Krieg und die Welt

by Bücherstadt Kurier

Der vier­tei­lige his­to­ri­sche Roman des rus­si­schen Schrift­stel­lers Leo Tol­stoi (1828−1910) erschien 1869 und erlangte schon zu sei­nen Leb­zei­ten Welt­ruhm. Heute zählt der Epos, der im rus­si­schen Ori­gi­nal den weit­aus pas­sen­de­ren Titel „Krieg und die Welt“ trägt, zu den bedeu­tends­ten Wer­ken der Weltliteratur. 

Die Napo­leo­ni­schen Kriege zwi­schen 1805 und 1812 bil­den Rah­men und his­to­ri­sche Grund­lage, auf wel­che die Gesell­schaft des rus­si­schen Adels, ein­zelne Cha­rak­tere und Herz­ens­emp­fin­dun­gen nach­ein­an­der Schicht für Schicht auf­ein­an­der gelegt wer­den, bis ein impo­san­tes Por­trait entsteht.

1805. Die Fami­lien Ros­tow und Bol­kon­ski bil­den den Kern des Romans. Gesell­schaf­ten, Bälle, Intri­gen unter­hal­ten die obere Schicht. Die Toch­ter Nata­scha Ros­tow hat im zar­ten Alter von vier­zehn Jah­ren noch keine Liebe erfah­ren, koket­tiert mit Hei­rats­an­wär­tern und strahlt eine Lebens­fri­sche und Her­zens­güte aus, die sie auf­grund des Kon­tras­tes zu den ande­ren Figu­ren schon früh zu einem der Haupt­cha­rak­tere avan­cie­ren lässt. Ihre Cou­sine Sonja wurde als Kind ins Haus auf­ge­nom­men und ist ihre untrenn­bar zweite Hälfte. Beide ver­spre­chen sie sich jun­gen Män­nern, die nun in den Krieg zie­hen – die Schlacht bei Austerlitz.
Der junge Fürst Andrej Bol­kon­ski ist in sei­ner Ehe mit sei­ner schwan­ge­ren Frau Lisa nicht glück­lich und zieht ebenso in den Krieg. Andrej und sein noch ori­en­tie­rungs­lo­ser Freund Pierre Besuchow zei­gen schon zu Beginn, dass sie sich auf­grund des Tief­gangs und der Anders­ar­tig­keit ihrer Gedan­ken­gänge vom ober­fläch­li­chen Adels­mi­leu abheben.

„Was recht und was unrecht ist, das zu beur­tei­len ist dem Men­schen nicht gege­ben. Die Men­schen haben von jeher geirrt und wer­den immer irren, und in kei­nem Punkt mehr als in Bezug auf das, was sie für recht und unrecht halten.“

Graf Pierre Besuchow hat geerbt und hei­ra­tet die schöne, jedoch sub­stanz­lose Hélène Kura­gina, die der Inbe­griff des ober­fläch­li­chen, intri­gan­ten Adels zu sym­bo­li­sie­ren scheint. Schwer ver­letzt und von Napo­leon begna­digt kehrt Andrej heim und erlebt die Geburt sei­nes Soh­nes mit, wäh­rend seine Frau stirbt. Fortan lebt er zurück­ge­zo­gen und wid­met sich den Gütern sei­nes Vaters, auf wel­chem er Nata­scha begegnet.
1809. Andrej hält um die Hand der sech­zehn­jäh­ri­gen Nata­scha an, jedoch erlegt sein Vater ihnen eine Frist von einem Jahr bis zur Hoch­zeit auf. Wäh­rend­des­sen trennt sich Pierre von sei­ner Frau und tritt in eine Frei­mau­rer­loge ein. Hélè­nes Bru­der Ana­tol umgarnt Nata­scha und stif­tet sie zu einer Ent­füh­rung an, die im letz­ten Moment ver­hin­dert wer­den kann und auch zur Auf­lö­sung der Ver­lo­bung mit Andrej führt. Nata­scha wird schwer krank und gewinnt in ihrer Trauer und Reue an geis­ti­ger Reife.
1812. Andrej und Pierre erle­ben die Schlacht bei Boro­dino mit, Napo­le­ons Russ­land­feld­zug. Die Fran­zo­sen beset­zen das men­schen­leere Mos­kau und glau­ben gesiegt zu haben. Jedoch sollte man nie den Tag vor dem Abend loben.

„Voll schwe­ren Leids und mit angst­er­füll­tem Her­zen, wie immer in einer grö­ße­ren Men­schen­menge, ging Nata­scha in ihrem lilasei­de­nen, mit schwar­zen Spit­zen besetz­ten Kleid dahin, so wie eben Frauen zu gehen ver­ste­hen: um so ruhi­ger und stol­zer, je mehr ihnen Schmerz und Scham das Herz zerreißen.“

Unge­fähr 250 Cha­rak­tere sam­meln sich in die­sem Jahr­hun­dert­werk, die alle­samt zu einem Gemälde bei­tra­gen und kaum ein­zeln zu benen­nen sind – den­noch die Hand­lungs­stränge ver­we­ben und zei­gen, dass alles mit­ein­an­der ver­bun­den ist. Figu­ren, die sich annä­hern und ent­fer­nen, begeg­nen sich spä­ter in wie­derum ande­rer For­ma­tion wie­der, die Kar­ten wer­den stets neu gemischt, schnell zeigt sich, wer mit der Zeit wächst und wer ste­hen bleibt. „Krieg und die Welt“ ist inso­fern weit pas­sen­der, da von Frie­den nie die Rede sein kann – weder in der Poli­tik, noch in den Familien.
Wenn Atem geholt wer­den kann, bricht an ande­rer Stelle ein Zwist aus. Viel­mehr wird die His­to­rie attrak­tiv ein­ge­bet­tet, sel­ten sind Schlach­ten so span­nend geschrie­ben wor­den, wie es Tol­stoi ver­mag. Ob nun das See­len­le­ben der Mut­ter Ros­tow um das Leben ihrer Söhne bangt oder der über­aus mensch­lich dar­ge­stellte Zar Alex­an­der I. vom Ver­hal­ten des ver­brü­der­ten Napo­le­ons ent­täuscht ist – jede Figur erhält ihre Auf­merk­sam­keit von einem objek­ti­ven Erzäh­ler, und das von vie­len ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven. Die Gesell­schaft wird unter die Lupe genom­men, idyl­li­sche Kin­der­sze­nen tref­fen auf ein mör­de­ri­sches Schlacht­feld, Ideale wer­den ver­kör­pert und zer­stört. In der Tat staunt man über die dunkle Fär­bung, die der Tod auf­grund sei­ner häu­fi­gen Besu­che ver­leiht – dabei wohnt in aller Zer­stö­rung, ob phy­si­scher oder psy­chi­scher Natur, ein Neu­be­ginn inne.

„... als er plötz­lich zu dem Bewußt­sein gekom­men war, daß Reich­tum, Macht, Leben, kurz alles, was die Men­schen mit sol­chem Eifer erwer­ben und zu bewah­ren suchen, wenn es über­haupt einen Wert hat, nur inso­fern einen Wert besitzt, als ein Genuß darin liegt, die­ses alles von sich zu werfen.“

Den Berg von 1290 Sei­ten zu bestei­gen erfor­dert ein gewis­ses Maß an Moti­va­tion, jedoch flie­gen die Zei­len nur so dahin, der Lese­fluss ist geschwind, der Leser wird in Atem gehal­ten, jedes Detail scheint von gro­ßer Wich­tig­keit. Es steckt darin eine unge­heure Tiefe auf Ebe­nen der Poli­tik, Phi­lo­so­phie, Reli­gion, es spricht schlicht­weg viel Weis­heit her­aus, die in all den Jah­ren nicht an Aktua­li­tät ver­lo­ren hat. Tol­stoi hat eine Schatz­kiste geschaf­fen, aus der man sich auch lange Zeit spä­ter noch ergöt­zen und stets Neues zie­hen kann. Tho­mas Mann sagte über die­sen Epos: „Die erzäh­le­ri­sche Macht sei­nes Wer­kes ist ohne­glei­chen.“ – Dem ist schlicht­weg nichts hinzuzufügen!

Nicole
urwort​.com

Krieg und Frie­den, Lew Tol­stoi, Auf­bau, 2010

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4 comments

z-wie-klugscheisser 29. Mai 2015 - 14:30

Neu­lich im Thea­ter gese­hen. Reicht mir fürs Erste. Bei mir ist die Zeit der dicken Schin­ken und rusi­schen Klas­si­ker lei­der vor­bei. Zeitmangel...

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Bücherstadt Kurier 29. Mai 2015 - 15:55

Ver­ständ­lich! Ich lese der­zeit auch nur „dünne Lite­ra­tur“. Aber auch Kurz­ge­schich­ten und Novel­len haben da viel zu bie­ten: Bul­ga­kows „Arzt­ge­schich­ten“ oder Erzäh­lun­gen von Pusch­kin z.B. Es muss nicht immer „dicke Lite­ra­tur“ sein. Danke für den Kom­men­tar und liebe Grüße! (Alexa)

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z-wie-klugscheisser 29. Mai 2015 - 18:04

Ich habe mich durch Dos­to­jew­skis Werk gele­sen (nicht voll­stän­dig, aber mehr als nur die Klas­si­kers) und von Tol­stoi einen fei­nen Erzähl­band. Danke für deine Tipps!

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Krieg und Frieden – Leo Tolstoi | 30. Mai 2015 - 21:39

[…] Bespre­chung ist auch im Bücher­stadt-Kurier zu […]

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