Geschichte in kleinen Dosen – Mit Zitaten um die Welt

by Erzähldetektivin Annette

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – „Der Zweck hei­ligt die Mit­tel“ – „Der Staat bin ich“ – „Seit 5.45 wird zurück­ge­schos­sen“ – „Ich bin ein Ber­li­ner“– auch heute sind diese Sätze noch vie­len Lesern geläu­fig. In „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ führt uns Helge Hesse von Tha­les Auf­for­de­rung „Erkenne dich selbst!“ bis zu Mer­kels selbst­be­wuss­tem „Wir schaf­fen das“ in 85 Sät­zen durch fast 3000 Jahre Welt­ge­schichte. Erzähl­de­tek­ti­vin Annette hat sich mit ihm auf die Reise begeben.

Lässt sich die Mensch­heits­ge­schichte auf 85 Zitate her­un­ter­bre­chen? Auf den ers­ten Blick scheint Hes­ses Werk genau dies zu sug­ge­rie­ren. In 85 ein­zel­nen Kapi­teln stellt er ebenso viele Sätze und ihre Bedeu­tung für die his­to­ri­sche Ent­wick­lung vor. Doch wird Welt­ge­schichte wirk­lich von her­aus­ra­gen­den Per­sön­lich­kei­ten geschrie­ben? Wer die Ent­wick­lung der Mensch­heit nur an ein­zel­nen Per­so­nen fest­macht, zeigt eine sehr ver­kürzte Ansicht auf ein unvor­stell­bar kom­ple­xes Zusam­men­spiel der Men­schen aller Epochen.

Doch Hesse benutzt die Sätze und ihre Spre­cher viel­mehr, um in die jewei­lige Epo­che ein­zu­füh­ren. Indem er die Sätze kon­tex­tua­li­siert, gibt er einen detail­rei­chen und inter­es­san­ten Ein­blick in die jewei­lige Zeit und die Men­schen, die in ihr leb­ten. Die Zitate schei­nen die dama­li­gen Ereig­nisse for­mel­haft zusam­men­zu­fas­sen. Hesse macht deut­lich, was Chur­chills „Blut, Schweiß und Trä­nen“ über das Europa des Zwei­ten Welt­kriegs aus­sa­gen oder Luthers titel­ge­ben­des „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ über die Reformation.

Ver­ständ­li­che Kon­tex­tua­li­sie­rung, feh­lende Diversität

Die ein­zel­nen Kapi­tel gehen dabei gelun­gen inein­an­der über, sodass sich ein zusam­men­hän­gen­des Bild der mensch­li­chen Ent­wick­lung ergibt. In den Kon­tex­t­er­klä­run­gen zu den ein­zel­nen Sät­zen flicht Hesse dabei sogar noch wei­tere Zitate und Aus­sprü­che ein, sodass sein Werk selbst über die 85 Sätze hin­aus Lese- und Lern­ver­gnü­gen bie­tet. Ange­regt wird die­ses noch durch die Lite­ra­tur­hin­weise und die umfang­rei­che Biblio­gra­phie, mit deren Hilfe noch tie­fer in ein­zelne his­to­ri­sche Kon­texte ein­ge­drun­gen wer­den kann.

Unter den aus­ge­wähl­ten Spre­chern sind neben gro­ßen Phi­lo­so­phen wie Sokra­tes, Aris­to­te­les, Witt­gen­stein oder Sartre auch Poli­ti­ker, Dik­ta­to­ren, Schrift­stel­ler, Künst­ler ver­tre­ten – aber auch Micro­soft-Grün­der Bill Gates oder Mar­quise de Pom­pa­dour, eine Mätresse des fran­zö­si­schen Königs Lud­wig XV. Beson­ders span­nend liest sich das Kapi­tel über Imma­nuel Kant, einen der wohl wirk­mäch­tigs­ten abend­län­di­schen Den­ker. Die Frage „Was ist Auf­klä­rung“ beant­wor­tet die­ser in einem Satz: „Auf­klä­rung ist der Aus­gang des Men­schen aus sei­ner selbst ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit.“ In sei­nem Schaf­fen ver­bin­det Kant wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nisse mit mora­li­schen Über­le­gun­gen und bringt bis dahin schein­bar kon­träre phi­lo­so­phi­sche Ansich­ten in Ein­klang mit­ein­an­der. Die Quint­essenz die­ses gro­ßen Den­kers weiß Hesse auf sechs Sei­ten auch für Laien ver­ständ­lich zusammenzufassen.

Ins­ge­samt macht die Kom­pakt­heit von Hes­ses Aus­füh­run­gen bei einer gleich­zei­tig auch für Nicht-His­to­ri­ker, ‑Phi­lo­so­phen oder ‑Kul­tur­wis­sen­schaft­ler ver­ständ­li­chen Kon­tex­tua­li­sie­rung die große Stärke des Buches aus. Hes­ses Werk ist als ver­gnüg­li­che Bett­lek­türe ebenso geeig­net wie als wis­sen­schaft­li­ches Nach­schla­ge­werk zu ein­zel­nen Epi­so­den der Mensch­heits­ge­schichte. Zu kri­ti­sie­ren bleibt jedoch die starke Domi­nanz west­li­cher Den­ker und auch Frauen sind mit einem Ver­hält­nis von 5 zu 85 unter­durch­schnitt­lich oft ver­tre­ten. Selbst ein dezi­diert per­so­nen­be­zo­ge­ner Blick auf die Geschichte dürfte etwas mehr Diver­si­tät zulassen.

„Kön­nen wir das schaf­fen?“ – „Ja, wir schaf­fen das!“

Letzt­end­lich gelingt Hesse jedoch ein facet­ten­rei­cher und inter­es­san­ter his­to­ri­scher Abriss, der sich kurz­wei­lig und unter­halt­sam liest. Dabei schil­dert er die Ereig­nisse und his­to­ri­schen Kon­texte wei­test­ge­hend neu­tral. Doch spä­tes­tens mit sei­nen aus­ge­spro­chen posi­ti­ven Aus­füh­run­gen zu Mer­kels „Wir schaf­fen das“ zeigt auch Hesse die eigene poli­ti­sche und mora­li­sche Ein­stel­lung. So endet die phi­lo­so­phi­sche, gesell­schafts­po­li­ti­sche und kul­tu­relle Reise durch fast 3000 Jahre Mensch­heits­ge­schichte mit einem hoff­nungs­vol­len Appell: „Es ist an den Men­schen in den Gesell­schaf­ten der freien Welt, den Auf­for­de­rungs­cha­rak­ter der Worte ‚Wir schaf­fen das‘ anzu­neh­men.“ In die­sem Sinne: „I have a dream!“

Hier stehe ich, ich kann nicht anders – In 85 Sät­zen durch die Welt­ge­schichte. Helge Hesse. Piper. 2016.

Ein Bei­trag zum Spe­cial #phi­lo­so­phie­stadt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

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