Über Kunst, Komik und Chaos

by Bücherstädterin Rosi

Ber­lin-Kreuz­berg, zu Beginn der 1980er Jahre: Erwin Kächele, der selbst­er­nannte „Erfolgs­gas­tro­nom“, will doch nur mit sei­ner schwan­ge­ren Freun­din Helga in sei­ner klei­nen Woh­nung in der Fabrik­etage „zu zweit und fried­lich und in Ruhe“ leben – ohne seine bis­he­ri­gen Mit­be­woh­ner Karl Schmidt, Frank Leh­mann, seine Nichte Chris­sie und den Extrem­künst­ler H. R. Ledigt. Damit stößt er eine Reihe von spek­ta­ku­lä­ren wie wit­zi­gen Ereig­nis­sen an, die alle zu einem gro­ßen Gan­zen gehö­ren. Buch­schatz­meis­te­rin Rosi begibt sich auf eine Reise in die „Wie­ner Straße“.

Für seine Freunde mie­tet Erwin Kächele eine Woh­nung über sei­ner Kneipe, dem „Ein­fall“. Eine gute Idee, fin­det er, doch die „Pfei­fen“, wie er sie nennt, kau­fen die Sachen, die sie für die Reno­vie­rung ihrer neuen Woh­nung brau­chen, auf Erwins Kos­ten im Bau­markt ein, las­sen ihn die Ein­käufe nach Hause fah­ren und in die Woh­nung schlep­pen und dann steht er in der matt-schwarz gestri­che­nen Woh­nung plötz­lich im Dun­keln – wahr­haft ein Sym­bol für Erwins düs­te­ren Gemütszustand.

Sven Rege­ner beschreibt Erwin Käche­les Gedan­ken­gänge in einem ein­zi­gen Satz, der sich über die drei ers­ten Sei­ten des Romans erstreckt. In die­sem nicht enden wol­len­den Kon­glo­me­rat aus Wör­tern zeigt sich Erwins Gedan­ken- und Gefühls­welt beein­dru­ckend klar und deut­lich, und wei­ter­ge­hend, wenn er „Mach doch mal Licht an“ ruft und sein Freund Karl sagt: „Ich finde hier kei­nen Lichtschalter“.

Schon der Beginn von Sven Rege­ners neuem Roman „Wie­ner Straße“ ist also spek­ta­ku­lär. In der Folge erzählt er in fünf Kapi­teln viele kleine Epi­so­den über die vie­len unter­schied­li­chen Typen im Kreuz­berg der 1980er: über Erwin und des­sen ner­vige Nichte Chris­sie und ihre Pläne im „Ein­fall“, über Erwins Schwes­ter Kers­tin, über die Haus­be­set­zer der ArschArt-Gruppe, über Künst­ler wie Karl Schmidt, P. Immel und H. R. Ledigt, über einen Kon­takt­po­li­zis­ten, den KOB, über den Sozi­al­päd­ago­gen und Möchte-gern-Kunst­ku­ra­tor Wie­mer und natür­lich über Frank Lehmann.

Ret­tung auf Österreichisch

Ein wei­te­rer Höhe­punkt der „Wie­ner Straße“ ist zwei­fel­los die Ret­tung von Kacki, einem der Mit­glie­der der ArschArt-Gruppe. Kacki ist sozu­sa­gen der Favo­rit von Grup­pen­chef P. Immel, wes­halb er als ein­zi­ger der ArschArt-Mit­glie­der auch die­sen beson­de­ren Namen und einen kack­brau­nen Anzug tra­gen darf. Wie die ande­ren Mit­glie­der der Künst­ler­gruppe ist Kacki Öster­rei­cher, was in West-Ber­lin kei­ner wis­sen darf. Bei Fern­seh­auf­nah­men über die ArschArt-Gal­le­rie sitzt der von Höhen­angst geplagte Kacki mit sei­nem Stuhl am Rand des Daches und droht hin­un­ter­zu­fal­len. Um dies zu ver­hin­dern und Kacki zu ret­ten, macht sich P. Immel auf, sei­nen Freund aus der Gefah­ren­zone zu holen. Hier­bei macht er die komischs­ten Bewe­gun­gen, die aber­wit­zigs­ten Ver­ren­kun­gen und auch die ande­ren Mit­glie­der der Künst­ler­gruppe spie­len mit, wenn P. Immel sich zu Kacki quasi herabseilt.

Dem – eben­falls öster­rei­chi­schen – Fern­seh­re­por­ter Pro­haska mutet dies wie eine spon­tane Per­for­mance an, begeis­tert lässt er die Gescheh­nisse vom Kame­ra­mann auf­zeich­nen. Die Leser kön­nen sich den Ablauf der Ret­tungs­ak­tion vor ihrem geis­ti­gen Auge bild­haft vor­stel­len, auch hören sie im Kopf den typi­schen „Wie­ner Schmäh“, wenn P. Immel ver­sucht, sei­nen Freund vom Rand des Daches weg­zu­zie­hen. Rege­ner schreibt hier span­nend und komisch zugleich und prä­sen­tiert sich als ein wah­rer Meis­ter der schrei­ben­den Zunft!

Lie­be­voll über­zeich­nete Cha­rak­tere und die Frage nach Kunst

Die Figu­ren des Romans sind alle­samt ein wenig über­zeich­net, ohne jedoch dabei geküns­telt zu wir­ken. Erwins Nichte Chris­sie etwa wirkt auf die Leser wie eine Ner­ven­säge, immer zickig und auf Wider­worte bedacht. Diese Eigen­schaft hat sie anschei­nend von ihrer Mut­ter Kers­tin geerbt. Deren Dis­kus­sio­nen mit dem DDR-Grenz­schutz­be­am­ten las­sen einem den Atem sto­cken, so offen­her­zig und frech sind sie. Man erwar­tet, dass sie jeden Augen­blick von der DDR-Obrig­keit ver­haf­tet wird, doch glück­li­cher­weise darf sie wei­ter­rei­sen, nach­dem sie an der inner­deut­schen Grenze die Strafe für ihren abge­lau­fe­nen Pass mit har­ter D‑Mark-Wäh­rung bezahlt hat.

Der Extrem­künst­ler H. R. Ledigt zeigt bereits zu Beginn des Romans in einem Bau­markt, wo er von sei­nen schus­se­li­gen Freun­den ein­fach ver­ges­sen wurde, patho­lo­gi­sche Züge, wenn er sich eine Ket­ten­säge und eine Grab­schau­fel kauft. In der Folge lebt er seine patho­lo­gi­schen Züge knall­hart aus, wenn er etwa cho­le­risch mit lau­fen­der Ket­ten­säge im „Ein­fall“ her­um­han­tiert und alles Mög­li­che zer­sägt, nur um zu zer­sä­gen. Doch ist es für ihn Kunst, wenn er heim­lich in der Nacht nahe der Mauer, die Ber­lin damals teilt, ver­bo­te­ner­weise einen Baum absägt, den er dann spä­ter bei der Kunst­au­stel­lung „Die Haut der Stadt“ als ein Kunst­werk prä­sen­tie­ren will.

Über­haupt stellt sich immer wie­der die Frage, was Kunst denn eigent­lich ist. Etwa der ver­brannte Kuchen, den Chris­sie im „Ein­fall“ an eine Gruppe japa­ni­scher Tou­ris­ten auf Sight-see­ing-Tour ver­kauft? Die zuge­na­gel­ten Holz­kis­ten des Karl Schmidt in der „Neuen Neuen Natio­nal­ga­le­rie“, einer Aus­lage im Tre­sen des „Ein­fall“? Oder die Kunst- und Per­for­mance­ak­tio­nen in der Aus­stel­lung „Haut der Stadt“? Hier muss sich jeder Lesende seine eigene Mei­nung bilden.

Prä­di­kat: Beson­ders wertvoll!

Sven Rege­ners Roman „Wie­ner Straße“ ist abwechs­lungs­reich, span­nend und komisch zugleich geschrie­ben. Die herr­lich über­zeich­net dar­ge­stell­ten Cha­rak­tere, die all­ge­gen­wär­tige Fäkal­spra­che und Wort­spiele beschrei­ben in vie­len klei­nen All­tags-Epi­so­den auf lie­bens­werte Art die Komik und das Chaos mensch­li­chen Lebens und Mit­ein­an­ders im Kreuz­berg der 1980er Jahre. Sie wer­den zwar ein­zeln beschrie­ben, gesche­hen jede für sich quasi alleine; doch gehö­ren sie alle zu einem gro­ßen Gan­zen. Und in all der Hek­tik und bei all dem Chaos behält nur einer die Ruhe und den Über­blick: Frank Lehmann.

„Wie­ner Straße“ ist ein sehr lesens­wer­ter Roman, der von der ers­ten bis zur letz­ten Seite höchs­tes Lese­ver­gnü­gen bie­tet. Für Fans von Frank Leh­mann und des Schrift­stel­lers Sven Rege­ner, aber auch für Neu­linge, ein abso­lu­tes Muss!

Wie­ner Straße. Sven Rege­ner. Galiani Ver­lag. 2017.

Was sagen die Feuil­le­töne zum Roman „Wie­ner Straße“? Erfahrt mehr in der 228. Sen­dung! Wir wün­schen viel Spaß beim Hören.

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1 comment

Sven Regener in der Glocke in Bremen – Bücherstadt Kurier 7. April 2018 - 22:56

[…] stam­men­de Mu­si­ker und Schrift­stel­ler Sven Re­ge­ner las aus sei­nem Ro­man „Wie­ner Stra­ße“. Als gro­ßer Fan der Kult­fi­gur Herr Leh­mann und der Bü­cher von Sven Re­ge­ner war […]

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