bei auf einem Pla­ne­ten, um ein däm­li­ches Bäum­chen zu fäl­len, nur weil auf der nörd­li­chen Hemi­sphäre der Erde jetzt Win­ter­son­nen­wende ist? Ich habe ehr­lich keine Ahnung, wieso ich mich dazu bequat­schen las­sen habe.“
Der Pilot nickte. „Genau, du hast es erfasst; das ist eine alte Tra­di­tion. Keine Ahnung, mit wem das ange­fan­gen hat, aber vor tau­send Jah­ren gab es eine grosse Sekte, die dafür gesorgt hat, die Tra­di­tion am Leben zu erhal­ten, weil sie irgend­was Reli­giö­ses damit ver­bun­den haben – Chris­ten hies­sen die, wenn ich mich recht ent­sinne. Wich­tig ist im Grunde genom­men nur, dass man sich einen Baum ins Wohn­zim­mer stellt, schmückt und sich gegen­sei­tig beschenkt.“
„Ich weiss, dass das viele Leute machen“, kon­terte Stan­ley. „Ich frage mich nur, wieso wir jetzt damit anfan­gen, nur weil unser neuer Pilot bes­ser Innen­de­ko­ra­teur gewor­den wäre. Wir sind Kri­mi­nelle, nicht eine bür­ger­li­che Fami­lie, ver­dammt! Noch eine sol­che Idee von dir und ich erkläre dich offi­zi­ell für genauso gestört wie unsere haus­ei­gene Einbrecherin.“
„Was, Anaata? Erin­nere mich noch­mal, wieso wir die über­haupt an Bord haben, die treibt mich irgend­wann in den Wahnsinn!“
Der Erste Maat gluckste. „Klar, aber sie ver­dient auch viel Geld, wenn sie etwas aus­raubt, und bezahlt ihre Pas­sage. Wenn sie einen an der Klat­sche hat, ist das nicht mein Problem.“
„Wer hat einen an der Klat­sche, Sun­ny­boy?“, erklang eine weib­li­che Stimme hin­ter ihnen und die bei­den Män­ner fuh­ren herum. Stan­ley konnte Anaata erken­nen, die in einem gepunk­te­ten Pyjama mit einer Kaf­fee­tasse und einer Ziga­rette in der­sel­ben Hand in den Raum getre­ten war. Schwung­voll setzte sie sich auf den Schreibtisch.
„Na wer wohl, du“, gab Stan­ley tro­cken zurück. Er hatte es längst auf­ge­ge­ben, seine Mei­nung vor ande­ren Leu­ten zu ver­ber­gen und die junge Korea­ne­rin schien sich sowieso nicht son­der­lich um seine Ansich­ten zu sche­ren. Tat­säch­lich zuckte sie mit den Schul­tern, stellte die Kaf­fee­tasse neben sich auf die Tisch­platte und kramte eine Man­da­rine aus ihrem Kimono, wobei sie ihn fast mit der Kippe in Brand setzte.
„Erklär mir bitte mal was“, holte Dan skep­tisch aus, „schläfst du auch mal?“
„Sicher, aber nicht in der Nacht, da bre­che ich nor­ma­ler­weise ein, man muss sei­nen Bio­rhyth­mus an die Arbeit anpas­sen“, gab sie zurück und spielte mit ihrer Frucht, mus­terte sie ein­ge­hend und fing schliess­lich damit an, sie zu schä­len. „Die viel wich­ti­gere Frage ist doch, wieso wir eine Tanne im Fracht­raum haben. Schmug­gelt ihr jetzt auch Bäume oder ist das ein hoh­les Fake, das vol­ler Kon­ter­bande ist?“ Sie kicherte und ver­schluckte sich an ihrem Kaf­fee. „So wie eine Schmuggler-Piñata?“
Stan­ley schüt­telte den Kopf. „Nein, unser wer­ter Dan will unbe­dingt Mitt­win­ter feiern.“
Sie biss herz­haft in die Man­da­rine, ohne sich die Mühe zu machen, einen Schnitz her­aus­zu­neh­men. „Das Fest, wo man einen Baum abfa­ckelt und Leu­ten Zeug schenkt?“
„Man macht eine Lich­ter­kette dran“, kor­ri­gierte Stan­ley augen­rol­lend. Mit einem Mal hellte sich seine Miene auf und er stupste Dan an. „Hey, erzähl ihr von dem fet­ten Kerl im roten Kos­tüm, das wird lustig!“
„Was?“, wollte Anaata nun neu­gie­rig gewor­den wis­sen. „Hat unser Mecha­ni­ker einen roten Over­all gekauft?“
„Der ist nicht fett, nur etwas unter­setzt, also sei still und hör mir zu“, ver­tei­digte Dan den abwe­sen­den Kame­ra­den, bevor er in sei­ner bes­ten Mär­chen­er­zäh­ler­stimme ansetzte: „Frü­her, vor lan­ger Zeit, war es Brauch, den Kin­dern zu erzäh­len, ihre Mitt­win­ter-Geschenke wür­den von einem schwer adi­pö­sen Mann mit weis­sem Bart gebracht, der sich Niko­laus nennt, mit sei­nem Schlit­ten durch die Win­ter­nacht fliegt …“
„Schlit­ten?“, unter­brach Anaata die Erzäh­lung. „Du meinst Hover­craft, oder?“
„Nein, ein flie­gen­der Schlit­ten, der von Ren­tie­ren gezo­gen wird …“
Die Die­bin wet­terte sogleich wie­der los: „Halt mal, willst du mich für dumm ver­kau­fen?! Ren­tiere flie­gen nicht, das weiss doch nun wirk­lich jeder. Aus­ser­dem würde der fette Typ in der Atmo­sphäre ver­glü­hen, wenn er so schnell sein muss, in einer Nacht alle Geschenke aus­zu­lie­fern! Jedes Kind würde auf Anhieb begrei­fen, dass so etwas phy­si­ka­lisch nicht mög­lich ist und dahin­ter ein indus­tri­el­les Niko­lau­sen-Kon­glo­me­rat oder eine Welt­ver­schwö­rung der Erwach­se­nen ver­mu­ten. Echt jetzt, ver­scheis­sern kann ich mich sel­ber!“ Damit erhob Anaata sich, warf die Man­da­ri­nen­schale in den nächs­ten Müll­schlu­cker und schlurfte von der Brü­cke. Im Schott wandte sie sich um und meinte mit einem ver­söhn­li­chen Augen­zwin­kern: „Trotz­dem ein net­ter Ver­such, Jungs, aber wenn ihr mich ver­äp­peln wollt, müsst ihr euch schon mehr Mühe geben. Okay, ich gehe dann mal allen was klauen, das ich ihnen unter den Baum legen und zurück­schen­ken kann.“ Damit ver­schwand sie end­gül­tig aus dem Raum.
Kaum war die Tür zuge­glit­ten, brach Stan­ley in Geläch­ter aus. „Ich hab‘s dir doch gesagt, sie ist unbe­zahl­bar! Ich will ja nicht wis­sen, wie sie als Kind gewe­sen ist, die hätte ich glatt adoptiert!“

„So, ich haue mich mal etwas aufs Ohr, bevor wir den Baum schmü­cken“, erklärte Dan. Gerade als er die Brü­cke ver­las­sen wollte, öff­nete sich der Schott und eine stäm­mige, dun­kel­häu­tige Frau, die aus­ser­or­dent­lich ver­schla­fen aus­sah, trat ein und mus­terte die bei­den Män­ner. „Sagt mal, habt ihr per Zufall gerade mein Schiff ent­führt, auf einem Pla­ne­ten gelan­det und eine Tanne geklaut? Sowas nennt man Insubordination!“
Stan­ley kannte den Cap­tain lange genug, um zu wis­sen, dass sie es mit Humor neh­men würde und deu­tete mit dem Dau­men auf Dan. „Natala, ich schwöre dir, er hat mich dazu angestiftet!“
Sie liess sich auf den letz­ten freien Ses­sel fal­len. „Echt jetzt? Wir fei­ern neu­er­dings Mitt­win­ter mit einem ritu­el­len Tan­nen­op­fer? Das ist ein Ster­nen­schiff, kein ver­damm­tes Forst­schutz­ge­biet, Leute!“
„Ich hab dir doch gesagt, sie wird’s ver­ste­hen!“, rief Dan freu­dig aus, die Ein­wände des Cap­tains geflis­sent­lich igno­rie­rend. „Ich freue mich schon riesig!“
Natala lehnte sich zurück und nahm einen gros­sen Schluck von ihrem Kaf­fee. „Lasst mich raten, ihr wollt auch Plätz­chen backen und liter­weise Eier­punsch bechern?“
Stan­ley, der sich mit der Idee, ein anti­kes Fest zu fei­ern, anzu­freun­den begann, meinte: „Klar, gute Idee!“
„Und was machen wir, wenn der Baum zu wel­ken beginnt?“, wollte sie wissen.
Dan run­zelte kurz die Stirn, dann hellte sich seine Miene auf. „Na was wohl? Wir wer­fen ihn über einem Pla­ne­ten aus der Luft­schleuse, dann kann er wie der fette Kerl im roten Anzug in der Atmo­sphäre ver­glü­hen. Ho Ho Ho!“

Text und Bild: Sarah

Kurz­vita:

Warum die Clue Wri­ter Sarah und Rahel stän­dig „ss“ statt „ß“ schrei­ben, fragt ihr sie am bes­ten selbst: www​.clu​e​wri​ting​.de, twit​ter​.com/​c​l​u​e​w​r​i​t​ing. Doch seid gewarnt: die bei­den sind ver­rückt – und das nicht nur, weil sie nach der Welt­herr­schaft streben!

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6 comments

News: Wir haben Winterferien und schauen zurück | Clue Writing 22. Dezember 2015 - 12:07

[…] ani­mierte Schnee wenigs­tens auf unse­rem Ban­ner nie­der. In den­sel­ben Tagen erschien aus­ser­dem ein weih­nächt­li­cher The­men-Bei­trag aus Sarahs SciFi-Uni­ver­sum im Advents­ka­len­der des Bücher­stadt-Kuriers. Wir waren auch bei unse­ren Freun­den von Red Bug Books […]

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Clue Writing 22. Dezember 2015 - 12:26

Hallo liebe Bücherstädtler,

vie­len Dank für die Ver­öf­fent­li­chung des fet­ten Kerls im roten Anzug, auch wenn die­ser in der Geschichte durch phy­si­sche Abwe­send­heit glänzt. Ich finde es wirk­lich super, dass auch eure Leser erfah­ren, wie man in fer­ner Zukunft Weih­nach­ten fei­ern wird! 🙂

Für die Clue Wri­ter ver­neigt sich und grüsst,
die Sarah

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Zwischenzeilenverstecker Marco 22. Dezember 2015 - 23:49

Ich finde das auch super!

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Clue Writing 23. Dezember 2015 - 16:56

Danke! ^^ Ganz nach dem Prin­zip „Ihr könnt nicht bewei­sen, dass es nicht so gesche­hen wird“ berufe ich mich dar­auf, mit einer pro­phe­ti­schen Gabe geseg­net zu sein, die euch das Leben in 1200 extrem erleich­tern kann – wenn du also in einem Kryo­ge­nik-Behäl­ter ein­ge­fro­ren wirst, halte dich ruhig an mich nach dem Auftauen 😉

Mega­lo­t­as­ti­sche Fest­tage wünscht mit ihrem übli­chen Knicks,
die Sarah

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Literarischer Adventskalender 2015 | Bücherstadt Kurier 29. Dezember 2015 - 18:39

[…] Clue Wri­ting zu #22. Türchen […]

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Adventskalender 2016: Türchen 10 – Bücherstadt Kurier 10. Dezember 2016 - 8:01

[…] #22. Türchen […]

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