Henning Scherf im Interview

by Bücherstädterin Rosi

„Für viele gilt: so wie wir gelebt haben, so ster­ben wir auch.“

Viele Lese­rin­nen und Leser ken­nen Hen­ning Scherf als auf­rech­ten und enga­gier­ten Poli­ti­ker in Bre­men. Nach sei­nem Rück­zug aus der akti­ven Poli­tik setzt er sich seit eini­gen Jah­ren mit dem Thema Alter und alt wer­den aus­ein­an­der. Mitt­ler­weile hat er in die­sem Kon­text zu vie­len Fra­gen Stel­lung bezo­gen und bereits einige bemer­kens­werte Bücher geschrie­ben. Als Geron­to­lo­gin hat Buch­schatz­meis­te­rin Rosi ein beson­de­res Inter­esse an sei­nen Ant­wor­ten. Sie durfte Hen­ning Scherf zu sei­nem jüngs­ten Werk „Das letzte Tabu“ befragen.

BK: Wie kann ein wür­de­vol­les und gelun­ge­nes Ster­ben aus­se­hen? Geht ein „wür­de­vol­les und gelun­ge­nes Altern“ damit einher?

HS: Für viele gilt: so wie wir gelebt haben, so ster­ben wir auch. Es ist daher sehr viel­fäl­tig, wie ein wür­de­vol­les Ster­ben gelin­gen kann. Hilf­reich ist, wenn der Ster­bende selbst ent­schei­det, was mit ihm gesche­hen soll.

BK: Wie kann ein „gutes Ster­ben“ trotz wid­ri­ger Umstände gelin­gen? Was macht „rich­ti­ges Ster­ben“ aus?

HS: Ich wün­sche mir, da ster­ben zu dür­fen, wo ich gelebt habe, beglei­tet von Men­schen, die mich in mei­ner Not nicht allein las­sen. Und ich wün­sche mir einen barm­her­zi­gen Pal­lia­tiv-Medi­zi­ner, der mich meine letz­ten Tage ertra­gen lässt.

BK: Kann unser Gesund­heits­sys­tem hel­fen, dass der Ster­be­pro­zess und das Ster­ben gut gelin­gen? Was muss sich ändern?

HS: Es gibt inzwi­schen über 100.000 frei­wil­lige Hos­piz­hel­fer, die meis­ten sind ambu­lant unter­wegs. Eine Hoff­nung auf Bes­se­rung bie­tet auch die in den letz­ten Jah­ren stark aus­ge­brei­tete Palliativmedizin.

BK: Wie ist es zu ver­ste­hen, dass wir alle im Ster­ben „lebens­be­ja­hend“ sind, wo das Ster­ben und der Tod doch so end­gül­tig sind?

HS: Wer schon ein­mal Ster­be­be­glei­tung erlebt hat, weiß, dass es bis zuletzt um Leben, oft sogar um inten­si­ves Leben geht. Ich sel­ber habe dabei unver­gess­li­che, mein Leben berei­chernde Erfah­run­gen gemacht.

BK: Sie for­dern mehr „Selbst­be­stim­mung der Ster­ben­den“. Wer­den der Ster­be­pro­zess und das Ster­ben dadurch erleichtert?

HS: Ja.

BK: Glau­ben Sie, dass wir durch die Medien so sehr mit dem Thema Tod über­sät­tigt sind, dass wir dar­über hin­aus mög­lichst wenig mit dem Thema zu tun haben wollen?

HS: Nein. Das Gegen­teil ist rich­tig. Die Medien haben eine große Öffent­lich­keit sen­si­bi­li­siert. Immer mehr Men­schen wol­len das alte Tabu über­win­den. Sie suchen nach eige­nen Antworten.

BK: Wie kann es unse­rer Gesell­schaft gelin­gen, das Ster­ben und den Tod nicht wie bis­her zu ver­drän­gen und aus­zu­klam­mern? Wie kann eine gelun­gene „Ster­be­kul­tur“ heute und in Zukunft aussehen?

HS: Wir müs­sen näher zusam­men­rü­cken, um nicht in bedrü­cken­der Not allein zu sein. Es ist eine zen­trale Auf­gabe der Zivil­ge­sell­schaft in Zei­ten der Glo­ba­li­sie­rung ver­ant­wort­li­ches Han­deln der Men­schen unter­ein­an­der auch und gerade in Grenz­erfah­run­gen zu stärken.

BK: Viele Men­schen sehen in der Ster­be­hilfe eine gute Mög­lich­keit, ihr Leben „selbst­be­stimmt“ zu been­den. Was sagen Sie dazu?

HS: Das ist oft Aus­druck von Allein­ge­las­sen sein und von Hilf­lo­sig­keit. Wer Zugang zur Pal­lia­tiv­me­di­zin und zur Hos­piz­ar­beit hat, fragt nicht nach Suizidmöglichkeiten.

BK: Sie sind voll des Lobes für die Hos­piz­be­we­gung. Aber: Wenn Men­schen im Hos­piz verster­ben, sind sie dann nicht ähn­lich „abge­scho­ben“ wie Men­schen, die im Kran­ken­haus sterben?

HS: Ich kenne nur Hos­piz­an­ge­bote, die das Gegen­teil von Abge­scho­ben­heit sind. Hier geht es um Zuwen­dung, um Bei­stand. Es ist ein Segen, dass es diese Mög­lich­kei­ten gibt.

BK: Was muss sich in unse­rer Gesell­schaft ändern, damit Men­schen nicht mehr alleine ster­ben müs­sen, son­dern wie­der im Kreis ihrer Fami­lie aus dem Leben schei­den können?

HS: Es gibt auch heute Fami­lien, die ster­bende Fami­li­en­an­ge­hö­rige in ihrer Mitte hal­ten. Wenn das nicht mög­lich ist, müs­sen Ersatz­an­ge­bote wie Hos­pize her. Wir müs­sen, jeder auf seine Weise, immer wie­der ein­üben, dass wir die, mit denen wir unser Leben geteilt haben, dann nicht allein las­sen, wenn es ihnen schlecht geht.

BK: Was macht Ihrer Mei­nung nach eine gelun­gene Ster­be­be­glei­tung aus?

HS: Ster­be­be­glei­tung ist eine tief­grei­fende mensch­li­che Erfah­rung, die unse­ren Blick, unser Selbst­ver­ständ­nis in einer unüber­sicht­li­chen Welt auf den Kern, den Sinn unse­res Lebens lenkt. Und wenn dann noch pro­fes­sio­nelle Hilfe der Pal­lia­tiv­me­di­zin erreich­bar ist, dann ist das Abschied­neh­men ein Trost.

BK: Die Trau­er­ri­tuale haben sich in den letz­ten Jah­ren sehr ver­än­dert. Sie wer­den immer indi­vi­du­el­ler. Geht nicht die Würde des Ver­stor­be­nen ver­lo­ren, wenn das Ritual bei der Trau­er­feier zu sehr indi­vi­dua­li­siert wird?

HS: In ers­ter Linie geht es bei Trau­er­fei­ern um die Anwe­sen­den. Ihnen eine Hilfe zum Trau­ern, zum Abschied­neh­men zu bie­ten, ist wich­tig für die so not­wen­dige Erin­ne­rung an den Verstorbenen.

Das Buch:

Ster­ben, Ster­be­pro­zess, Ster­be­be­glei­tung, Abschied­neh­men – diese und wei­tere Schlag­wör­ter beschrei­ben cha­rak­te­ris­tisch den Inhalt des Buches „Das letzte Tabu“ von Hen­ning Scherf und Anne­lie Keil. Dies ist kein Buch der leich­ten Lek­türe: viel­mehr regt es zur Aus­ein­an­der­set­zung mit und zum Nach­den­ken über das Ende des Lebens an. Für alle, die an der erns­ten The­ma­tik inter­es­siert sind, ein lesens­wer­tes und bemer­kens­wer­tes Buch.

Das letzte Tabu. Anne­lie Keil, Hen­ning Scherf. Her­der. 2016.

Foto: Tris­tan Vankann

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