Über das Land und noch weiter Deutscher Buchpreis 2016

by Zeichensetzerin Alexa

Peter Stamms „Weit über das Land“ ist ein Buch über das Davon­ge­hen, über tiefe Bin­dun­gen und das Leben. Zu Recht stand es ver­gan­ge­nes Jahr auf der Lon­g­list des Deut­schen Buch­prei­ses. – Von Zei­chen­set­ze­rin Alexa

„Weit über das Land“ beginnt mit all­täg­li­chen Din­gen. Es geht um eine Fami­lie, die gerade erst vom Urlaub zurück­ge­kehrt ist. Der Abend ist ruhig. Mann und Frau sit­zen auf der Holz­bank vor ihrem Haus und trin­ken Wein, wäh­rend die Kin­der in ihren Bet­ten lie­gen. Tho­mas lässt die Gedan­ken schwei­fen, stellt sich vor, wie der nächste Tag aus­se­hen und wie der All­tag wie­der begin­nen würde. Wie alles sei­nen gewohn­ten Ablauf wie­der anneh­men würde. Er konnte alle Schritte sei­ner Frau vor­aus­sa­gen, die sei­ner Kin­der, die der Nachbarn.

Gehen

„Tho­mas stand auf und ging auf dem schma­len Kies­weg am Haus ent­lang. An der Ecke ange­langt, zögerte er einen Augen­blick, dann bog er mit einem erstaun­ten Lächeln, das er mehr wahr­nahm als emp­fand, zum Gar­ten­tor ab.“ (S. 13) Tho­mas geht. So plötz­lich, dass es selbst beim Lesen unwirk­lich erscheint, so als würde er das nur in sei­nen Gedan­ken tun. Eine „was wäre, wenn“-Vorstellung. Aber dem ist nicht so. Tho­mas geht und ver­lässt seine Frau und seine Kin­der. Lässt alles hin­ter sich zurück, um das eigene Leben zu leben, fernab des All­tags, der Ver­ant­wor­tung und gesell­schaft­li­chen Zwän­gen. Er geht durch die Natur und fin­det zum „Leben“ zurück: „Es war ihm, als lauere etwas in der Dun­kel­heit, kein Mensch, kein Tier, eine Art all­ge­mei­ner Leben­dig­keit, die den gan­zen Wald umfasste.“ (S. 15/16)

Ver­las­sen

Tho­mas zieht immer wei­ter, lernt andere Men­schen ken­nen, arbei­tet hier und da, schlägt sich durch, sieht viel von der Welt. Astrid, seine Frau, lebt das Leben mit ihren Kin­dern wei­ter, geht ihrer Ver­ant­wor­tung nach und küm­mert sich um alles. Anfangs ver­sucht sie noch den Schein zu wah­ren, indem sie Tho­mas auf der Arbeit krank­mel­det und den Kin­dern erzählt, ihr Vater sei schon frü­her zur Arbeit gefah­ren. „Aber plötz­lich war sie sicher, dass Tho­mas auch zum Abend­essen nicht kom­men würde und auch mor­gen nicht. Das Gefühl nahm ihr den Atem, sie machte sich keine Sor­gen, sie emp­fand eine läh­mende Angst, als wüsste sie schon, was gesche­hen würde.“ (S. 27/28) Bald muss sie sich dem Gefühl, ver­las­sen wor­den zu sein, stel­len – mit allem, was dazugehört.

Zwei Wel­ten

Peter Stamm ist es gelun­gen, zwei Lebens­wel­ten aus ver­schie­de­nen Per­spek­ti­ven auf­zu­zei­gen, die voll­kom­men gegen­sätz­lich sind. Wäh­rend Tho­mas den Wunsch nach Frei­heit und Selbst­be­stim­mung ver­kör­pert, stellt Astrid die ver­ant­wor­tungs­be­wusste Frau und Mut­ter dar. Diese Rol­len­ver­tei­lung wirkt auf den ers­ten Blick kli­schee­haft, wirft jedoch auch die Frage in den Raum, ob es Müt­tern grund­sätz­lich schwe­rer fällt, ihre Fami­lie zu ver­las­sen. Mit Sicher­heit wird Astrid, genau wie Tho­mas, ihre Träume haben, wel­che sie wegen ihrer Kin­der nicht aus­le­ben kann. Aber es ist nicht sie, die geht, um sie zu ver­wirk­li­chen, son­dern ihr Mann. Als Frau ist sie nicht nur der Ver­ant­wor­tung gegen­über ihrer Fami­lie ver­pflich­tet, son­dern auch gesell­schaft­li­chen Zwän­gen und Nor­men. Würde sie ihre Kin­der ver­las­sen, wäre sie der Kri­tik aller Außen­ste­hen­den aus­ge­setzt. Wenn ein Mann geht, wird das weni­ger kon­tro­vers aufgefasst.

Und das ist auch der Grund, wes­halb sich im Laufe des Romans das Gefühl von Unfair­ness ein­schleicht. Die Leser sehen durch sprach­li­che Bil­der, was Tho­mas erlebt. Es ist eine schöne, natur­nahe Welt, die zwar ihre Gefah­ren hat, aber den­noch den Ein­druck ver­mit­telt, es sei eine schö­nere als jene, in der Astrid lebt. Astrid ist die, die ver­lo­ren hat. Ver­las­sen, der kom­plet­ten Ver­ant­wor­tung über­las­sen, an einem Ort gefan­gen. Sie kann aus ihrer Welt nicht aus­bre­chen, weil es nie­man­den gibt, der sie erset­zen könnte.

Lebens­nah

„Das Früh­stück ohne Tho­mas war fast schon Rou­tine, aber nach­dem die Kin­der aus dem Haus waren, ging Astrid ruhe­los durch die Räume, nahm Dinge in die Hand und legte sie wie­der hin.“ (S. 47)

Tho­mas‘ Hand­lung ist unvor­stell­bar und vor­stell­bar zugleich. Der Schreib­stil ver­mit­telt eine der­ar­tige Leich­tig­keit und Klar­heit, dass sie den Kon­trast zur Gefühls­lage der Prot­ago­nis­ten bil­det. Die Zei­len ver­flie­gen, die Spra­che trägt mit kla­ren Wor­ten und Sät­zen durch die Geschichte. Sprach­lich erscheint alles ein­fach. Inhalt­lich springt man in tiefe Gewäs­ser, vol­ler Gedan­ken und Gefühls­be­schrei­bun­gen. Sowohl Tho­mas als auch Astrid müs­sen mit ihren Erin­ne­run­gen und ihrer Situa­tion klar­kom­men. Gerade die­ser Stil trägt dazu bei, dass die Geschichte lebens­nah erscheint. Man kann sich in die Lage bei­der Prot­ago­nis­ten hin­ein­ver­set­zen und sich vor­stel­len, dass sich diese Geschichte auch in der Rea­li­tät hätte abspie­len können.

Wenn­gleich die Rol­len­ver­tei­lung in „Weit über das Land“ kri­tisch zu betrach­ten ist, ist der Roman vor allem im Hin­blick auf die emo­tio­nale und gedank­li­che Tiefe sowie die sti­lis­ti­sche Umset­zung sehr lesenswert.

Weit über das Land. Peter Stamm. S. Fischer. 2016.

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1 comment

Leben reloaded – Bücherstadt Kurier 9. April 2018 - 22:30

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