Über das E und U

by Worteweberin Annika

Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“ hat nicht nur den Preis als Lieb­lings­buch der unab­hän­gi­gen Buch­händ­ler 2017 gewon­nen, son­dern hat sich in letz­ter Zeit auch zum Lieb­ling vie­ler Leser- und Blog­ge­rIn­nen gemau­sert. Nun ist es für den Preis der Lite­ra­Tour Nord im Ren­nen. Worte­we­be­rin Annika war Anfang Januar bei der Lesung im Café Ambi­ente in Bre­men dabei und macht sich nun einige Gedan­ken dar­über, was eigent­lich gute Lite­ra­tur ist. 

„Inzwi­schen steht Ihr Roman seit Mona­ten auf der Best­sel­ler­liste“, heißt es bei der Lesung im Rah­men der Lite­ra­Tour Nord in Bre­men. Mode­ra­tor und Lite­ra­tur­pro­fes­sor Axel Dun­ker lässt es fast wie einen Vor­wurf klin­gen. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Roman, der begeis­tert gele­sen und gekauft wird, so viel ist sicher. Trotz­dem wird er, wie auch im Rah­men des die Lite­ra­Tour Nord beglei­ten­den Semi­nars, teil­weise als mehr oder min­der banale Unter­hal­tungs­li­te­ra­tur abge­tan (über das E und U spä­ter mehr). Sagt das Gele­sen­wer­den eigent­lich etwas über die Qua­li­tät eines Romans aus? Um das zu klä­ren drängt sich vor­her noch eine andere Frage auf: Warum fin­det gerade „Was man von hier aus sehen kann“ so viele LeserInnen?

Cocoo­ning und das Lagom

In einer Zeit, die für viele Men­schen unüber­schau­bar und bedroh­lich scheint, ver­spricht Lekys Roman das Gegen­teil davon, auf­be­rei­tet für den Nacht­tisch: gemüt­lich, men­schen­freund­lich, über­schau­bar, aber auch – und das ist ganz wich­tig – ohne seine Lese­rIn­nen für dumm zu ver­kau­fen. Der Wunsch nach Gemüt­lich­keit und Gebor­gen­heit, den fin­den wir heute über­all. Er zeigt sich im Inter­esse für die „Land­Lust“, für die däni­sche Gemüt­lich­keit hygge und das schwe­di­sche Mit­tel­maß lagom. Ein Traum von Bul­lerbü? Genannt wird er in der Wis­sen­schaft Cocoo­ning, die­ser Wunsch nach Gebor­gen­heit und Ruhe, nach dem Rück­zug ins Pri­vate, der sich auch bei Leky suchen und fin­den lässt. Denn auch in „Was man von hier aus sehen kann“ ist vie­les lagom: Mit einem japa­ni­schen Mönch, der eigent­lich aus Hes­sen stammt, las­sen die Cha­rak­tere gerade lagom viel „Welt hin­ein“, wie das der Vater der Prot­ago­nis­tin immer fordert.

Die erns­ten The­men wie der Tod (und zudem der Tod von Kin­dern) schei­nen gebro­chen durch den Humor gerade lagom schlimm, um sie vor dem Ein­schla­fen ver­kraf­ten zu kön­nen. Das Per­so­nal in Lekys Roman ist begrenzt, die Dorf­ge­mein­schaft fast eine kleine Fami­lie. Aber ist das schlimm? Eines jeden­falls ist es nur bedingt, näm­lich über­ra­schend. Wenig ver­än­dert sich im Dorf im Wes­ter­wald und als Lese­rin kann ich mich dabei gemüt­lich zurück­leh­nen und muss eben­falls nicht zu viel „Welt rein­las­sen“. Aber, noch ein­mal, ist das eigent­lich schlimm?

Für Leky scheint das Cocoo­ning keine wirk­li­che Rolle zu spie­len, ant­wor­tet sie doch auf die Frage des Mode­ra­tors eher abwie­gelnd. Ihr ginge es um die Geschichte, und die habe nun mal nach einem klei­nen, länd­li­chen Rah­men ver­langt. Das ist gut mög­lich, aber nicht immer hat ja bekannt­lich die Absicht der AutorIn­nen damit zu tun, wie ein Text dann gele­sen wird. Zumin­dest könnte die Sehn­sucht nach dem Ein­fa­chen und dem Schö­nen das große Inter­esse an „Was man von hier aus sehen kann“ erklä­ren. Dar­auf redu­zie­ren kann man den Roman aber sicher­lich nicht, was man schon an den Reak­tio­nen bei der Lesung able­sen kann.

Lachen, Wei­nen und Goethe

Gegen Ende der Lesung in Bre­men bricht jeden­falls ein wah­rer Begeis­te­rungs­sturm unter den Gäs­ten im Café Ambi­ente aus. So viele sind an die­sem Sonn­tag gekom­men, dass die Lesung sogar in einen grö­ße­ren Raum ver­legt wer­den musste. Viele wol­len der Autorin für diese schöne Geschichte dan­ken, berich­ten davon, wie viel sie beim Lesen gelacht und geweint haben und wie sehr sie die Figu­ren beein­dru­cken. Ja, Lekys Roman bewegt, und zwar nicht nur eine eli­täre Klein­gruppe von Lite­ra­tur­pro­fes­so­ren (die wahr­schein­lich gerade nicht), son­dern sehr viele Men­schen. Die­ses Buch zu lesen macht anschei­nend vie­len eine Freude – mir übri­gens auch. Und auch wenn es in „Was man von hier aus sehen kann“ viel­leicht manch­mal beschau­lich und lagom zugeht, beweist der Roman doch ein Gespür für feine Nuan­cen und für die Sprache.

Warum das aber irgend­wie egal zu sein scheint, hängt mit dem E und dem U zusam­men. In der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur unter­schei­det man gemein­hin E‑Literatur (ernste Lite­ra­tur) und U‑Literatur (unter­hal­tende Lite­ra­tur). U‑Literatur ver­irrt sich eher sel­ten in die Hände von Pro­fes­so­ren und soge­nann­ten Intel­lek­tu­el­len, in Semi­nare an der Uni­ver­si­tät oder auch in die Aus­wahl für einen Lite­ra­tur­preis. Das mag daran lie­gen, dass schon Goe­the damals Unter­hal­tung min­der­wer­tig fand und meinte, sie habe in der Lite­ra­tur nichts zu suchen. Und wenn Goe­the das meinte, dann sehen wir das heute wohl immer noch so.

Mehr als nur schwarz und weiß – Okapi-Literatur?

Aber wieso eigent­lich? Kann es nicht Lite­ra­tur geben, die unter­hält, und trotz­dem auch Ansprü­chen gerecht wird? Die uns bewegt, und trotz­dem künst­le­risch ist? Die ihre Lese­rIn­nen nicht für dumm ver­kauft, aber sie auch nicht über­for­dert und in eine abge­ho­bene Welt ohne Anfüh­rungs­zei­chen ent­führt, nur um bes­ser zu sein? Natür­lich gibt es auch wun­der­bare E‑Literatur, die lei­der viel zu wenig gele­sen wird. Und natür­lich hängt es nicht nur von der Qua­li­tät eines Romans ab, ob er viele Lese­rIn­nen fin­det, son­dern immer auch vom Mar­ke­ting und der Über­zeu­gungs­kraft von Ver­la­gen und ande­ren Men­schen. Den­noch, bei Lite­ra­tur sollte es mei­ner Mei­nung nach auch um die Men­schen gehen. Ein Platz auf der Best­sel­ler­liste allein sollte keine Recht­fer­ti­gung für Kri­tik sein.

Eine eigene Mei­nung ist natür­lich gleich­wohl immer in Ord­nung und jedem Lite­ra­tur­pro­fes­sor steht es voll­kom­men frei, einen Roman nicht zu mögen, egal ob E oder U. Schön ist es doch immer­hin, dass durch eine Ver­an­stal­tung wie die Lite­ra­Tour Nord auch mal ein etwas unter­halt­sa­me­rer Roman sei­nen Weg in die hei­li­gen Hal­len der Uni­ver­si­tät fin­den kann, unab­hän­gig davon, wie er dort dann auf­ge­nom­men wird. Viel­leicht regt er sogar dazu an, sich Gedan­ken über die E- und U‑Schubladen in unse­ren Köp­fen zu machen und dar­über, ob nicht man­che Romane so sind wie Oka­pis – man kann sie in keine Schub­lade einsortieren.

Illus­tra­tion: Satz­hü­te­rin Pia

Das Okapi und der Tod

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Das Okapi und der Tod – Bücherstadt Kurier 10. Februar 2018 - 14:06

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