Künstliche Intelligenz und die großen Fragen des Lebens

by Erzähldetektivin Annette

Am 08. Juni 1954 wird der Mathe­ma­ti­ker Alan Turing tot in sei­nem Bett gefun­den. Alle Zei­chen deu­ten auf Selbst­mord hin. Der ermit­telnde Inspec­tor Leo­nard Corell ist zunächst nur mäßig inter­es­siert. Doch dann beginnt er in Turings Ver­gan­gen­heit ein­zu­tau­chen. Die sich ent­fal­tende Lebens­ge­schichte fes­selt vom ers­ten bis zum letz­ten Wort. Auch Erzähl­de­tek­ti­vin Annette ließ sich vom Hör­buch mitreißen.

Bis vor weni­gen Jah­ren hat sich die Popu­lär­kul­tur kaum mit Alan Turing befasst. Dabei hat der Mathe­ma­ti­ker bedeu­tende Leis­tun­gen voll­bracht. Mit sei­nem Ein­satz wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs und der von ihm ent­wi­ckel­ten Enigma-Maschine beschäf­tigt sich bei­spiels­weise das Oscar prä­mierte Drama „The Imi­ta­tion Game“ mit Bene­dict Cum­ber­batch in der Haupt­rolle. Doch die Figur des Alan Turing hat noch mehr zu bie­ten, wie der schwe­di­sche Autor David Lager­crantz in sei­nem Roman­de­büt „Der Sün­den­fall von Wilm­slow“ zeigt. Aus­ge­hend vom Tod des Mathe­ma­ti­kers, brin­gen die Ermitt­lun­gen den Prot­ago­nis­ten des Romans, Leo­nard Corell, immer wei­ter auf die Spur eines genia­len Den­kers, der sei­ner Zeit stets vor­aus gewe­sen ist.

Das Lügen-Para­do­xon

Am Anfang steht dabei ein simp­ler Satz: „Ich lüge.“ Ist der Satz wahr, dann muss er falsch sein – ist der Satz jedoch falsch, dann muss er wahr sein. Die­ses Lügen-Para­do­xon lässt Turing zeit­le­bens nicht mehr los und auch Corell zieht es immer wei­ter in sei­nen Bann. Das Para­do­xon geht bis auf den kre­ti­schen Phi­lo­so­phen Epi­men­i­des zurück. In ein­fa­cher Form kann das Lügen-Para­do­xon an fol­gen­dem Bei­spiel erklärt werden:

„Die­ser Satz ist falsch.“

Diese Aus­sage ist weder ein­deu­tig wahr, noch falsch. Wäre sie falsch, dann würde zutref­fen, was der Satz behaup­tet und damit wäre er wahr. Wäre der Satz jedoch wahr und es trifft zu, was der Satz behaup­tet, dann ist er – nach eige­ner Aus­sage – falsch.
Turing kommt in einem Semi­nar von Lud­wig Witt­gen­stein erst­mals mit die­ser Para­do­xie in Kon­takt. Doch anders als für den gro­ßen Phi­lo­so­phen, ist das Lügen-Para­do­xon aus Turings Sicht keine bloße Wort­spie­le­rei. Es stelle nicht weni­ger als unse­ren grund­le­gen­den Wahr­heits- und Wis­sens­be­griff in Frage.

Brö­ckelnde Mathe­ma­tik und den­kende Maschinen

David Lager­crantz gelingt es auf ein­drucks­volle Weise, Erklä­run­gen die­ser Art detail­liert genug aus­zu­füh­ren, sodass auch Laien ihnen fol­gen kön­nen. Die Erläu­te­run­gen sind dabei stim­mig und ganz natür­lich in die Roman­hand­lung inte­griert. Seine Aus­füh­run­gen rei­ßen die Leser aus ihrem Ver­ständ­nis der Welt und beför­dern sie mit­ten hin­ein in phi­lo­so­phi­sche Grundsatzdebatten.

So wird für Turing – einem Mann, der selbst vol­ler Wider­sprü­che steckt – die Mathe­ma­tik erst rich­tig inter­es­sant, als ihr schein­bar der logi­sche Boden ent­zo­gen wird. Der Mathe­ma­ti­ker David Hil­bert möchte den Glau­ben an die Mathe­ma­tik als zuver­läs­sige Wis­sen­schat nicht auf­ge­ben und sucht nach einer Methode, über die Ent­scheid­bar­keit mathe­ma­ti­scher Sätze zu urtei­len. Sein Kol­lege Max New­man über­legt, hier­für eine mecha­ni­sche Methode her­an­zu­zie­hen. Alan Turing greift diese Idee auf und ent­wi­ckelt sie wei­ter. Die Idee einer logisch den­ken­den Maschine wird für ihn zum alles bestim­men­den Grundsatz.

Für uns, die wir im Zeit­al­ter von Lap­tops, Smart­pho­nes und Tablets leben, ist die­ser Gedanke eine Selbst­ver­ständ­lich­keit gewor­den. Doch Turing ist ein Pio­nier der Infor­ma­ti­ons- und Com­pu­ter­tech­no­lo­gie. Sein 1936 ent­wi­ckel­tes Modell der Turing­ma­schine ist wich­ti­ger Vor­läu­fer unse­rer heu­ti­gen Computertechnik.

Und Turings Über­le­gun­gen gehen wei­ter. In Ver­bin­dung mit sei­nem Inter­esse an Atom­theo­rie und Bio­lo­gie ent­wi­ckelt er Vor­stel­lun­gen einer künst­li­chen Intel­li­genz, sogar füh­lende Maschi­nen schließt er nicht aus. Sein Traum ist es, den freien Wil­len mecha­nisch nach­zu­ah­men und Maschi­nen so mit der Fähig­keit zu Irra­tio­na­li­tät aus­zu­stat­ten. Ideen, die heute eher in dys­to­pi­schen Film- und Roman­fan­ta­sien aus­ge­schmückt wer­den, sind für Turing wis­sen­schaft­li­che Grund­über­le­gun­gen. Mit dem mensch­li­chen Hoheits­an­spruch auf Intel­li­genz geht er nicht kon­form und wei­gert sich, den Men­schen als Richt­schnur – auch, oder erst recht nicht, im mora­li­schen Sinne – anzuerkennen.

„Weil wir alle kom­pli­zierte Vögel sind.“

Das letzte Drit­tel des Buches wen­det sich näher der Per­son Alan Turing zu. Kind­heit und Jugend wer­den ebenso beleuch­tet wie seine Jahre in Bletch­ley Park. Dort war Turing mit sei­nen Ideen maß­geb­lich daran betei­ligt, den Code der Deut­schen Wehr­macht zu kna­cken. Der His­to­ri­ker Sir Harry Hins­ley geht davon aus, dass der Zweite Welt­krieg auf diese Weise um zwei bis vier Jahre ver­kürzt wor­den ist. [1]

Sein Tod wird schließ­lich als Sui­zid zu den Akten gelegt. Turings Lei­dens­ge­schichte als ver­ur­teil­ter Homo­se­xu­el­ler, die Dis­kri­mi­nie­rung durch Staat und Gesell­schaft und schluss­end­lich die che­mi­sche Zwangs­kas­tra­tion als Alter­na­tive zu einem Gefäng­nis­auf­ent­halt, zie­hen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Roman­hand­lung. Am Ende kann Alan Turing zwar nicht wie­der zum Leben erweckt wer­den, doch Corells Befrei­ungs­schlag aus sei­nem tris­ten Leben als Poli­zist in einer von Vor­ur­tei­len und Res­sen­ti­ments gepräg­ten, klein­ka­rier­ten Gesell­schaft zeigt, wie wir­kungs­stark Ideen sein können.

Por­trait eines genia­len Außenseiters

David Lager­crantz gelingt in „Der Sün­den­fall von Wilm­slow“ die Ver­mi­schung eines auf­re­gen­den Kri­mi­nal­falls mit dem fein­füh­li­gen Por­trait einer hoch­sen­si­blen Per­son, die bis­her viel zu wenig Beach­tung fand. Dabei wer­den ele­men­tare mathe­ma­ti­sche und phi­lo­so­phi­sche Über­le­gun­gen so span­nend wie­der­ge­ge­ben, dass Phi­lo­so­phen, Logi­ker, Mathe­ma­ti­ker und Laien glei­cher­ma­ßen ihre Freude haben werden.

Der deut­sche Schau­spie­ler Devid Strie­sow gibt die emo­tio­nale Tiefe des Romans wun­der­bar wie­der und liest mit einer Inn­brunst, die auch das Hör­buch von Ran­dom House zu einem ganz beson­de­ren Ver­gnü­gen macht. Die phi­lo­so­phi­schen Zusam­men­hänge wer­den der­art span­nend wie­der­ge­ge­ben, dass die eigent­li­che Rah­men­hand­lung bei­nahe zur Neben­sa­che wird – jedoch einer aus­ge­spro­chen inter­es­san­ten Neben­sa­che, denn immer­hin wer­den ganz neben­bei auch The­men wie Homo­pho­bie, gesell­schaft­li­che Aus­gren­zung, aber auch Tole­ranz ver­han­delt. Die Phi­lo­so­phin in mir wurde von Turings genia­len Gedan­ken begeis­tert, die zu eige­nem Nach­den­ken anre­gen. Mir hal­len Turings Ideen noch lange nach.

[1] www​.the​guar​dian​.com/​t​h​e​g​u​a​r​d​i​a​n​/​1​9​9​9​/​j​a​n​/​1​8​/​f​e​a​t​u​r​e​s​1​1​.g2 (letz­ter Auf­ruf: 05.07.16)

Der Sün­den­fall von Wilm­slow. Gekürzte Lesung nach dem gleich­na­mi­gen Roman von David Lager­crantz (2009). Ran­dom House Audio, 2016. Gele­sen von Devid Striesow.

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