Kleines Wesen besonders schlau

by Bücherstadt Kurier

Darf ich mich vor­stel­len? Ich heiße Chan­tal und wurde als gol­di­ger April­scherz in einer Pfer­de­box im Huns­rück gebo­ren. Dum­mer­weise kün­digte mir meine Mama ihre warme Bauch­woh­nung an einem äußerst unge­müt­li­chen Aprilm­or­gen. Ich ver­mute, dass es mit mei­nen Turn­übun­gen in ihrem Bauch zusam­men­hängt. Ich habe ver­mut­lich ein wenig über­trie­ben. Auf jeden Fall wurde ich von ihr ein­fach vor die Tür gesetzt. Ich hatte kei­ner­lei Chan­cen. Meine Mut­ter presste und drückte mich aus mei­nem woh­li­gen Zuhause ... und auf ein­mal lag ich in einem Berg aus Stroh.
Da liege ich nun völ­lig hilf­los mit nas­sem, ver­kleb­tem Fell. Ich ver­su­che, mühe­voll die Augen zu öff­nen. Oh, es klappt. Aber, oh Schreck, was ist das denn für ein unheim­li­cher Kopf?
„Keine Angst, kleine Prin­zes­sin! Ich bin es, deine Mut­ter“, flüs­tert mir eine sanfte Stimme ins Ohr.
Aha, also kein gefähr­li­ches Unge­tüm, son­dern meine Mama! Stimmt, ein Mons­ter könnte mich unmög­lich so wun­der­voll mit sei­ner rauen Zunge tro­cken lecken. Es scheint, als habe Frau Mama ein schlech­tes Gewis­sen, wegen des Wohnungsrauswurfs.
Da will ich mal nicht nach­tra­gend sein. Oh, wie ange­nehm, ich könnte ewig so lie­gen. Wäh­rend des lie­be­vol­len Krau­lens schaue ich mich neu­gie­rig um. Es gibt wahn­sin­nig viel zu ent­de­cken. Als ers­tes beob­achte ich meine Mama genau. Wow, ist sie wun­der­schön. Ihr Fell ist dun­kel­braun und ihre Mähne lang und dick, ihre zarte Stimm­lage hört sich an wie Musik.
Kaum ist mein Ted­dy­fell tro­cken, drin­gen aus mei­nem Bauch komi­sche Geräu­sche. Was ist los mit mir?
Erneut höre ich die samt­wei­che Stimme mei­ner Mama: „Chan­tal, es wird Zeit, dass du auf­stehst. Du hast Hun­ger und musst unbe­dingt etwas Milch trin­ken. Ver­su­che es mal!“
Sanft stupst sie mich mit ihren wei­chen Nüs­tern an. Kann mir einer ver­ra­ten, wie ich mich mit so lan­gen Bei­nen zum Ste­hen kom­men kann? Müh­sam und toll­pat­schig ver­su­che ich zum Ste­hen zu kom­men. Es ist gar nicht so ein­fach. Immer wie­der rut­schen meine Hufen aus­ein­der und ich liege wie­der im Stroh.
Und dann stehe ich auf mei­nen wack­li­gen und zitt­ri­gen Glie­dern. Aber wo gibt es hier etwas zu trin­ken? Lang­sam begebe ich mich auf die Suche nach der Milch­bar. Man, ist mein Foh­len­le­ben anstren­gend. Ich will wie­der zurück in Mamas Bauch, dort ist es kusche­lig, ange­nehm bequem und das Essen wird auch geliefert!
Oh, da ist ja die Milch­quelle. Mhm, schmeckt das lecker. Oh man, das Trin­ken macht wirk­lich müde! Glaube, ich lege mich für einen Moment hin. Kaum liege ich im Stroh, bin ich auch schon eingeschlafen.
Nach mei­nem Schläf­chen räkle ich mich genüss­lich im Stroh und wache lang­sam auf. Mein Blick fällt auf komisch aus­se­hende Wesen.
„Mama, was steht da vorn und starrt uns so an?“, erkun­dige ich mich bei mei­ner Beschützerin.
„Chan­tal, das sind Men­schen. Sie freuen sich, dass du gesund und putz­mun­ter auf die Welt gekom­men bist.“
„Woher wis­sen die von mei­nem Bauch­woh­nungs­raus­wurf?“, frage ich irritiert.
„Ach, Kleines,ich habe dich doch nicht raus­ge­wor­fen, die Natur gibt das so vor. Für dich beginnt nun ein schö­nes Pfer­de­le­ben außer­halb mei­nes Kör­pers. Du wirst täg­lich ein wenig wach­sen und eine Unmenge inter­es­san­ter Dinge ler­nen und erle­ben“, klärt mich Mama auf.
Vom vie­len Zuhö­ren bin ich schon wie­der hung­rig. Dies­mal klappt das Auf­ste­hen und das Trin­ken bereits bes­ser. Die Milch ist lau­warm und schmeckt köstlich.
Bevor ich mein Leben wei­ter genieße, werde ich erst ein­mal ein wei­te­res Nicker­chen machen. Gute Nacht und bis später!

Die nächs­ten Tage bin ich damit beschäf­tigt: Leckere Foh­len­milch zu trin­ken, meine Beine zu trai­nie­ren und wiss­be­gie­rig meine Umge­bung zu erkunden.
Wie schaf­fen es die Men­schen, dass sie nur auf zwei Bei­nen ste­hen und lau­fen kön­nen? Ich finde es mit vier Bei­nen schon schwer genug.
Es ist amü­sant, wie die Men­schen vor mei­ner Box ste­hen und Mama und mich bewun­dern. In die­sen Momen­ten der Beob­ach­tung gebe ich mich beson­ders vor­nehm. Dann stol­ziere ich durch die Box mit erho­be­nen Kopf, schaue die Besu­cher mit einem zucker­sü­ßen Blick an und bewege mei­nen flau­schi­gen Schweif hin und her. An mein ted­dy­wei­ches Fell lasse ich jedoch nie­man­den, außer Mama natür­lich. Sobald mich jemand anfas­sen möchte, eile ich zu mei­ner Beschützerin.
Mama hat recht, ich wachse jeden Tag ein klein wenig. Mitt­ler­weile bin ich mutig gewor­den. Von sym­pa­thi­schen Men­schen lasse ich mich mitt­ler­weile anfas­sen, aber nur, wenn meine Mama in der Nähe ist. Sicher ist sicher.
Das Leben ist wahn­sin­nig auf­re­gend. Jeden Tag ent­de­cke ich neue Dinge. So habe ich fest­ge­stellt, dass Mama und ich nicht die ein­zi­gen Pferde hier auf dem Hof sind. Lei­der habe ich unsere Kame­ra­den noch nicht ken­nen­ge­lernt. Wir ste­hen in einer Stu­ten- & Foh­len­box, etwas abseits von den ande­ren, damit ich mich lang­sam an alles gewöh­nen kann. Men­schen kön­nen ja so nett sein.

So, ver­ge­hen Wochen und Monate ... das Wet­ter ist jetzt so herr­lich. Vor ein paar Tagen durfte ich bereits mit auf die Kop­pel. Das macht rie­si­gen Spaß. Stun­den­lang tobe ich dann auf einer traum­haft schö­nen Wiese umher.
Mein Foh­len­le­ben ist groß­ar­tig. Meine Mama hat mir erklärt, dass unsere Besit­zer nett und für­sorg­lich zu uns sind. Das heißt, sie sor­gen für aus­rei­chend Fut­ter, einen sau­be­ren Stall, für Bewe­gung und bei Bedarf rufen sie den Tierarzt.
Ich bin nicht schlau genug, um dies beur­tei­len zu kön­nen. Mitt­ler­weile sind wir in die große Stall­gasse umge­zo­gen. Hier gibt es herr­lich viel zu sehen. In unse­rer Nach­bar­box steht eine Schim­mel­stute namens Emma. Wenn das alles stimmt, was sie mir erzählt, dann kann ein Pfer­de­le­ben sehr scheuß­lich sein. Bevor Emma zu uns in den Stall kam, war ihr Leben erbärm­lich. Ihre Besit­zer und Reit­be­tei­li­gun­gen schau­ten nur gele­gent­lich nach ihr. Die meiste Zeit stand sie in einer viel zu klei­nen Box, die nur sel­ten gemis­tet wurde. Die Luft dort war sti­ckig und es gab nur wenig Tages­licht. Wenn jemand zu Emma kam, wurde sie stun­den­lang durchs Gelände gejagt. Egal wie die Wege aus­sa­hen, Emma musste stän­dig galop­pie­ren. Tage danach litt sie noch unter Mus­kel­ka­ter und die Gelenke schmerz­ten. Ist das nicht schreck­lich, hof­fent­lich kann ich für immer hier auf dem Hof blei­ben. Ich glaube, jetzt ver­stehe ich, was Mama meint, dass wir nette Besit­zer haben.
Mitt­ler­weile ist Emma eine glück­li­che Stute. Ihre neuen Besit­zer sind sehr für­sorg­lich. Regel­mä­ßige und abwechs­lungs­rei­che Bewe­gung, sowie Well­ness­pro­gramme gehö­ren jetzt zu ihrem All­tag. Aus Dank­bar­keit und Freude begrüßt sie ihre Men­schen jedes Mal mit einem fröh­li­chen Wie­hern. Auch sonst ver­sucht Emma, ihren Eigen­tü­mer immer eine Freude zu machen. Unter dem Sat­tel ver­hält sie sich vor­bild­lich, nie würde sie etwas tun, was ihren Rei­ter in Gefahr brin­gen würde.
Mit Emma darf ich fast täg­lich auf die Kop­pel zum Toben und Spie­len. Ach, das Leben ist so schön. Heute waren wir beson­ders lange auf der Weide. Emma, Mama und ich haben aus­gie­big getobt, uns im Bach herr­lich erfrischt und viel vom saf­ti­gen Gras gefressen.
Am Abend klagt meine Freun­din: „Oh, mein Bauch tut so weh!“
Emma ist total unru­hig, legt sich hin und steht wie­der auf, ihr Fell ist nass geschwitzt. Das kann doch nicht nor­mal sein.
„Mama schau, Emma geht es schlecht. Wie kön­nen wir ihr hel­fen?“, frage ich besorgt. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, so ein Mist. Aber meine schlaue Mama hat eine Idee:
„Wir wer­den ver­su­chen, die Men­schen durch Lärm auf uns auf­merk­sam zu machen. Sie braucht unbe­dingt einen Tier­arzt. Lass uns laut und schrill wie­hern, ich trete zusätz­lich gegen die Boxen­wand. Hof­fent­lich hört uns jemand“, erwi­dert meine Mama.
Nach einer gefühl­ten Ewig­keit kom­men end­lich Men­schen zu uns in den Stall. Zum Glück erken­nen sie, dass Emma drin­gend Hilfe benö­tigt. Bis zum Ein­tref­fen des Tier­arz­tes wird die Stute von ihnen geführt.
Als Emma ihre Box ver­lässt, schaut sie dank­bar zu uns her­über und meint: „Danke, ich denke, bald geht es mir wie­der besser.“
Der her­bei geru­fene Arzt unter­sucht meine Kame­ra­din und hilft ihr. Sie bekommt eine Spritze und wird wei­ter­hin im Schritt geführt. Außer­dem hat sie bis zum nächs­ten Tag abso­lu­tes Fressverbot.
Ich bin so froh, dass es mei­ner Stu­ten­freun­din bald wie­der gut gehen wird. Jetzt weiß ich, was es bedeu­tet, wenn Pfer­de­freunde für­sorg­lich sind.
Zum Glück ist nicht jeder Tag so auf­re­gend wie der heu­tige. Ich wün­sche uns Pfer­den und allen ande­ren Lebe­we­sen nur nette und freund­li­che Men­schen. Wir Tiere, egal wel­cher Rasse und Größe, haben eine Seele und einen Kör­per, die art­ge­recht, lie­be­voll und respekt­voll behan­delt wer­den möchte.
Okay, ich bin ehr­lich, diese Weis­heit stammt unmög­lich von mir, son­dern von mei­ner Mama. Sie hat es mir solange foh­len­ge­recht erklärt, bis ich es ver­stan­den habe. Sie ist der Mei­nung, dass man nicht früh genug ler­nen kann, dass man alle Lebe­we­sen respekt­voll behan­deln soll.
Nach so einem auf­re­gen­den, lehr­rei­chen und anstren­gen­den Tag brau­che ich jetzt mei­nen wohl­ver­dien­ten Schlaf. Bevor ich ein­schlafe, kuschle ich mich gemüt­lich in mein sau­be­res Stroh­bett. Es ist so schön zu wis­sen, dass meine Mama bei mir ist und auf mich auf­passt. Ich bin gespannt, was ich heute träu­men werde ...

Oh, ist es herr­lich hier. Eine rie­sen­große Steppe wird von einer irr­sin­nig gro­ßen Pfer­de­herde bewohnt. Es gibt kei­ner­lei Ein­zäu­nun­gen, dafür jedoch wun­der­volle Wäl­der, Bäche mit kla­rem und küh­lem Was­ser, Hügel und vie­len mehr – ist dies das Pferdeparadies?
Die Herde besteht aus den unter­schied­lichs­ten Alters­stu­fen. Ich tobe aus­ge­las­sen mit ande­ren Foh­len­freun­den umher. Wir las­sen uns nass reg­nen, wäl­zen uns im Sand und ärgern unsere Mütter.
Unter uns Foh­len gibt es ein total süßes Hengst­foh­len. Er ist wun­der­hübsch, und hat einen durch­trai­nier­ten Kör­per. Sein Fell schim­mert wie Gold, der Gesichts­aus­druck ist so niedlich.
Ich glaube, ich bin ver­liebt. Wir ver­ste­cken uns im Wald, krau­len uns gegen­sei­tig die Mäh­nen und reden viel mit­ein­an­der. Beson­ders gerne spot­ten wir über die ande­ren Foh­len. Das muss jedoch unter uns blei­ben, sonst bekom­men wir Ärger mit unse­ren Müt­tern. Anschlie­ßend toben wir erneut, baden im Sand und las­sen uns das leckere Step­pen­gras schmecken.
So ein Leben als Wild­pferd ist herr­lich. Ich bin mir sicher, mein Traum­hengst wird spä­ter die Leit­po­si­tion unse­rer Herde über­neh­men. Er wird mich beschüt­zen und allen ande­ren Stu­ten vor­zie­hen. Ich freue mich auf diese Zeit ...
Hey, wer stupst mich denn da an? Was soll das? Ich öffne die Augen und schaue irri­tiert umher. Habe ich dies etwa nur geträumt?
Als ich rich­tig wach bin, schwärme ich von mei­nem fas­zi­nier­ten Traum. Mit vol­ler Über­zeu­gung erkläre ich: „So wird mein Leben aus­se­hen, sobald ich erwach­sen bin.“
Mama lächelt amü­siert. Doch ich bin mir sicher, dass der Wunsch­traum in Erfül­lung geht. Ich „Chan­tal“ werde mit dem gut­aus­se­hen­den zukünf­ti­gen Leit­hengst über weite Wie­sen toben und viele nied­li­che Foh­len bekommen.
Meine Mut­ter wider­spricht: „Süße, so kann dein Lebens­traum nicht aus­se­hen. Solch eine Steppe wirst du nir­gends fin­den. Die Gebur­ten von uns Pfer­den wer­den geplant, so etwas nennt man Zucht. In der Wild­nis gibt es weder Tier­arzt noch Huf­schmied. Das Fut­ter muss man selbst suchen und lange Wege dafür zurück­le­gen. Ältere und kranke Tiere ster­ben, weil sie in der Natur keine Über­le­bens­chance haben. Ich bin froh, hier leben zu dürfen.“
„Woher weist du das? Hast du schon ein­mal ver­sucht, die Steppe zu fin­den?“, frage ich zweifelnd.
„Nein, das habe ich noch nicht ...“
Ich unter­bre­che meine Mut­ter ver­är­gert: „Wenn du nie nach ihr gesucht hast, kannst du nicht wis­sen, ob sie exis­tiert. Ich werde sie solange suchen, bis ich sie entdecke!“
Ich beende das Gespräch und wende mich ab. Im tiefs­ten Inne­ren hoffe ich instän­dig, dass meine Mut­ter nur die­ses eine Mal im Unrecht ist und mein Traum tat­säch­lich in Erfül­lung geht!

ENDE

Die Autorin

Susanne Horn ist eine Autorin mit Han­di­cap. Gerade ihre Lese- Recht­schreib­schwä­che moti­viert sie, Geschich­ten zu schrei­ben, um ihren Mit­men­schen Mut zu machen und ihre Träume zu leben. Bist du neu­gie­rig gewor­den? Wenn ja, stö­bere ein wenig auf ihrer Home­page www​.susan​ne​horn​.jimdo​.com umher.

Ein Bei­trag zum Pro­jekt #lit­kin­der. Hier fin­det ihr alle Beiträge.

Foto: Sei­ten­künst­ler Aaron, Illus­tra­tion: Buch­stap­le­rin Maike

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1 comment

Marie 28. Juni 2017 - 15:05

Ich liebe Pferdegeschichten 

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