„Dass ein Glück so ungeheuerlich sein kann, dass man nicht weiß, wie man es aushalten soll!“

by Worteweberin Annika

Ein Som­mer in der Natur, prak­tisch ohne Inter­net, Fern­se­hen und Han­dy­emp­fang – wie schreck­lich! Das jeden­falls denkt Mar­tha, die Prot­ago­nis­tin in Kirs­ten Boies „Ein Som­mer in Som­merby“, als sie mit ihren klei­nen Brü­dern Mikkel und Mats zur Oma an die Küste fah­ren muss. Mit den drei Kin­dern ist Worte­we­be­rin Annika ans Meer gefahren.

In New York hat die Mut­ter von Mar­tha, Mikkel und Mats einen Unfall. Sie liegt im Kran­ken­haus und natür­lich will der Vater sofort zu ihr flie­gen. Wohin aber solange mit den Kin­dern? Die Oma an der Ost­see scheint die beste Lösung zu sein, obwohl die Fami­lie zu ihr schon lange kei­nen Kon­takt mehr hat. Dem­entspre­chend rup­pig und gehemmt ist am Anfang der Umgang zwi­schen den Kin­dern und der Großmutter.

Der kleine Mats beschließt mit sei­nen vier Jah­ren, diese fremde Frau lie­ber erst­mal nur „Frau Oma“ zu nen­nen, die einen so selt­sa­men Lebens­wan­del pflegt: Zu ihrem Haus auf der Land­zunge führt nicht mal ein Tram­pel­pfad, es gibt kei­nen Han­dy­emp­fang, kein Tele­fon, kei­nen Fern­se­her und natür­lich auch kein WLAN. Das über­for­dert bei der Ankunft vor allem die zwölf­jäh­rige Mar­tha, die doch eigent­lich so gerne whats­ap­pen und auf Insta­gram Bil­der pos­ten würde und nun nicht ein­mal SMS emp­fan­gen kann. Wie die Oma das nur aushält?

Eine Idylle an der See

Schnell ler­nen die Kin­der das Leben in der Natur aber auch zu schät­zen und gewin­nen einen neuen Blick auf die Welt. Tat­säch­lich erle­ben die Kin­der in Som­merby trotz ihrer anfäng­li­chen Beden­ken einen wun­der­vol­len Som­mer der Natur­er­fah­run­gen und Aben­teuer – gro­ßes „Som­mer­glück“ für die ham­bur­ger Stadtkinder.

„Wie krass!, denkt Mar­tha. Warum habe ich das vor­her noch nie gehabt? So ein beson­de­res Regen­ge­fühl? Kann man sich vor­stel­len, dass einen auch Regen glück­lich machen kann?“ (S. 77)

Som­merby ist eine Ost­see-Idylle, die den Kin­dern viel Frei­raum bie­tet, eine Land­lust-Welt, die aber doch nicht ganz den Bil­dern in den belieb­ten Maga­zi­nen ent­spricht. Denn das Leben für Oma Inge ist nicht nur ein­fach, sie muss auch ihren Lebens­un­ter­halt ver­die­nen. Und noch dazu ist die Idylle bedroht, denn ein Mak­ler möchte ihr Haus gerne für viel Geld kau­fen. Den Boom des Land­le­bens nach dem Cocoo­ning-Prin­zip reflek­tiert Boie im Roman auf eine spie­le­ri­sche Weise, was für erwach­sene Leser eine zusätz­li­che Bedeu­tungs­ebene schafft. Diese unter­schied­li­chen Bedeu­tungs­ebe­nen für junge und ältere Leser (soge­nannte Multi- oder Mehr­fach­adres­sie­rung) sind eine der gro­ßen Stär­ken von „Ein Som­mer in Sommerby“.

Koh­len­hy­drat­frei? Oder lie­ber technikfrei?

Ähn­li­ches gelingt ihr dadurch, dass sie unter­schied­li­che Erzie­hungs­kon­zepte neben­ein­an­der­stellt, denn die Oma hat ganz andere Vor­stel­lun­gen vom Leben als Marthas Eltern: Bei Inge dür­fen die Kin­der frei her­um­tol­len, müs­sen aber auch Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Zum ers­ten Mal müs­sen die drei hier abwa­schen und in der Küche mit anpa­cken. Außer­dem traut die Oma Mar­tha und ihren Brü­dern vie­les zu, von dem die Zwölf­jäh­rige sicher ist, dass die Mut­ter dabei viel zu ängst­lich wäre. So darf Mar­tha mit dem Boot fah­ren, als es der Oma nicht gut geht – gerät dabei aber auch in eine bedroh­li­che Situation.

Was man vom über­vor­sich­ti­gen, durch­ge­plan­ten Leben der Eltern – beide übri­gens arbei­ten an der Börse – und ihrer Erzie­hung erfährt, ist nicht ganz ohne. Mar­tha erscheint sehr reflek­tiert, kann sich gut um ihre jün­ge­ren Brü­der küm­mern, wirkt aber gerade am Anfang durch ihre Aus­sa­gen wie eine kleine, opti­mierte Erwachsene:

„Mama sagt immer, es ist gut, mög­lichst koh­le­hy­drat­frei zu essen. Man kann gar nicht zu früh damit anfan­gen, auf seine Figur zu ach­ten. Aber das wird hier natür­lich nichts.“ (S. 57)

In Som­merby lernt Mar­tha etwas mehr Unbe­schwert­heit und das Ver­ständ­nis für ein ein­fa­che­res Leben – auch die digi­tale Tech­nik fehlt ihr bald nicht mehr. Plötz­lich inter­es­siert sie sich gar nicht mehr so sehr für die Urlaubs­bil­der ihrer Klas­sen­ka­me­ra­din­nen. Gleich­zei­tig ent­deckt Mar­tha das Lesen für sich und fie­bert mit der Hel­din in einer Lie­bes­ge­schichte – übri­gens „Dési­rée“ von Anne­ma­rie Selinko – mit. Nicht nur im Bezug dar­auf ist „Ein Som­mer in Som­merby“ sehr inter­tex­tu­ell gestal­tet. Auch viele Kin­der­se­rien wie Yakari oder der Sand­mann und Bil­der- und Kin­der­bü­cher wie „Die Schatz­in­sel“ oder „Vom klei­nen Maul­wurf, der wis­sen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“ fin­den Ein­gang in die Geschichte.

Das Astrid-Lind­gren-Gefühl

Kirs­ten Boies Roman erin­nert durch den Titel an „Wir Kin­der aus Bul­lerbü“, ist aber zum Bei­spiel durch die Inter­tex­tua­li­tät oder The­men wie digi­tale Medien und Ernäh­rung modern und für heu­tige Kin­der anschluss­fä­hig. Das roman­ti­sche Som­mer­ge­fühl ist den­noch ver­gleich­bar mit Astrid Lind­grens Welt, beson­ders dem Leben auf der Insel Salt­kro­kan. Das macht viel Spaß beim Lesen und sorgt für Urlaub für den Kopf, macht aber nicht dort Halt. Es stellt sich für die Leser zum Bei­spiel die Frage, was eigent­lich wirk­lich zählt im Leben – ist es nun das Geld, sind es die schi­cken Strand­bil­der auf Insta­gram oder die per­sön­li­chen Bezie­hun­gen, ist es das Leben in der Natur?

„Ein Som­mer in Som­merby“ bie­tet sowohl für Kin­der als auch für Erwach­sene Stoff zum Nach­den­ken. Natür­lich wird es aber auch span­nend im Roman, denn auf der Land­zunge tau­chen „Ran­da­lie­rer“ auf – oder viel­leicht ist es auch ein India­ner? – und alle gemein­sam müs­sen zusam­men­ar­bei­ten, um Schlim­me­res zu verhindern.

Mit den sehr sym­pa­thisch und unter­schied­lich gestal­te­ten Figu­ren, der The­men­viel­falt, der Mehr­fach­adres­sie­rung und dem Som­mer- und Urlaubs­ge­fühlt ist „Ein Som­mer in Som­merby“ von Kirs­ten Boie ein viel­schich­ti­ger Roman für Leser ab 10 Jah­ren – aber auch erwach­sene Fans von Astrid Lind­gren kom­men hier auf ihre Kos­ten. In einem unter­halt­sa­men Ton gelingt es der Autorin, nach­denk­lich zu machen, ohne zu päd­ago­gi­sie­ren, und gleich­zei­tig gro­ßen Lese­spaß zu garantieren.

Ein Som­mer in Som­merby. Kirs­ten Boie. Mit Vignet­ten von Verena Kör­ting. Oetin­ger. 2018. Eine kür­zere Ver­sion der Rezen­sion ist bereits in der 3. Uni-Spe­cial-Aus­gabe erschienen.

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