Kein (schlechtes) Tagebuch

by Seitenkünstler Aaron

Über 90% der nie­der­län­di­schen Kin­der wach­sen mit nur einem Eltern­teil auf. Diese Zahl ist natür­lich frei erfun­den, aber zumin­dest für den jugend­li­chen Prot­ago­nis­ten Bou­de­wijn ist sie die volle Wahr­heit. – Von Sei­ten­künst­ler Aaron

„Das hier ist kein Tage­buch“ gibt einen Ein­blick in das Innen­le­ben einer klei­nen Fami­lie, die den Ver­lust eines Fami­li­en­mit­glieds ver­ar­bei­ten muss. Vier Jahre nach dem Frei­tod der Mut­ter wird die über­schau­bare Haupt­hand­lung aus den Augen des sech­zehn­jäh­ri­gen Soh­nes Bou­de­wijn „Bou“ beschrie­ben. Die­ser schreibt auf Anwei­sung sei­nes Vaters nie­der, was ihm durch den Kopf geht. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Bou als Junge eine Art Tage­buch schrei­ben soll, bekommt er zusätz­lich die Auf­gabe, jeden Tag Musik zu hören. Die Medi­ka­tion aus christ­li­cher Kir­chen­mu­sik und Schreibthe­ra­pie füh­ren in einem lang­wie­ri­gen Pro­zess zur Lösung der unsicht­ba­ren Schleife aus wie­der­keh­ren­den Depres­sio­nen, in der Bou gefan­gen ist.

Chao­ti­sches Erzählen

Wie bei einem Tage­buch glie­dert sich der Text in ein­zelne, unter­schied­lich lange und chro­no­lo­gisch gereihte Ein­träge. Die schrift­lich fixier­ten Erin­ne­run­gen hin­ge­gen ent­beh­ren einer inhalt­li­chen Ord­nung. Dadurch erschließt sich die frag­men­tierte Geschichte nicht auf Anhieb. Zusam­men­hänge las­sen sich wäh­rend der Lek­türe nur all­mäh­lich erken­nen und stel­len die Lesen­den somit vor ein Rät­sel. Die chao­ti­sche Form passt sehr gut zum Inhalt, denn der Ich-Erzäh­ler ist eben­falls unzu­ver­läs­sig. Sei­nem Alter und depres­si­ven Zustand ent­spre­chend, wech­selt die Spra­che vom Umgangs­sprach­li­chen zu Aus­brü­chen in nahezu vul­gä­rem Ton. Dies über­rascht an eini­gen Stel­len und kann als stö­rend emp­fun­den wer­den, bie­tet aber auch Abwechs­lung von der ansons­ten nüch­ter­nen Erzählweise.

Bou berich­tet über­wie­gend von Strei­te­reien, sei­nen Grü­be­leien und depres­si­ven Schü­ben. Doch wie in vie­len Jugend­bü­chern gibt es auch in „Das hier ist kein Tage­buch“ eine Romanze, die einen Licht­blick für den Prot­ago­nis­ten dar­stellt. Die Freund­schaft mit der Mit­schü­le­rin Pau­line ent­wi­ckelt sich jedoch nicht wie in jeder belie­bi­gen Lie­bes­ge­schichte. So könnte jemand wie Bou behaup­ten, dies sei keine Romanze, und dabei Recht behal­ten. Ähn­lich steht es auch mit dem Titel, denn es han­delt sich bei die­sem Buch tat­säch­lich nur auf den ers­ten Blick um ein Tage­buch. Kleine Hin­weise in der wört­li­chen Rede las­sen ver­mu­ten, dass das Heft, in dem Bou schreibt, nicht mit dem Buch gleich­zu­set­zen ist.

Jugend­li­cher Pes­si­mis­mus und Gesellschaftskritik

Das Thema der Depres­sion und ihrer The­ra­pie wird in einer ange­mes­se­nen, von der Norm abwei­chen­den, Erzähl­weise behan­delt. Die Gedan­ken des Prot­ago­nis­ten sind sel­ten ver­nünf­tig und über­schrei­ten zum Teil Gren­zen des Poli­tisch-Kor­rek­ten. Pro­vo­kant und frag­wür­dig sind dabei Text­stel­len (S. 126 f., S. 137 ff., S. 150 f.), in denen migra­ti­ons­po­li­ti­sche The­men unre­flek­tiert, ja sogar frem­den­feind­lich, ange­ris­sen wer­den. Die Ver­knüp­fung von jugend­li­chem Pes­si­mis­mus und Gesell­schafts­kri­tik erscheint plau­si­bel, doch klin­gen auch einige andere Aus­sa­gen, etwa zur Fami­li­en­pla­nung, nicht nach dem sech­zehn­jäh­ri­gen Bou, son­dern eher nach einer älte­ren Frau, mög­li­cher­weise der Autorin. Dar­un­ter lei­det die Authen­ti­zi­tät der jugend­li­chen Haupt­fi­gur, somit des Ich-Erzäh­lers und der gesam­ten Geschichte. Das sorg­fäl­tige Lay­out passt Schrift­form und Satz her­vor­ra­gend an die trans­por­tier­ten Emo­tio­nen an, kann aber nicht den beleh­ren­den Unter­ton in Sas­sens Werk verwischen.

Depres­sive Stimmung

Es lässt sich erah­nen, wes­we­gen der anthro­po­so­phi­sche Ver­lag Freies Geis­tes­le­ben für die Über­set­zung und Ver­le­gung des ursprüng­lich 2010 in Ams­ter­dam erschie­ne­nen Buches ent­schied: Mit fort­lau­fen­den Bezü­gen zu Musik­stü­cken wie dem „Sta­bat Mater dolo­rosa“ wird eine bedeu­tungs­schwan­gere, christ­li­che Heils­mo­ti­vik auf­ge­baut. Dies passt zwar zum Schick­sal der Fami­lie, aber wohl kaum zum All­tag eines Sechzehnjährigen.

Bes­ser gelingt die Dar­stel­lung der all­täg­li­chen, depres­si­ven Stim­mung und wie der Prot­ago­nist damit umgeht. Letz­te­res macht das schnell gele­sene Buch aus, des­sen Stärke darin gese­hen wer­den kann, wie es anor­ma­les Ver­hal­ten nicht ver­ur­teilt, son­dern als Teil des Lebens beschreibt. Damit ist es emp­feh­lens­wert für alle, die der Welt hin­ter den Sei­ten mal ohne Traum und Phan­tas­tik begeg­nen wol­len. Auf­grund der teil­weise vul­gä­ren Spra­che und der depri­mie­ren­den The­ma­tik eig­net sich das Buch eher nicht für Kin­der unter 12 Jahren.

Das hier ist kein Tage­buch. Erna Sas­sen. Über­set­zung: Rolf Erdorf. Ver­lag Freies Geis­tes­le­ben. 2015.

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