Schwächen eines evolutionären Menschenbildes

by Bücherstadt Kurier

Bücher­städ­ter Lukas wirft einen sehr genauen Blick auf ein evo­lu­tio­nä­res Menschenbild.

Die Evo­lu­ti­ons­theo­rie ist eine der bedeu­tends­ten natur­wis­sen­schaft­li­chen Theo­rien über­haupt. Sie erklärt die Ent­ste­hung und Ent­wick­lung der Arten und gibt damit eine natur­wis­sen­schaft­li­che Ant­wort auf die Fra­gen nach dem Ursprung der Arten – ein Feld, wel­ches vor­her nur von den Reli­gio­nen abge­deckt wurde. So lehrte bei­spiels­weise die katho­li­sche Kir­che, dass die Arten, wie sie in ihrer heu­ti­gen kom­ple­xen Form exis­tie­ren, nur durch einen Schöp­fer erklärt wer­den könn­ten. Diese Lehre nennt sich Krea­tio­nis­mus und wird auch heute noch vertreten.

Eines der Haupt­ar­gu­mente der Krea­tio­nis­ten ist die Über­le­gung, dass etwa das mensch­li­che Auge so kom­plex ist und auch sein muss, um sehen zu kön­nen, dass es nicht ein­fach Pro­dukt eines Zufalls sein kann, son­dern ein Schöp­fer dahin­ter ste­hen muss. Wäh­rend Krea­tio­nis­mus zu Zei­ten Dar­wins die gän­gige Erklä­rung für die Ent­ste­hung der Arten war, wen­den sich sol­che Argu­men­ta­tio­nen heute gegen die ver­brei­tete Evo­lu­ti­ons­theo­rie, die die Ent­ste­hung der Arten als schein­bar zufäl­lig dar­stellt. Nach Dar­win sind die Arten in einem lang­sa­men Pro­zess ent­stan­den und pas­sen sich bis heute an ihre Umge­bung an.

Für einen Krea­tio­nis­ten wirkt diese Ent­wick­lung wohl wie eine zufäl­lige, sie ist aller­dings nichts ande­res als eine natur­wis­sen­schaft­li­che Erklä­rung zu einem Pro­zess der Anpas­sung und Selek­tion. Orga­nis­men ver­än­dern sich nach Dar­win durch zufäl­lige Muta­tio­nen, Ver­än­de­run­gen im Gen­pool. Muta­tio­nen, die zu einer bes­se­ren Anpas­sung (Taug­lich­keit) der ent­spre­chen­den Indi­vi­duen füh­ren, wer­den wahr­schein­li­cher und häu­fi­ger wei­ter­ge­ge­ben. Somit wer­den über die Genera­tio­nen hin­weg die­je­ni­gen Merk­male aus­sor­tiert, die nicht zu einer sol­chen Anpas­sung geführt haben. Der Pro­zess, der durch diese Theo­rie beschrie­ben wird, ist der Pro­zess der Evo­lu­tion. Nach Dar­win sind die Arten also nicht ein­fach erschaf­fen wor­den, son­dern wäh­rend eines lan­gen Pro­zes­ses entstanden.

Das evo­lu­tio­näre Men­schen­bild anhand von „evo­lu­tio­nä­ren Prinzipien“

Soweit so gut. Aller­dings ist die Evo­lu­ti­ons­theo­rie in unse­rer heu­ti­gen Gesell­schaft zu einem unre­flek­tier­ten All­ge­mein­gut gewor­den. So ist es kaum ver­wun­der­lich, dass wir auch unser Men­schen­bild durch evo­lu­tio­näre Gedan­ken begrün­den kön­nen: Der Mensch sei ein bio­lo­gi­scher Orga­nis­mus wie alle ande­ren Tiere auch, also soll­ten für ihn auch die „Prin­zi­pien der Evo­lu­tion“ gel­ten. Es gehe schließ­lich darum, wel­che Gene am wahr­schein­lichs­ten wei­ter­ge­tra­gen wer­den und dass diese Gene auch die eige­nen sein soll­ten. Diese Vor­stel­lung geht auf den Kampf jeder gegen jeden zurück, der dadurch ent­steht, dass jedes Indi­vi­duum ein Inter­esse daran hat, seine Gene wei­ter­zu­tra­gen – dies geht nur mit der höchs­ten Taug­lich­keit einher.

Die Wei­ter­gabe der Gene scheint also noch immer den Men­schen zu bestim­men. Sol­che Gesetz­mä­ßig­kei­ten, die sich aus den Beob­ach­tun­gen über die Evo­lu­tion ablei­ten las­sen, kann man als „evo­lu­tio­näre Prin­zi­pien“ bezeich­nen. Dass die eige­nen Gene wei­ter­ge­tra­gen wer­den sol­len, gilt auch für Men­schen, da sie einen Trieb zur Selbst­er­hal­tung und zur Fort­pflan­zung haben. Schließ­lich kön­nen wir davon aus­ge­hen, dass auch wir ver­su­chen wer­den, unsere Gene mit dem nöti­gen Ego­is­mus – also einer hohen Prio­ri­tät – durchzubringen.

Wel­che Mit­tel wir wäh­len, ist evo­lu­tio­när gese­hen erst ein­mal egal, hier­bei geht es nur um die Effi­zi­enz. Ein sol­ches evo­lu­tio­nä­res Men­schen­bild würde jede Hand­lung des Men­schen durch den Nut­zen erklä­ren, den die­ser Mensch dadurch hat. Der Mensch wäre ein ego­is­ti­sches Tier, wel­ches im Wett­be­werb bestehen muss. Genau die­ser Hang zum Wett­be­werb wird per­fekt im Kapi­ta­lis­mus wider­ge­spie­gelt: Ein auf Ego­is­mus beru­hen­des Gesell­schafts­sys­tem ent­spricht – die­sem Gedan­ken­gang fol­gend – den inne­ren Trie­ben des Men­schen. Somit wer­den die „evo­lu­tio­nä­ren Prin­zi­pien“ auf den Men­schen ange­wandt und ein auf Ego­is­mus beru­hen­des Sys­tem gerechtfertigt.

Pro­bleme „evo­lu­tio­nä­rer Prin­zi­pien“ als Grund­lage der Handlungsmotivation

Doch diese „evo­lu­tio­nä­ren Prin­zi­pien“ kön­nen nicht ein­fach als Grund­lage der Moti­va­tion eines Men­schen dar­ge­stellt wer­den. Nur weil wir fest­stel­len kön­nen, dass die Wei­ter­gabe von Merk­ma­len immer noch danach gere­gelt ist, inwie­fern diese Merk­male einen Vor­teil für den Trä­ger brin­gen, heißt das noch nicht, dass diese Prin­zi­pien der Evo­lu­tion sich direkt auf den Men­schen, sein Den­ken und Han­deln auswirken.

Die Evo­lu­ti­ons­theo­rie beschreibt ein­fach nur die Evo­lu­tion und wenn sich die Kri­te­rien für taug­li­che Merk­male ver­än­dern, ist das evo­lu­tio­när gese­hen eine Infor­ma­tion mit einer gewis­sen Erklär­kraft, für die ein­zel­nen Indi­vi­duen und deren Moti­va­tion aber völ­lig belang­los. Man kann aus der Gül­tig­keit der Regeln der Evo­lu­tion nicht auf den Men­schen schlie­ßen. Dies liegt daran, dass die Evo­lu­ti­ons­theo­rie nur über die Ent­wick­lung der Arten spricht und die Beschrei­bung der Wei­ter­gabe von Merk­ma­len nicht auf gene­relle „evo­lu­tio­näre Prin­zi­pien“ schlie­ßen lässt. Es ist eben ein Unter­schied zu erklä­ren, wieso es gewisse Ver­hal­tens­dis­po­si­tio­nen geben kann (evo­lu­tio­näre Erklä­rung) oder wieso eine Per­son zu einem bestimm­ten Zeit­punkt auf eine bestimmte Art und Weise han­delt. „Evo­lu­tio­näre Prin­zi­pien“ sind inso­fern nicht Grund­lage der Hand­lungs­mo­ti­va­tion, son­dern nur ein Pro­dukt der Evo­lu­ti­ons­theo­rie, wel­ches uns erklä­ren kann, wie sich Ver­hal­tens­dis­po­si­tio­nen über Genera­tio­nen hin­weg durch­set­zen können.

Fazit

Ein Schluss von „evo­lu­tio­nä­ren Prin­zi­pien“ auf die Hand­lungs­mo­ti­va­tion des Ein­zel­nen ist unzu­läs­sig, da die „evo­lu­tio­nä­ren Prin­zi­pien“ nur den Ver­lauf der Evo­lu­tion erklä­ren. In die­sem Vor­gang kommt das Indi­vi­duum mit all sei­nen Grün­den und Moti­ven aber nur an einer win­zi­gen Stelle vor und ist selbst nicht Teil die­ses Prinzips.

Es ist schließ­lich, was die Evo­lu­ti­ons­theo­rie erklärt – die Ent­wick­lung der Arten. Sie erklärt keine Men­schen­bil­der und sie psy­cho­lo­gi­siert auch nicht, ver­mut­lich weil sie zu bei­dem nicht in der Lage ist. Aus einer Erklä­rung, wie sich ein Merk­mal über die Genera­tio­nen bewäh­ren kann, auf ein bestimm­tes Men­schen­bild samt Moti­va­tio­nen zu schlie­ßen, erscheint vor die­sem Hin­ter­grund absurd. Gründe für Hand­lun­gen sind viel­fäl­tig und unab­hän­gig von ihrem evo­lu­tio­nä­ren „Nut­zen“. Die­ser Nut­zen ist ledig­lich wich­tig für die Wei­ter­gabe. Das evo­lu­tio­näre Men­schen­bild lie­fert keine glaub­hafte Erklä­rung für den Men­schen. Die Umdeu­tung der Prin­zi­pien der Evo­lu­tion auf die Hand­lungs­mo­tive von Indi­vi­duen ist gescheitert.

Inso­fern erscheint es mir als falsch, die Wett­be­werbs­ge­sell­schaft als eine Gesell­schafts­form zu betrach­ten, die dem Men­schen an sich ent­spricht. Der Mensch ent­spricht der Gesell­schaft. Denn dies ist die wirk­li­che Aus­sage der Evo­lu­ti­ons­theo­rie: Der Mensch passt sich im Ver­lauf der Evo­lu­tion an und das tut er mitt­ler­weile in einer zivi­li­sier­ten Gesell­schaft. Der Mensch ist also nicht auto­ma­tisch ein ego­is­ti­sches Wesen. Er ist zum Glück wan­del­bar, weil wir alle einer Evo­lu­tion unter­lie­gen, die mitt­ler­weile an mora­li­schen Wer­ten nicht mehr vor­bei­kommt und das ist ein Glück, denn sonst wären wir wirk­lich alle ver­fan­gen – in einem Kampf jeder gegen jeden.

Lite­ra­tur zum Thema:
Bay­ertz, Kurt: Größe und Gren­zen eines phi­lo­so­phi­schen For­schungs­pro­gramms. In: Kurt Bay­ertz (Hrsg.): Evo­lu­tion und Ethik, Stutt­gart 1993, Reclam.

Ein Bei­trag zum Spe­cial #phi­lo­so­phie­stadt. Hier fin­det ihr alle Beiträge.
Illus­tra­tion: Satz­hü­te­rin Pia

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