Am Ende der Gleise

by Bücherstadt Kurier

Sie besah sich den Kof­fer, wel­cher schon im Abteil stand. Ihre Mut­ter, bereits reich an Jah­ren, ließ sich dar­auf nie­der, denn andere Plätze gab es nicht. Es war ein Wag­gon, in wel­chem wohl Vieh beför­dert wurde, er war nicht für Men­schen gedacht. Ursprüng­lich war es viel­leicht so gewe­sen, doch Zei­ten ändern sich, alles ändert sich.

„Wird’s bald?“, schnarrte eine Stimme an ihrem Ohr, riss sie aus den Gedan­ken. Ohne zu ant­wor­ten ergriff sie die Hand ihres Man­nes und ließ sich hin­auf­zie­hen. Nach ihr folg­ten wei­tere Men­schen; Pas­sa­giere, wie die Wäch­ter sie nann­ten. Bald war der Wagen voll, und mit einem end­gül­tig klin­gen­den Schlag wurde die Tür zuge­scho­ben. Kei­ner von ihnen hatte sich gewei­gert ein­zu­stei­gen, denn sie wuss­ten, dass die Wäch­ter bewaff­net und einem Zwi­schen­fall nicht abge­neigt waren. Zumin­dest, so dachte sie, war sie hier den Sol­da­ten los­ge­wor­den, der sie die gesamte Hin­fahrt wie eine Tro­phäe erobern wollte.

Der Wag­gon setzte sich in Bewe­gung. Sie fuh­ren meh­rere Tage, nur unter­bro­chen, wenn ihnen ein paar Fla­schen Was­ser hin­ge­wor­fen wur­den. Es war den Wäch­tern egal, ob sie aus­reich­ten – die Men­schen soll­ten ledig­lich ankom­men. Durch die klei­nen Fens­ter nahe des Dachs sahen sie die Tage kom­men und gehen. Ab und an fiel Regen hinab, aber sie waren bereits froh, wenn sie fri­sche Luft spür­ten. In die­ser Trost­lo­sig­keit, ohne Abwechs­lung, schwan­den bald die ers­ten Kräfte. Kin­der, die von allem nichts ver­stan­den, schrien, wäh­rend Alte sich vor Erschöp­fung nie­der­lie­ßen und allein nicht mehr auf­stan­den. Sie selbst saß mit ihrem Mann in einer Ecke und ver­suchte es dort der kran­ken Mut­ter so bequem wie mög­lich zu machen. Die alte Frau schlief fast nur noch, in den wachen Momen­ten redete sie so man­ches Mal wirr. Er dage­gen sprach von Flucht beim nächs­ten Halt, doch sie wollte ihre Mut­ter nicht dem Schick­sal über­las­sen. Eine Weile ging es so hin und her; die ande­ren Men­schen küm­mer­ten sich nicht um sie.

Dann stoppte der Zug erneut. Statt der Was­ser­fla­schen gab es gebrüllte Kom­man­dos außer­halb, jemand brüllte zurück, schlug im Vor­bei­ge­hen gegen ihre Tür. Diese ant­wor­tete mit einem lei­sen Klir­ren, in des­sen Folge ein schma­ler Strei­fen Licht sicht­bar wurde. Beide sahen ihn. Sie küsste ihre Mut­ter noch ein­mal bevor sie sich erhob und zusam­men tra­ten sie vor. Immer noch waren auf der ande­ren Seite Stim­men zu ver­neh­men, nicht mehr in der Nähe, aber sie waren da. Obwohl seine Hände bereits auf dem Holz lagen, wagte kei­ner den letz­ten Schritt, spürte statt­des­sen, wie die Räder sich in Bewe­gung setz­ten. Lang­sam nah­men sie Fahrt auf. Wort­los stieß sie die Tür auf, sah nur kurz in die Land­schaft und sprang. Einen Atem­zug spä­ter lan­dete sie zwi­schen den Büschen. Unge­bremst rollte ihr Kör­per durch das teil­weise ver­holzte Gestrüpp, wel­ches rote Strie­men auf ihrer Haut hin­ter­ließ. Bei­nahe unge­hin­dert schoss sie hinab. Mit den Hän­den ver­suchte sie ihr Gesicht zu bede­cken, presste die Arme eng an sich. Die ein­zel­nen Zweige schlu­gen gegen ihren Kör­per. Der Abhang nahm schein­bar kein Ende. Im Gestrüpp neben ihr gin­gen dazu ver­ein­zelte Schüsse nie­der, deren Nähe sie den Atem anhal­ten ließ.

Immer wie­der knallte es. Immer wie­der ver­nahm sie die nahen Ein­schläge. In einem aus­ge­trock­ne­ten Was­ser­loch kam sie end­lich zum Lie­gen, drückte sich dicht an den Boden in der Hoff­nung unsicht­bar zu wer­den. Schwe­res Rat­tern und ein grel­ler Pfiff ver­rie­ten, dass der Zug an Fahrt gewann. Bald würde er den Damm ver­las­sen, bald ganz am Hori­zont ver­schwin­den. Sie blieb lie­gen. Presste sich wei­ter an den Boden. Irgend­wann war das Knat­tern ganz ver­stummt, in der Umge­bung erklan­gen nur ein paar Vogel­rufe. Zöger­lich hob sie den Kopf, um über den Rand des Erd­lochs zu spä­hen, rech­nete jeder­zeit mit dem Knall eines Schus­ses. Doch der blieb aus. Auch als sie sich lang­sam erhob, erfolgte kein Angriff. Eilig zog sie sich in eine Gruppe klei­ner Bäume zurück, zupfte an der Klei­dung und besah sich die Schram­men auf ihren Armen und Bei­nen. Noch bevor sich ihr Atem wie­der beru­higte, rief sie nach ihrem Mann in der Hoff­nung, dass er gefolgt war. Sie rief erneut, hoffte dabei, ihn unver­sehrt wie­der­zu­fin­den. Als die Ant­wort end­lich kam, setzte ihr Herz für einen Augen­blick aus und sie warf die Arme um ihn, drückte ihn fest an sich. Er sah genauso zer­schun­den aus wie sie, aber er lebte.

Die Stille der Lich­tung war befrei­end, aber auch beängs­ti­gend. Einen Augen­blick sah sie dem ver­schwun­de­nen Zug nach, in wel­chem ihre Mut­ter dem Schick­sal ent­ge­gen­fuhr. Ebenso wie all die ande­ren Men­schen, deren Leben von den Lau­nen der Wachen abhing. Auf ein­mal wollte sie nur weg; diese Gegend ekelte sie an. Trä­nen lie­fen über ihr Gesicht, wur­den von ihm sanft weg­ge­wischt. Er lächelte sie an, wäh­rend sich ihre Hände fan­den. Noch ein­mal blickte sie zu den Glei­sen zurück, glaubte dabei für einen Moment die Stimme ihrer Mut­ter zu hören, wel­che Bal­sam und Qual zugleich war. Er zog sie vor­wärts in einen lich­ten Wald. Dort fan­den sie einen Platz und genos­sen die Mög­lich­keit der Erho­lung. Immer wie­der floss eine Träne über ihr Gesicht. Aber sie bestä­tig­ten sich ihre Kraft und den Wil­len gemein­sam das Kom­mende durchzustehen.

Er erin­nerte sie noch ein­mal an das herr­li­che Essen, wel­ches auf dem Tisch gestan­den hatte, als sie gekom­men waren. Mit der Faust hatte einer der Sol­da­ten gegen die Woh­nungs­tür geschla­gen, gerade als seine Frau ihm etwas erzäh­len wollte. Danach ergos­sen sie sich wie eine Flut in die Woh­nung, öff­ne­ten die Schränke und Türen, schätz­ten die Bil­der an den Wän­den. Die drei Bewoh­ner durf­ten die Stube nicht ver­las­sen bevor ihnen ver­kün­det wor­den war, dass sie in zehn Minu­ten abfah­ren soll­ten. Sie durf­ten einige Sachen packen, um dann auf die Lade­flä­che eines LKW ver­frach­tet zu wer­den. Bereits an die­sem Punkt fühlte sie sich wie auf einem Vieh­trans­port, denn es wur­den immer mehr Men­schen auf­ge­la­den, sodass Frei­raum schließ­lich nur noch ein Wort und Abstand eine Illu­sion war. Je näher sie dem Bahn­hof kamen, umso mehr schrumpfte die Hoffnung.

Nun saßen sie irgendwo in einem Wäld­chen und zuck­ten bei jedem Geräusch zusam­men, hiel­ten sich die Arme schüt­zend über den Kopf, als ein wei­te­rer Zug vor­bei­fuhr. Zwi­schen all den Augen­bli­cken fand sie irgend­wann die Kraft, ihm die ande­ren Umstände zu beich­ten, in denen sie sich befand.
In der fol­gen­den Zeit wan­der­ten sie bei Nacht und ruh­ten am Tag. Als ihr Bauch so gewach­sen war, dass sie nicht mehr wei­ter konn­ten, blie­ben sie auf einem Bau­ern­hof als Magd und Knecht. Das Bau­ern­paar fragte nicht viel und in der Abge­schie­den­heit des Hofes kamen nur sel­ten Sol­da­ten vor­bei. Meist waren es die­sel­ben und irgend­wann ver­trau­ten diese den Bau­ern so, dass sie nur sel­ten nach dem Rech­ten sahen.

An einem Tag im Som­mer war es wie­der soweit und die Sol­da­ten besuch­ten den Hof. Sie wollte ihnen, wie sie es immer musste, Getränke und eine Mahl­zeit brin­gen. Die Sol­da­ten gin­gen gerade an ihrer Toch­ter vor­bei, die im Wagen im Hof stand, als einer von ihnen den Kopf drehte, um in den Wagen zu schauen. Anschlie­ßend nickte er der Bäue­rin zu, wohl in der Annahme, es sei ihr Kind. Ihr Magen zog sich zusam­men, schien die Kraft aus ihrem Kör­per zu zie­hen. Zum Schutz des Kin­des wusste kei­ner, dass sie die Mut­ter war. Nor­ma­ler­weise war es ihr egal, doch das Gesicht die­ses Sol­da­ten war ihr zu ver­traut. Aus unzäh­li­gen würde sie es erken­nen; jedoch hoffte sie, dass es anders­herum nicht so war. Viel­leicht war er damals noch wei­te­ren Frauen hin­ter­her­ge­stie­gen, wollte noch andere ins Bett bekom­men. Sogar einen gefälsch­ten Pass mit rei­nem Blut­sta­tus hatte er ihr ver­spro­chen. Ob er es auch gehal­ten hätte, ver­mochte sie nicht zu sagen.

Nun sollte sie hier wie­der auf ihn tref­fen, konnte aber kei­nen wei­te­ren Schritt gehen und stand, sich am Tablett fest­kral­lend, an der Häu­ser­ecke. Irgend­wann nahm die Bäue­rin ihr die Last ab und schob sie in den Schat­ten. In die­sem schlich sie sich ins Haus, denn sie wusste, dass er bei ihrer Abfahrt dabei gewe­sen war. Sie durfte eigent­lich nicht hier sein und er durfte das nicht wissen.
Im Haus gab es viel zu tun, wor­über sie die Sol­da­ten ver­gaß, bis hin­ter ihr eine Tür klappte. Er kam um die Ecke, stand ihr grin­send in der Küche gegen­über, nur der Tisch war ihm noch im Weg. Obwohl er sich noch klar arti­ku­lierte, konnte sie an sei­nen Augen sehen, dass er dem Alko­hol bereits gut zuge­spro­chen hatte. Ein paar Run­den dreh­ten sie um den Tisch, dabei nannte er sie „Mäus­chen“ oder „Lieb­ling“, er erkannte sie aber offen­bar nicht, denn er sagte die­sel­ben Worte wie damals. In der fol­gen­den Runde lief sie zur Tür und hin­über in den Stall, wo sie sich auf dem Heu­bo­den ver­barg. Von dort beob­ach­tete sie, wie er das Haus ver­ließ und sich den Kame­ra­den zuwandte. Sie blieb bis es däm­merte und die Män­ner vom Feld kamen.

Die Tage zogen vor­bei. Oft flo­gen Flug­zeuge über sie hin­weg und erzeug­ten nahe Explo­sio­nen. In sol­chen Momen­ten sah sie zum Him­mel und war in Gedan­ken bei ihrer Mut­ter. Die Unge­wiss­heit ihres Schick­sals fraß sich tief in sie. Dann, eines Tages, kamen keine Flug­zeuge mehr. Auch am nächs­ten Tag nicht. Die gesamte Woche blie­ben sie aus. Es gab Gerüchte, dass Frie­den beschlos­sen war und da weder Sol­da­ten noch Explo­sio­nen kamen, fin­gen die Men­schen an, es zu glau­ben und began­nen, die Spu­ren der Zer­stö­rung zu beseitigen.

Jahre waren ver­gan­gen, als sie in einer Zei­tung auf eine Liste stieß. Umran­det mit schwar­zen Blu­men ehrte diese all die, wel­che die Wag­gons damals nicht lebend ver­las­sen hat­ten. Ihr Fin­ger zit­terte, als sie die Spal­ten ent­lang­fuhr; die Namen waren nach Datum sor­tiert und je näher sie dem eige­nen kam, umso lang­sa­mer wurde sie. Nach einer gefühl­ten Ewig­keit strich sie über den Namen ihrer Mut­ter, hatte diese doch ihren Frie­den gefun­den und musste die Qua­len nicht ertra­gen. Sie saß ein­fach nur da, Trä­nen flos­sen und der Blick klebte auf dem so ver­trau­ten Namen. Plötz­lich legte sich eine kleine Hand auf die ihre, ver­deckte den Ein­trag. Die jun­gen Augen, wel­che vom Krieg nur die zer­stör­ten Land­schaf­ten kann­ten, blick­ten sie trös­tend an. Wort­los nahm sie ihre Toch­ter in den Arm, konnte ihr nun erklä­ren, warum sie nie wie­der eine Eisen­bahn bestei­gen würde.

Sanna Ren­ner, Twit­ter: @chaoskraehe
Foto: Geschich­ten­zeich­ne­rin Celina

Ein Bei­trag zum Pro­jekt 100 Bil­der – 100 Geschich­ten – Bild Nr. 28.

Weiterlesen

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr