Buchstabenschatten

by Worteweberin Annika

Für „Vor der Zunahme der Zei­chen“ erhält Sen­thu­ran Varat­ha­ra­jah nach dem Bre­mer Lite­ra­tur­för­der­preis auch den Adel­bert-von-Cha­misso-För­der­preis 2017. Worte­we­be­rin Annika hat den face­book-Roman um zwei junge Stu­den­ten mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund begeis­tert gelesen.

Über die Funk­tion „Per­so­nen, die du viel­leicht kennst“ ler­nen sich Sent­hil und Val­mira ken­nen. Sie lebt in Mar­burg, er in Ber­lin. Die bei­den begin­nen einen Chat via face­book, in dem sie sich nicht nur über ihren All­tag als Stu­den­ten der Phi­lo­so­phie bezie­hungs­weise Kunst­ge­schichte aus­tau­schen, son­dern auch über ihre Ver­gan­gen­heit: die Flucht von Sri Lanka oder dem Kosovo nach Deutsch­land, die Kind­heit im „Asyl­land­heim“, das Ankom­men in der deut­schen Spra­che, Ver­lust, Iden­ti­tät und Tod. Sie­ben Tage lang schrei­ben die bei­den, zwi­schen denen sofort eine ver­traute Nähe herrscht. Und das, obwohl sie sich noch nie per­sön­lich gese­hen, sich wahr­schein­lich immer knapp ver­passt haben.

„ich habe ins leere geschrie­ben. und du schreibst zurück, an stel­len, an denen ich blind und taub für dich bin.“ (S.50)

„Vor der Zunahme der Zei­chen“ fin­det im Chat statt, besteht nur aus den Nach­rich­ten der bei­den Figu­ren und den Ken­nun­gen für Uhr­zeit und Namen. Wo sich die Figu­ren befin­den, was sie den­ken, wenn sie schrei­ben, erfährt man nicht. Die Sätze von Sent­hil und Val­mira ste­hen für sich alleine, nicht aber im luft­lee­ren Raum. Denn sie berich­ten von ganz rea­len The­men. Von der Gewalt der Armee in Sri Lanka zum Bei­spiel, deren Zei­chen Sent­hils Mut­ter erkennt und ihren Mann nach Deutsch­land schickt, bevor die Zei­chen zunehmen.

Der Wech­sel zwi­schen kon­se­quen­ter Klein­schrei­bung und kor­rek­ter Groß-und-Klein­schrei­bung sorgt dafür, dass ohne Gewöh­nungs­ef­fekte stän­dig auf­merk­sam gele­sen wer­den muss. So ste­hen Lesende der Spra­che ähn­lich fremd gegen­über, wie die Prot­ago­nis­ten Val­mira und Sent­hil in ihrer Kind­heit. Die Spra­che ist ein wich­ti­ges Thema für die bei­den, die über Wort­schwel­len, Buch­sta­ben­schat­ten und die Rück­seite der Zei­chen sin­nie­ren. Diese ele­gan­ten Wort­kom­po­si­tio­nen zeich­nen Sen­thu­ran Varat­ha­ra­jahs Roman aus: Einen Roman vol­ler Sätze, die man sich dick mar­kie­ren, in Notiz­hefte schrei­ben oder in Bil­der­rah­men an die Wand hän­gen möchte. Sätze, die zwar nicht ein­deu­tig oder leicht zu ver­ste­hen wären, aber die nachhallen.

„viel­leicht fal­len uns die dinge nicht ein, son­dern wir in sie, von links nach rechts, von oben nach unten. Viel­leicht drin­gen wir durch ihre haut wie durch wände, ohne ankün­di­gung, und immer wie­der.“ (S.80)

Sen­thu­ran Varat­ha­ra­jahs Roman „Vor der Zunahme der Zei­chen“ ist ein leuch­ten­des Sprach­ju­wel, dem es gelingt, gleich­zei­tig ver­spielt und sehr ernst­haft zu sein. Die­ses Buch sollte man genießen!

Vor der Zunahme der Zei­chen. Sen­thu­ran Varat­ha­ra­jah. S. Fischer Ver­lag. 2016.

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