Querwaldein Oder: Die Welt ist kein Fußfönverein

by Worteweberin Annika

Kann man es eigent­lich ver­ant­wor­ten, Vater zu wer­den, wenn man keine Ahnung davon hat, wie man ein Lager­feuer anzün­det, wie man ohne Gum­mi­bär­chen über die Run­den kommt, wenn man die Wild­nis nicht kennt? Finn-Ole Hein­rich gibt dar­auf Ant­wor­ten in „Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“. – Von Worte­we­be­rin Annika

Wäh­rend das Ich naiv mit zwölf Tüten Haribo zum Vater-Crash­kurs in den Wald auf­bricht, ist seine Frau hoch­schwan­ger und weiß erst­mal noch nichts von ihrem „Glück“. Sie bleibt daheim, das heißt im aus­ge­bau­ten Gar­ten­schup­pen hin­ter dem Haus ihrer Eltern, in den die wach­sende Fami­lie gerade ein­ge­zo­gen ist. Aber wie soll das Ich dem star­ren­den Blick des unzu­frie­de­nen Schwie­ger­va­ters stand­hal­ten? Wie soll es ein Vater wer­den, wenn es selbst nie einen hatte?

Vater sein, Vater werden

Die Lösung dafür bie­tet der Reu­ber. Finn-Ole Hein­richs neues Buch bezeich­net sich sei­net­we­gen als „Reu­ber­ro­man“ – ein Tipp­feh­ler? Mit­nich­ten, denn hier geht es nicht um einen ein­fa­chen Räu­ber, hier geht es um den Reu­ber, den „ein­zig ech­ten Fach­mann für das echte, raue Leben“. Der, von dem im Maxi­mal­wald die Erd­an­zie­hung aus­geht. Der grüllt und rölzt, luffud­dert und grunft. Und der schreibt sich eben mit E statt Ä. Für sei­nen Reu­ber hat sich Finn-Ole Hein­rich eine eigene Spra­che erfun­den, eine Mischung aus Nuscheln und Slang, die „Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ einen ganz eige­nen Sound verleiht.

„Ich bins Reu­ber. Hat­ter­schon als Kind jeen Tag ein Mensch gefress. Unheute isser grö­ßer noch, stär­ker noch, unhat mehr Hun­ger­noch. Bewegsu dich, schlach­ter dich. Kommsu auf­fes Feuer rauf, auf­ge­spießt. Reu­ber dreh dich, würz dich, friss dich auf. Jetzt gibsu, wassu hast und machs kein­ton, sons stribsu hie­run­jetz. Machsu, was Reu­ber sag, kommsu mit dein Leben von. Viel­leich. Wenn Reu­ber will.“ (S. 8)

Mit die­sem Reu­ber ver­bringt das Ich einige Wochen im Wald. Es klet­tert, schwimmt, jagt Kanin­chen (und das als Vege­ta­rier). Wäh­rend es anfangs ein Fremd­kör­per im Wald ist – bei­nahe isst es gif­tige Pilze, tram­pelt außer Atem durch die Wild­nis und sorgt sich mehr um die Deko­ra­tion als ums Über­le­ben – lernt das Ich vom Reu­ber bald, wie man „Luft fut­tert“ (also ganz tief durch­at­met), sich durch den Wald schleicht und sogar seine Sprache.

„Im Wald musst du alles kön­nen: ren­nen, sprin­gen, han­geln, Hin­der­nisse über­win­den, klet­tern, am bes­ten flie­gen, aber das kann selbst der Reu­ber nur rudi­men­tär, im Rand­be­reich des Sprin­gens.“ (S. 129)

„Nur­nix komplixititatiertes“

Vom Reu­ber lernt das Ich außer­dem, den Bal­last unse­rer Gesell­schaft abzu­wer­fen. Im Wald gel­ten nur ein paar Regeln, die über Leben und Tod ent­schei­den. Zum Bei­spiel: „Reu­ber­re­gel Num­mer zehn: Ein Reu­ber gefühlt nicht in der Welt herum.“ Klar, dass die Regeln augen­zwin­kernd zu betrach­ten sind, aber sie wei­sen doch dar­auf hin, wel­che Pro­bleme uns heute oft die Sicht auf die wich­ti­gen Dinge im Leben rau­ben. Zu viel „Kom­pli­xi­t­i­ta­tier­tes“, zu viele Sor­gen. Der Wald, das ist hier ein Ort, ganz anders als „unsere“ Welt, eine Hete­ro­to­pie, würde der fran­zö­si­sche Sozio­loge und Phi­lo­soph Michel Fou­cault dazu sagen.

Wieso nun muss man aber in den Wald, in die Wild­nis, um Vater zu sein? Ist es archa­isch zu behaup­ten, moderne Män­ner müss­ten eigent­lich jagen ler­nen und durch die Bota­nik grül­len, um zu funk­tio­nie­ren? Hätte es nicht ein Baby­kurs im benach­bar­ten Fami­li­en­zen­trum auch getan? Wenn man so möchte, lässt sich „Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ als ein Zeug­nis für ein ver­al­te­tes Män­ner­bild lesen. Ande­rer­seits, wenn man auf Fou­caults Hete­ro­to­pie zurück­greift, geht es viel­leicht um etwas ande­res dabei: Darum, sein Ich an einem beson­de­ren Ort außer­halb der Regeln unse­rer digi­ta­li­sier­ten, kom­pli­zier­ten Gesell­schaft zu fin­den. Und das geht nicht beim Baby­kurs um die Ecke. Es geht aber im Wald.

„Ich war ein Klapp­spa­ten gewe­sen und kam als Spitz­ha­cke aus dem Wald zurück.“

Dass das Ver­hal­ten des Ichs dabei reich­lich pro­ble­ma­tisch ist, wird eben­falls deut­lich. Ist es ein bes­se­res Ich, nach­dem es gelernt hat, Wan­de­rer in Reu­ber­ma­nier zu über­fal­len? Was hat es denn eigent­lich gelernt? Und: Darf ein Vater seine schwan­gere Frau ohne jede Nach­richt sit­zen las­sen, um im Wald sich selbst zu fin­den? Wohl eher nicht. Da der Roman sich als ein Brief des Ichs an sein neu­ge­bo­re­nes „Krü­mel­chen“ gestal­tet, wird sein Zwie­spalt deut­lich: die Begeis­te­rung für die Aben­teuer im Wald, aber auch die Reue ob des eige­nen Verhaltens.

Wie schon bei eini­gen ande­ren Pro­jek­ten hat Finn-Ole Hein­rich bei „Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ mit der islän­di­schen Künst­le­rin Rán Fly­gen­ring zusam­men­ge­ar­bei­tet. Ihre grün-schwar­zen Bil­der sind ein Augen­schmaus; dar­un­ter Anlei­tun­gen zum Floß­bauen, zum Spu­ren­le­sen und andere lus­tige Gra­fi­ken. Zusam­men mit der anspre­chen­den Auf­ma­chung des Buches wird „Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ so zu einem schö­nen Geschenk für wer­dende Väter – in der Hoff­nung, dass sie aus der Lek­türe genug ler­nen, um zu Hause zu bleiben.

„Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ ist ein Buch, das man nicht auf die Gold­waage legen braucht – das sich aber in Gold auf­wiegt, denn Finn-Ole Hein­richs spie­le­ri­scher Umgang mit Spra­che ist ebenso genial wie die Illus­tra­tio­nen von Rán Flygenring.

Die Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des. Finn-Ole Hein­rich. Illus­tra­tio­nen: Rán Fly­gen­ring. Mai­risch. 2018.

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Wahnsinn auf Rezept – Bücherstadt Kurier 8. Mai 2020 - 9:59

[…] Illus­tra­tio­nen der Islän­de­rin Rán Fly­gen­ring her­vor­ge­ho­ben. Wie auch in „Reise zum Mit­tel­punkt des Wal­des“ kom­bi­niert Fly­gen­ring Zeich­nun­gen mit hand­schrift­li­chen Noti­zen. Die in […]

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