Spaziergang durch die Zeit

by Worteweberin Annika

Ein Vater doku­men­tiert die Zeit mit sei­nem zwei­jäh­ri­gen Sohn Karl. Gemein­sam gehen sie auf Ent­de­ckungs­reise in der Welt. In „Zucker­sand“ the­ma­ti­siert Jochen Schmidt mit bei­läu­fi­ger Tiefe The­men wie Erin­ne­rung und Zeit. Worte­we­be­rin Annika ist eine Runde mit spa­zie­ren gegangen.

Karl ist zwei Jahre alt und hat eine große Vor­liebe für den Sei­fen­spen­der, das Auf­le­gen des Ein­kaufs auf das Waren­band im Super­markt und Spiel­plätze. Wäh­rend die Mut­ter Klara stets abwe­send ist, aber über­vor­sich­tige Nach­rich­ten schickt, beglei­tet Richard sei­nen Sohn auf des­sen Streif­zü­gen durch die Woh­nung und die Nach­bar­schaft. Um Karls Auf­wach­sen zu doku­men­tie­ren schreibt er einen Bericht über Karls All­tag. Von den gemein­sa­men Erleb­nis­sen wer­den bei ihm immer wie­der auch Erin­ne­run­gen an die eigene Kind­heit angestoßen.

Ein Archiv

Der Vater des Erzäh­lers arbei­tet pas­sen­der­weise im „Archiv für Archiv­we­sen“, und auch Richard selbst beschäf­tigt sich mit dem Kon­ser­vie­ren von Momen­ten und Din­gen. So hebt er die To-Do-Lis­ten und Ein­kaufs­zet­tel sei­ner Frau mit Datum ver­se­hen auf, besitzt ein selbst­ge­bas­tel­tes Gebiss aus den Milch­zäh­nen sei­ner Klas­sen­kam­mer­aden und trägt auch ansons­ten reich­lich Bal­last aus sei­ner Ver­gan­gen­heit in Form von Gegen­stän­den mit sich herum. Im Roman wird dies durch skur­rile Auf­lis­tun­gen behan­delt, die eine Lupe auf Richards Leben rich­ten. In dem ein oder ande­ren abson­der­li­chen Ding fin­den sich bestimmt auch die Leser wieder.

Ver­bun­den mit die­sen Gegen­stän­den ist die Erin­ne­rung, teils wie bei Proust fast unwill­kür­lich her­auf­be­schwo­ren, vor allem aber die for­cierte. An Karl sieht Richard die Zeit ver­strei­chen, daran zum Bei­spiel, dass er ihn auf den „alten“ Bil­dern schon längst nicht mehr so schön fin­det wie heute. Und auch in sei­ner Umge­bung beob­ach­tet Richard Ver­än­de­run­gen, nicht nur in der Umge­stal­tung der Stadt, son­dern auch in unse­rer moder­nen Lebens­welt: selbst­kle­bende Brief­mar­ken, das Ver­schwin­den des Modell­ei­sen­bahn­la­dens, Com­pu­ter­ani­ma­tio­nen im Kinderfernsehn.

Glück und Schwermut

Auf dem Spiel­platz den „Zucker­sand“ zu löf­feln, ohne darin nur Sand zu sehen: Von Karl lernt der Erzäh­ler das Sehen, gewinnt den Blick für „Boden­schätze“ in Form von Haar­gum­mis und ande­ren Kleinst­ge­gen­stän­den zurück, ohne die erwach­sene Schwer­mut ganz able­gen zu kön­nen. Die Ver­gan­gen­heit kann nicht nur posi­tiv, son­dern auch grau­sam sein, das weiß der Erzäh­ler und ver­sucht es von sei­nem Sohn so gut es geht fernzuhalten.

„Eines Tages würde ich Karl erklä­ren müs­sen, was die sie­ben gol­de­nen Pflas­ter­steine bedeu­te­ten, die vor einem Haus­ein­gang in unse­rer Nach­bar­schaft in den Boden ein­ge­las­sen waren und bei denen er immer fragte: ‚Was kann man damit machen?‘ […] Wer trös­tete die Väter? Wo mußte man anschla­gen, um ‚erlöst‘ zu sein?“

Manch­mal ist es hart für den Erzäh­ler, ein Vater zu sein, vor allem aber ist es beglei­tet von reich­lich Glücks­mo­men­ten. Der Bericht strotzt vor der abgöt­ti­schen Liebe des Vaters für sei­nen Karl, für die kesse Beule in sei­ner Win­del und die gemein­sa­men Aben­teuer. Der sonst immer furcht­lose Richard beginnt sich zu sor­gen und über Kata­stro­phen nach­zu­den­ken, emp­fin­det manch­mal Angst. Im Roman sind diese bewe­gen­den Momente flan­kiert von Komik, so dass Tiefe ent­steht, ohne zu bedrü­cken. So gelingt es Schmidt meis­ter­lich, seine anspruchs­vol­len The­men leicht zu verpacken 

Liebe zum Detail

Pas­send zu Richards und Karls Welt ist die Umschlag­ab­bil­dung von Line Hoven, in der ein Vater und ein (wenn auch etwas älte­rer) Sohn durch einen wil­den Dschun­gel über Kro­ko­di­len balan­cie­ren. Der Groß­stadt­dschun­gel und das Aben­teuer im Klei­nen erkennt man hier wie­der. Richards Detail­ver­liebt­heit fan­gen außer­dem die vier­zehn Vignet­ten von Line Hoven ein, von denen jedes Kapi­tel ein­ge­lei­tet wird.

„Zucker­sand“ ist mehr als nur ein Väter­ro­man, wie er in eini­gen Feuil­le­tons – wenn auch wert­schät­zend – titu­liert wurde, aber er ist eben auch das. Trotz­dem wer­den sich hier nicht nur frisch geba­ckene Väter wie­der­fin­den, son­dern wohl jeder, der selbst ein­mal Kind war und nun die Zeit ver­strei­chen sieht. Schmidts Roman ist bewe­gend, emo­tio­nal und anspruchs­voll, ohne seine Leser zu vergraulen.

Zucker­sand. Jochen Schmidt. C.H. Beck. 2017.

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