„Dieses Leben gehört Alan Cole“ – Lesen allein ist nicht genug

by Bücherstadt Kurier

Der Bücher­stadt Kurier ruft und alle, alle fol­gen. Kein Wun­der bei einem Som­mer­thema, das uns bewegt, umtreibt und nach­denk­lich macht. „Das Fest der Viel­falt“ wird zele­briert. Der Fokus liegt dies­mal auf Bei­trä­gen, die sich mit Diver­si­tät, quee­ren und femi­nis­ti­schen The­men beschäf­ti­gen. Ich bin dabei! Das war mir sofort klar. Anders, quer, bunt. The­men, die meine Welt in der klei­nen lite­ra­ri­schen Stern­warte Astro­Li­brium bestimmen.

Ein Buch möchte ich unter die­ser Über­schrift gerne vor­stel­len. Viel­leicht sogar ein wenig mehr, weil ich mir oft die Frage stelle, ob es denn aus­reicht, was wir hier so anstel­len. Ob es in unse­rer Gesell­schaft aus­reicht, diese The­men auf­zu­grei­fen, der sexu­el­len Selbst­be­stim­mung in der Lite­ra­tur mehr Auf­merk­sam­keit zu ver­lei­hen, Diver­si­tät les­bar zu machen. Auf Bücher mit quee­ren The­men hin­zu­wei­sen und Dis­kus­sio­nen anzu­sto­ßen, Impulse zu geben, den Dis­kurs am Leben zu hal­ten. Tun wir da genug? Was bewe­gen wir und wen? Aber fan­gen wir doch mit dem Jugend­buch an, das schon mit sei­nem Titel prä­de­sti­niert für das Fest der Viel­falt erscheint.

„Die­ses Leben gehört: Alan Cole (Bitte nicht knicken)“

Alan Cole ist anders. So anders, dass er selbst kaum Worte dafür fin­det. Es ist „Ihr-wisst-schon-was“. Also, das sagt er jeden­falls selbst. Und der zwölf­jäh­rige Junge weiß ganz genau, in wel­cher Gefahr er schwebt, denn spä­tes­tens seit er sich in den gleich­alt­ri­gen Mega­s­port­ler sei­ner Schule „Ich-wisst-schon-was“ hat, droht ihm das Schick­sal all derer, die „Ihr-wisst-schon-was“ sind.

„Man wird behan­delt, als hätte man die Mit­tel­stu­fen-Ver­sion der Beulenpest.“

Bes­ser nicht auf­fal­len. Das ist die Devise. Ansons­ten war es das mit dem nor­ma­len Leben, weil man eben nicht nor­mal ist. Schwul. Schwer kommt das Wort über Alans Lip­pen. Ver­liebt. Das trifft es bes­ser. Da ist ihm doch das Geschlecht des­sen egal, in den er sich ver­guckt hat. Doch andere sehen Andere anders. Ist so! Und wenn diese Ande­ren zur Fami­lie gehö­ren, dann ent­wi­ckelt sich das Damo­kles-Schwert über dem eige­nen Kopf zum Fallbeil.

Sein älte­rer Bru­der Nathan wird für Alan zur größ­ten Gefahr. Er hat alles her­aus­ge­fun­den und nun erpresst er Alan mit sei­nem Wis­sen. Nathan denkt sich ein höl­li­sches Spiel aus. Sie­ben Auf­ga­ben, die beide zeit­gleich zu lösen haben. Sie­ben Auf­ga­ben, die gerade für Alan fast nicht zu schaf­fen sind. Und sollte sein Bru­der gewin­nen, würde Alan eben geoutet. Alles andere wäre purer Zufall, denn Alan hat noch nie ein Spiel gegen sei­nen Bru­der gewonnen.

Eric Bell schreibt uns sei­nen Prot­ago­nis­ten Alan Cole so sehr ins Herz, dass wir alles darum geben wür­den, dass sein Leben nicht geknickt wird. Die­ses Jugend­buch stellt die zen­tra­len The­men des Her­an­wach­sens vol­ler Empa­thie in den Mit­tel­punkt die­ser „Com­ing-of-Age-Story“. Freund­schaft, Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, die erste Liebe, Angst, Selbst­fin­dung, Mob­bing, Fami­li­en­kon­flikte und Ver­zweif­lung bis hin zum Gedan­ken, dass Selbst­mord ein Aus­weg sein könnte. Unter die­sen Rah­men­be­din­gun­gen beginnt Alan um sein Leben zu kämp­fen. Im wahrs­ten Sinne des Wor­tes. Dabei wirkt der Roman nicht kon­stru­iert. Die Spi­rale dreht sich unwei­ger­lich und ent­wi­ckelt einen gewal­ti­gen Sog, gerade für junge Leser.

Die zen­trale Bot­schaft des Romans wiegt schwer. Sie ist rele­vant und kann für all jene Zei­chen set­zen, die das Gefühl haben, nicht nor­mal zu sein, von der Norm abzu­wei­chen, als Außen­sei­ter in einer gar nicht bun­ten Welt zu gel­ten und daran zu verzweifeln:

„Nun gut. Es ist mir lie­ber, dass es schwer ist, ich selbst zu sein, als dass es schwer ist, jemand ande­res zu sein.“

Ich kann nur emp­feh­len, Alan Cole auf sei­nem Weg zu fol­gen. Ich kann nur davor war­nen, sei­nen Bru­der zu has­sen, die Umwelt zu ver­ur­tei­len oder den Eltern einen Man­gel an Empa­thie vor­zu­wer­fen. Eric Bell spielt mit uns. Er erzeugt genau die Vor­ur­teile, gegen die wir auf der ande­ren Seite ankämp­fen. Jede Medaille hat eine zweite Seite. In die­sem Roman wird diese Münze mehr­fach umge­dreht. Das ist bemer­kens­wert und bril­lant erzählt. Hier wird aus dem gebo­re­nen Under­dog, des­sen Gefühle Amok lau­fen, nicht plötz­lich der strah­lende Super­held. So leicht macht es sich Eric Bell nicht. So leicht macht er es uns nicht. So leicht ist es nicht. Auch nicht, wenn man die­ses Buch gele­sen hat. Die Bot­schaft haben wir wohl ver­nom­men. Aber was ist dann? Alles gut?

Oh Mann, da habe ich ganz schön was getan für eine bunte Gesell­schaft. Da habe ich mäch­tig was bewegt, indem ich die­ses Buch aus dem Sauer­län­der Ver­lag vor­ge­stellt habe. Da kann ich mich fein zurück­leh­nen. Abge­hakt. Diver­si­tät im Her­zen, das wahre Leben im Kopf und wie­der raus mit mir in eine Welt ohne Aus­gren­zung, Mob­bing oder Ein­schrän­kun­gen für all jene, die anders sind. Und immer schön abbie­gen vor den Fra­gen, die ich mir selbst kaum stel­len möchte. Viel zu unbe­quem. Hab ja immer­hin… Ist doch schon was… Könnte ja auch andere The­men… also was will ich denn mehr?

Nichts habe ich durch das Lesen ver­än­dert. Meine eige­nen Wert­vor­stel­lun­gen ste­hen hier nicht auf dem Prüf­stand. Basta. Würde ich die­ses Buch mei­nem eige­nen Sohn schen­ken, um ihm im Alter von zwölf Jah­ren zu signa­li­sie­ren, dass man gerne anders sein darf? Habe ich nie den Blick in die Ferne schwei­fen las­sen, wel­ches junge Mäd­chen mir irgend­wann als Freun­din prä­sen­tiert würde? Träume ich nicht von Hoch­zeit, Stamm­hal­tern und den tra­di­tio­nel­len Fami­li­en­be­grif­fen? Bin ich nicht tief in mir stock­kon­ser­va­tiv und nach außen schön bunt, weil es mich ja nicht betrifft? Habe ich nicht leicht reden, wenn ich meine bei­den inzwi­schen erwach­se­nen Kin­der anschaue und dank­bar bin, dass diverse Krüge vol­ler bun­ter Diver­si­tät an mir vor­über­ge­gan­gen sind? Ist die Viel­falt an mir vor­bei­ge­rauscht, weil meine Ein­falt nie aus der Reserve gelockt wurde?

Oh ja. Ich habe viel gelernt durch diese Bücher. Im Beruf werde ich mir nie­mals vor­wer­fen las­sen müs­sen, dass ich Men­schen auf­grund ihrer Nei­gun­gen, ihrer Her­kunft, ihrer Reli­gion oder ihrer Haut­farbe anders behan­delt habe. Ich bin gefes­tigt vor­ur­teils­frei. Ich bin der Erste, der auf­steht, wenn Unrecht geschieht. Der Erste, der ande­ren ins Gewis­sen redet, wenn sie sprach­lich das Mob­bing gesell­schafts­fä­hig machen. Und hey. Ich stelle Bücher zu Trans­gen­der, Homo­se­xua­li­tät und allem, was sich quer­beet darum rankt, vor. Was soll ich noch mehr tun?

Unbe­ant­wor­tet bleibt die Frage, weil die Ein­schläge nie nah genug kamen, um mich auf die Probe zu stel­len. Unbe­ant­wor­tet, weil mein Wer­te­vor­rat schön geord­net in den Wer­te­re­ga­len mei­nes Welt­bil­des gela­gert ist. Unbe­ant­wor­tet, weil ich nie vom Leben her­aus­ge­for­dert wurde, für etwas ein­zu­ste­hen, was ich mir für mich selbst inner­lich kaum vor­stel­len kann. Also. Wie weit bin ich? Reicht es aus, das Bunte zu beschrei­ben und sich dann hin­ter dem Geschrie­be­nen zu ver­bar­ri­ka­die­ren? Ich denke, ich habe noch viel zu ler­nen, viel an mir zu arbei­ten und darf mir nicht vor­gau­keln, durch sol­che Arti­kel die­je­ni­gen zu ver­än­dern, die einer bun­ten Welt nichts abge­win­nen können.

Ich muss mich wei­ter öff­nen. Auf­recht blei­ben, auf­ste­hen und auf­be­geh­ren, wenn Über­hol­tes das neu zu Den­kende auf der rech­ten Spur über­holt. Kri­tisch betrach­ten, wo Rol­len­bil­der kul­ti­viert wer­den, die Gesell­schaf­ten um hun­dert Jahre zurück­wer­fen und ver­mei­den, mich unkri­tisch mit Wer­ten aus­ein­an­der­zu­set­zen, die dog­ma­tisch statt tole­rant sind. Hier darf man den Blick auf die Kir­chen und Reli­gio­nen wen­den. Sie sind nicht bunt. Sie sind in Rol­len­bil­dern klein­ka­riert und weit­ge­hend im Mit­tel­al­ter ver­haf­tet. Ich muss Spra­che bekämp­fen, die das Anders­sein als Schimpf­wort kul­ti­viert. „Schwule Sau“ hat im Sprach­schatz einer Gesell­schaft nichts zu suchen, die auf Wert­schät­zung und Gleich­be­hand­lung, Würde und Akzep­tanz basiert. Unser Grund­ge­setz ist hier ver­bind­li­cher als man­che Poli­ti­ker, die auf sei­ner Grund­lage gewählt wurden.

Nein. Ich wollte nicht abschwei­fen. Ich wollte nur erklä­ren, dass ich Gefahr laufe, das Leben ande­rer Men­schen zu kni­cken, weil ich unbe­dacht und unprä­zise im Umgang mit Wer­ten bin. Wenn ich Impuls­ge­ber oder Denk­schritt­ma­cher sein will, muss ich mich erst selbst in Gang brin­gen. Ich muss meine eige­nen Denk­krus­ten lösen. Hier sind Jugend­bü­cher, wie „Die­ses Leben gehört: Alan Cole (Bitte nicht kni­cken)“ her­aus­ra­gende Weich­ma­cher, wenn man sie eben nicht nur als reine Jugend­bü­cher emp­fin­det. Alters­los, zeit­los und gren­zen­los ist Viel­falt nur zu errei­chen, wenn ich mir selbst Ein­falt ein­ge­stehe. Vor mei­ner Tür gilt es noch mäch­tig zu keh­ren, bevor das Bunte viel­fäl­tig blüht.

Viel­leicht dient die­ses „Fest der Viel­falt“ auch zur Refle­xion. Viel­leicht ist die­ses Fest mit all sei­nen Bei­trä­gen Anlass genug, sich selbst zu über­den­ken. Ich danke dafür, dass ich euch auf die­sem Wege Alan Cole näher­brin­gen durfte. Knickt ihn nicht. Ich danke aller­dings auch dafür, dass ich mir auf die­sem Wege selbst ein wenig näher­ge­kom­men bin.

Ihr fin­det bei Astro­Li­brium eine Viel­zahl von Buch­emp­feh­lun­gen zur Viel­falt. Viel­leicht schaut ihr mal vor­bei und lernt ein paar beson­dere Werke ken­nen. Von einem däni­schen Mäd­chen über die Mitte der Welt bis hin zu George. Zusam­men wer­den wir leuch­ten darf nicht mehr nur ein Buch­ti­tel blei­ben. Was wäre das für ein Fest.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen und Bücher zur Viel­falt fin­det ihr bei Astro­Li­brium.

Stadt­be­su­cher Arndt
Astro­Li­brium

Ein Bei­trag zum Spe­cial #Kun­ter­bunt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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