Ein Schuss vom Dach

by Bücherstadt Kurier

Mon­tags, mitt­wochs und don­ners­tags. Vor der Klasse ste­hen und leh­ren. Nichts wei­ter zu sein als ein Ver­mitt­ler zwi­schen Schul­stoff und lee­ren Köp­fen. Doch die Klasse hört nicht zu und wird nicht wis­sen. Es ist Frust, der Gabriel erfüllt, seit er meint, seine Arbeit sei zweck­los. Es ist der Frust eines Leh­rers, des­sen päd­ago­gi­sches Geschick nicht ein­mal mehr zum Selbst­be­trug aus­reicht. Schü­le­rin­nen und Schü­ler moti­vie­ren? Für Phy­sik? Chancenlos.

Gabriel erwacht an einem Mon­tag um sie­ben und würde bloß gerade noch recht­zei­tig in den Unter­richt kom­men. Nicht allein des­halb ent­schließt er sich dage­gen, sich zu beei­len. Er beeilt sich auch nicht, auf­zu­ste­hen. Der Gang ins Bade­zim­mer ist ruhig und bedacht. Jeder Schritt ist von einem bemer­kens­wer­ten Stolz getra­gen, der ihn bis zur Kaf­fee­ma­schine führt und daran hin­dert, sich zu set­zen: Denn ein gro­ßer Mann muss stehen.
Mit geschwell­ter Brust schaut er aus dem Fens­ter in den angren­zen­den Park und sieht Kin­der spie­len und lachen. Er hätte Grund­schul­leh­rer wer­den sol­len, in die­sem Alter sind sie noch nicht so ver­zo­gen. Der Traum der ver­gan­ge­nen Nacht hat indes ohne­hin alles ver­än­dert. Der Lehr­be­ruf ist nun zu klein gewor­den, seine Wün­sche zu groß. Er hat ein neues Ziel, eine höhere Auf­gabe und viel­leicht ist das bloß der Auf­takt zu sei­ner wah­ren Berufung.
Gabriel geht zügig zu sei­nem in die Jahre gekom­me­nen VW Pas­sat, steigt ein und fährt los. Der Weg zur Schule ist nicht weit, doch er mag es, zu fah­ren. Er genießt das Gefühl der Kon­trolle über sei­nen Wagen. Die Ampeln sind rot und sie sind grün, manch­mal hält er für einen Rad­fah­rer oder eine Jog­ge­rin am Zebra­strei­fen. Trotz­dem meint er, dass ihn nichts auf­hal­ten könnte, und erreicht sein Ziel nach weni­gen Minu­ten. Er steigt aus und geht ins Gebäude. Kaum jemand sieht ihn – und sowieso hat die Stunde schon vor drei­ßig Minu­ten begon­nen. Wer jetzt noch auf den Gän­gen ist, igno­riert ihn, oder wirkt befrem­det vom star­ren, direk­ten Blick des Phy­sik­leh­rers, der einem einen Schauer über den Rücken jagen könnte. „Gut so“, denkt er sich und freut sich beim Gang in den Schul­kel­ler über sei­nen Weit­blick. Dort unten ver­birgt sich näm­lich der Raum mit den Fund­sa­chen und gleich dane­ben ist einer für uner­laubt mit­ge­brachte Gegenstände.

Er hat sich irgend­wann dafür gemel­det, den Schlüs­sel zu neh­men und sich um alles zu küm­mern. Jedes Objekt, das sich an die­sem Ort befin­det, ist ihm bekannt. So auch die P8 von Heck­ler & Koch, die ein Schü­ler uner­laub­ter­weise aus dem Waf­fen­schrank sei­nes Vaters mit­ge­bracht hatte, um vor sei­nen Freun­din­nen und Freun­den zu prah­len. Das ging jedoch nach hin­ten los, als die Rek­to­rin ihn erwischte und ihm die Waffe abge­nom­men hat. Eine Woche ist das nun her. Glück­li­cher­weise, denkt Gabriel, ist der Vater bis­her noch nicht da gewe­sen, um sich die­ses Schmuck­stück wie­der­zu­ho­len. Dann greift er zu, steckt die Waffe in seine bie­dere Alt­leh­rer­ta­sche und ver­lässt den Raum, den Kel­ler, das Gebäude und letz­ten Endes das Grund­stück, ohne dass ihn jemand daran hin­dert. „Es kommt wie es soll“, mur­melt der Phy­si­ker und hin­ter­ließe alle, die das gehört hät­ten, mit die­ser in eine Schock­starre ver­set­zen­den Panik, wie sie sonst nur die schiere Anwe­sen­heit einer Bombe mit sich brin­gen könnte. Die Zünd­schnur brennt.

Wie­der im Auto führt es ihn zum Ort aus sei­nen Träu­men. Einer beleb­ten und leben­di­gen Straße. Der Weg ist gepflas­tert mit klei­nen Imbiss­lo­ka­len, mit Schule, Ein­kaufs­zen­trum und klei­nem Park samt obli­ga­to­ri­schem Enten­teich. Gabriel steigt aus und sein Weg führt ihn ziel­stre­big zu einem der an der Straße gebau­ten Hoch­häu­ser. Ein Klin­geln, ein Hallo – er sei der Brief­trä­ger – und schon ist er drin. Er wählt ganz bewusst die Treppe, denn er hat noch jede Menge Zeit. Und es scheint ihm, als sei der Auf­stieg die per­fekte Meta­pher für die­sen Moment.

Dann hat er das Dach erreicht, bewaff­net mit der Gewiss­heit, das Gute vom Schlech­ten unter­schei­den zu kön­nen, und einer Pis­tole, die das opti­male Instru­ment dafür sein soll. Bereits in sei­nem Traum hat Gabriel hier oben gestan­den und auf die Straße hin­ab­ge­schaut. Dort unten sah er dann zwei Per­so­nen, von denen er wusste, dass sie gro­ßen Scha­den anrich­ten wür­den, wenn sie nie­mand daran hin­derte. Bei der ers­ten hat es sich um einen jun­gen, schwarz­haa­ri­gen Mann mit Akten­kof­fer gehan­delt, die andere ist ein jun­ges Mäd­chen von viel­leicht sech­zehn Jah­ren gewesen.

Im Traum­ver­lauf beglei­tete er beide nach­ein­an­der zu ihren Zie­len: Den Mann ins Ein­kaufs­zen­trum, das Mäd­chen zur Schule. Und dann pas­sierte es: Dort hat der Schwarz­haa­rige um sich geschos­sen, Dut­zende Men­schen getö­tet und eine Schneise der Ver­wüs­tung durch die Pas­sage gezo­gen, bis sein Weg von Opfern gepflas­tert gewe­sen und am Ende vom fina­len Ret­tungs­schuss been­det wor­den ist. Inmit­ten des Schul­ho­fes, wo etli­che Schü­le­rin­nen und Schü­ler, außer­dem die meis­ten der Lehr­kräfte, das son­nige Wet­ter genos­sen hat­ten, sah er dann das Mäd­chen ste­hen. An die­sem beleb­ten Ort hat sie sich in die Luft gesprengt, die Bombe im Ruck­sack dabei. Es sind unzäh­lige Opfer zu sehen gewe­sen und jede Menge Blut. Gabriel hat bei­des mit­er­lebt und erst einen Augen­blick spä­ter erfah­ren, dass es eigent­lich gleich­zei­tig gesche­hen ist. Außer­dem erfuhr er, dass sich die Wege der bei­den Per­so­nen direkt vor eben die­sem Hoch­haus kreu­zen würden.

Dann hörte er eine Stimme und konnte nicht so Recht orten, von wo aus sie mit ihm sprach. In den letz­ten Augen­bli­cken des Trau­mes ver­kün­dete sie, er habe nur noch eine Kugel in der Pis­tole und müsse sich für eine der bei­den Situa­tio­nen ent­schei­den und töten, wen er für gefähr­li­cher hält. Was auch immer er getan hätte, im Traum hat sich das Drama nicht gänz­lich abwen­den las­sen. Doch zumin­dest ein paar der Leben zu ret­ten sollte mög­lich sein. Sein ganz per­sön­li­cher Weg zum Hel­den­tum. Der Beruf des Leh­rers war schon mit Leich­tig­keit ver­wor­fen – und sei alles andere noch so ver­we­gen oder wahn­sin­nig. Nur wenige Augen­bli­cke spä­ter trat Gabriel nun an den Dach­rand, schaute hinab und folgte dem Sekun­den­zei­ger sei­ner Uhr, bis es soweit war: der rich­tige Moment, die Ent­schei­dung, der Schuss. Dann ein plötz­li­cher Knall – und Gabriel erwachte mor­gens in sei­nem Bett.

Doch jetzt ist es Wirk­lich­keit. Er tritt durch die Tür auf das Dach und holt die Pis­tole aus sei­ner Tasche. Obwohl es bis vor weni­gen Stun­den nur ein Traum gewe­sen ist, will er sich dar­auf ein­las­sen. „Was soll’s?“, hat er sich in der ers­ten Sekunde beim Öff­nen sei­ner Augen gefragt, um dar­auf­hin allen Zwei­fel weg­zu­wi­schen und den Traum für wahr zu hal­ten. Es hat sich so wirk­lich ange­fühlt und nun würde er es über­prü­fen. Schritt für Schritt nähert er sich dem Dach­rand, schaut an der Fas­sade her­un­ter und folgt dem Zebra­strei­fen auf die andere Seite. Dort sieht er, von links und von rechts, zwei Per­so­nen auf­tre­ten, die ihm als Ver­kör­pe­rung sei­ner Traum­bil­der erscheinen.
Er ist nun fest ent­schlos­sen, zu han­deln, packt die Pis­tole fes­ter und macht sich bereit. Es würde anders sein als in sei­nem Traum: Wie die Rek­to­rin erklärt hat, sei die Waffe scharf gewe­sen, die Pis­tole gela­den. Er werde meh­rere Kugeln haben und nutz… „Ver­dammt“, ent­fährt es ihm. Das Maga­zin ent­hält nur eine Kugel.

Der Traum ist real bis ins Detail. Nur eine Sekunde, bevor er vor Über­for­de­rung auf die Knie fal­len und damit sei­nen eige­nen Fall ris­kie­ren würde, fasst er sich, fasst seine Gedan­ken und den Ent­schluss, fort­zu­fah­ren. Er schaut nach den bei­den, die unten immer näher kom­men, zielt und will schie­ßen. Uner­fah­ren wie er ist, zählt er die Sekun­den und ver­sucht dabei, alles rich­tig zu machen. Eins, zwei – und Schuss. Ein Fall. Zu Boden.
Es geht alles sehr schnell. Doch das Mäd­chen geht wei­ter und der junge Mann sieht offen­bar gestresst auf eine Liste in sei­ner Hand. Wäh­rend­des­sen steht Gabriel schon selbst nicht mehr. Er ist gefal­len, nach­dem ein Schuss von einem höhe­ren Dach ihn kurz vor sei­ner Ent­schei­dung außer Gefecht gesetzt hat. Dort ist noch immer, leicht ver­mummt, die Sil­hou­ette einer offen­sicht­lich sehr gelas­se­nen Gestalt zu sehen. Die Frau, die sich dahin­ter ver­birgt, schaut einen Moment zu sei­nem fast leb­lo­sen Kör­per, dreht sich dann um und ver­schwin­det durch eine Tür. Ein letz­tes Atmen ent­weicht dem unge­rühm­ten Phy­sik­leh­rer. Unter­des­sen schauen die bei­den Pas­san­ten auf dem Weg sich kurz in die Augen, nicken sich zu und gehen wei­ter – er, mit einem klei­nen Mäd­chen an der Hand, in Rich­tung Kauf­haus, sie, wäh­rend sie eine Nach­richt an eine Freun­din ver­schickt, zu ihrer ehe­ma­li­gen Schule.

Björn Knut­zen

Diese Kurz­ge­schichte ist eine von zwölf, die von Stu­die­ren­den des krea­ti­ven Schrei­bens (Lei­tung: Sönke Busch) an der Uni­ver­si­tät Bre­men geschrie­ben wur­den. Zwei Vor­ga­ben soll­ten dabei erfüllt wer­den: Die Geschich­ten soll­ten auf einem Dach spie­len und eine Pis­tole beinhal­ten. Heute (19.07.15) wur­den die Kurz­ge­schich­ten auf der „Drei Meter Bretter“-Bühne auf der Bre­mi­nale vor­ge­le­sen. Offi­zi­el­ler Hash­tag: #Auf­Dem­D­ach. 

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