Uraufführung des Musiktheaters „Anna Karenina“

by Zeichensetzerin Alexa

Bre­men – Am ver­gan­ge­nen Sams­tag­abend wurde die Urauf­füh­rung des Musik­thea­ters „Anna Kare­nina“ gefei­ert. Ein mul­ti­me­dia­les Erleb­nis in drei Atmo­sphä­ren nach dem Roman von Leo Tol­stoi. Bücher­städ­ter Alexa und Aaron haben sich das Stück im Rah­men des Pro­jek­tes „Rus­si­sche Lite­ra­tur“ angesehen.

Anna Kare­nina (rus­sisch: Анна Каренина) ist ein Roman von Leo Tol­stoi. Er ent­stand zwi­schen 1873 und 1878 und gilt heute als eines sei­ner bes­ten Werke. Das Buch, erst­mals 1877/78 ver­öf­fent­licht, spielt im Russ­land des 19. Jahr­hun­derts und han­delt von Ehe und Moral in der adli­gen Gesell­schaft. Schrift­stel­ler, Regis­seur und Stutt­gar­ter Schau­spiel­in­ten­dant Armin Petras hat Tol­stois Roman 2008 für die Bühne bear­bei­tet. Für das Thea­ter Bre­men haben Tho­mas Kürst­ner und Sebas­tian Vogel „Drei Atmo­sphä­ren“ zu die­ser Büh­nen­fas­sung kom­po­niert: ein Musik­thea­ter­ma­te­rial für Orches­ter, Sän­ger- und SchauspielerInnen.

„Du hast alles noch vor dir.“
„Hast du denn schon alles hin­ter dir?“
„Nein, das nicht gerade, aber du hast noch eine Zukunft und ich habe nur die Gegen­wart, und auch die ist nur soso.“

Wenn einem die Mög­lich­kei­ten im Leben als begrenzt erschei­nen, erstrahlt die Liebe in einem ande­ren Licht. Ein Anker, ein Fun­ken, der einem das Leben erhellt und Hoff­nung gibt. Liebe, die keine Gren­zen kennt, die Glück und inne­ren Frie­den bringt – Anna Kare­nina (Nadine Leh­ner) sehnt sich danach, eben jene Liebe zu erfah­ren und wagt es, ihr Leben als Ehe­frau und Mut­ter dafür auf­zu­ge­ben. Blind vor Liebe flüch­tet sie mit dem Gra­fen Wron­ski (Hubert Wild) und gibt sich der Lei­den­schaft hin. Doch das Glück ist nicht von lan­ger Dauer…

Mul­ti­me­diale Umsetzung

Hand­lung und Hin­ter­grund­in­for­ma­tio­nen erfah­ren die Besu­cher bereits wäh­rend der Ein­füh­rung. Es wird auf gewagte Stil­mit­tel (z.B. absicht­li­che sprach­li­che Feh­ler) hin­ge­wie­sen und das Mul­ti­me­diale erklärt. Schon im Vorn­her­ein wis­sen die Besu­cher dem­nach genau, was sie erwar­tet. Der Umstand, dass diese Stil­mit­tel dem Publi­kum erklärt wer­den, lässt den Ein­satz der gewag­ten Stil­mit­tel weni­ger mutig erschei­nen. Dabei hätte das Mul­ti­me­diale nicht wei­ter erläu­tert wer­den müs­sen, denn bereits beim Betre­ten des Saals neh­men die Besu­cher es selbst wahr.
Wäh­rend sich das Orches­ter (von den vor­de­ren Rän­gen aus unter der Bühne zu sehen) ein­spielt, wallt Kunst­ne­bel über die Bühne. Eine helle Holz­platte steht auf höl­zer­nen Bal­ken etwas wei­ter im Hin­ter­grund und nimmt die Bühne in ihrer gesam­ten Breite und Höhe ein. Unter der Holz­platte kön­nen die Zuschauer zwi­schen den Bal­ken (Höhe ca. 1,60 m) hin­durch auf den hin­te­ren Teil der Bühne sehen. Auf der Holz­platte wird ein Video in schwarz­weiß pro­ji­ziert. Im Video fährt die Kamera an einer Szene vor­bei, in der vier Per­so­nen an einem gedeck­ten Tisch sit­zen und die direkt in die Kamera bzw. zum Zuschauer bli­cken. Dann ver­stum­men die Instru­mente, die Video­pro­jek­tion wird gestoppt und das Stück beginnt.

Die Schau­spie­ler betre­ten in ihren Kos­tü­men wort­los die Bühne. Das Publi­kum applau­diert. Es wird über Laut­spre­cher die Ton­spur eines Regen­gus­ses wie­der­ge­ge­ben und auf der Holz­wand ein Video pro­ji­ziert, das die­sen Ein­druck unter­stützt. Fast alle Schau­spie­ler ver­las­sen wie­der die Bühne. Drei von ihnen sind hin­ter den Bal­ken zu erken­nen. Lewin (Chris­toph Hein­rich) bleibt mit einer Milch­kanne vorne und bringt im Mono­log sogleich wich­tige Schlag­wör­ter des Stü­ckes her­vor: Glück, Frei­heit, Wag­nis und Ver­lust. Schon jetzt fällt auf, dass die unge­schmückte Spra­che im Gegen­satz zu der künst­le­ri­schen stimm­li­chen Dar­bie­tung steht. Die Ges­tik der Figu­ren wirkt natür­lich und unge­küns­telt. Es kommt ein Gefühl der Authen­ti­zi­tät auf. Etwas befremd­lich wirkt der Ein­satz der eng­li­schen Spra­che. Das Stück zeigt die Geschichte „Anna Kare­nina“ ins­ge­samt aus ihrem zeit­li­chen Kon­text ent­ho­ben – somit zeit­los und gleich­zei­tig aktu­ell. Eng­li­sche Ein­würfe wie „That’s it“ zie­hen die Dia­loge in eine sprach­li­che Ein­fach­heit, die der tie­fen, melan­cho­li­schen Stim­mung ent­ge­gen­wir­ken, was den Zuschauer stö­ren kann, aber nicht muss. Hin und wie­der wer­den Sätze auf Rus­sisch gespro­chen oder gesun­gen, die rus­si­sche Spra­che bleibt jedoch wei­test­ge­hend im Hintergrund.

Die abwechs­lungs­rei­chen Mit­tel des Gesche­hens zie­hen den Zuschauer immer wie­der in den Bann. Über­ra­schende und beein­dru­ckende Bei­spiele hier­für: Zusam­men mit Dascha (Natha­lie Mit­tel­bach) kommt Nebel an den vor­de­ren Rand der Bühne. Die Schau­spie­le­rin bleibt ste­hen, doch der Nebel zieht wei­ter, hüllt sie ein, dringt wei­ter vor ins Publi­kum und bringt den Geruch von Räu­cher­werk mit sich. Eine andere Situa­tion: Nach 25 Minu­ten ist auf ein­mal die Bühne gefüllt mit Schau­spie­lern und Sän­gern. Acht Paare in groß­ar­ti­ger Fest­klei­dung tan­zen im Vor­der­grund. Der Chor singt im Hin­ter­grund. Über das Video sieht der Zuschauer, was hin­ter den wir­beln­den Ball­klei­dern sonst nicht zu sehen sein würde: die Mimik und Ges­tik der zuschau­en­den Kitty (Nerita Pok­vy­tyte). Kurz danach zer­bricht Kit­tys Welt gleich­zei­tig mit einem lau­ten 3D-Sound und eines Videos einer zer­bers­ten­den Glühbirne.

Bot­schaf­ten und Moral

Doch auch mit sub­ti­le­ren Mit­teln weiß das Stück, Bot­schaf­ten zu über­mit­teln. So bleibt die Video­pro­jek­tion teil­weise aus­ge­schal­tet, wäh­rend die Holz­wand als Flä­che für die Schat­ten der ange­strahl­ten Schau­spie­le­rIn­nen dient. Das Stück wirkt auch nicht gezwun­gen modern, son­dern nutzt die mul­ti­me­dia­len Mit­tel, um im erzäh­len­den Cha­rak­ter den Inhalt zu ver­mit­teln. In einem groß­ar­ti­gen Mono­log bringt Ste­fan (Mar­tin Baum) ein Gleich­nis eines gie­ri­gen Bau­ern her­vor, der sich unbe­dacht etwas nimmt, um spä­ter her­aus­zu­fin­den, dass die­ses Etwas tot ist. Er fragt sich, ob es schon tot war, bevor er es nahm – oder ob es erst starb, als er es hatte.

Die Inter­tex­tua­li­tät der Dar­bie­tung des Inhalts ver­langt vom Publi­kum einen hohen Grad der Empa­thie ab, jedoch hel­fen hier die viel­fäl­ti­gen Ideen. Z.B. wird Kit­tys wahn­sin­nige Ent­schei­dung zur Hei­rat mit einer Freeze-Cho­reo­gra­phie eini­ger Dop­pel­gän­ge­rin­nen beglei­tet. Oder Wronskis rein kör­per­li­che Absich­ten mit Anna Kare­nina wer­den mit Hilfe einer ima­gi­nä­ren Sand­plas­tik deut­lich gemacht – und anschlie­ßend von einer Kunst­kri­ti­ke­rin ins Lächer­li­che gezo­gen. Ein Video zeigt den schmerz­er­füll­ten Kare­nin, wie er in der Bre­mer Innen­stadt raucht und sich betrinkt, wodurch etwas auf­ge­zeigt wird, was so auf der Bühne nicht hätte umge­setzt wer­den können.

Musik

Nicht zuletzt sei auf die beein­dru­cken­den Chöre hin­ge­wie­sen. Sicht­bar setzt sich jedes Chor­mit­glied ins Zeug, was eine gran­diose Insze­nie­rung aus­macht. Ein­mal sogar zu sehr, so über­tönt der Frau­en­chor den Kin­der­chor, dass die­ser kaum zu hören ist. Der Text der Opern­sän­ger wird für alle sicht­bar auf eine Wand pro­ji­ziert, sodass man dem gesun­ge­nen Text und somit dem Inhalt gut fol­gen kann. Die anfangs noch feh­lende Atmo­sphäre rus­si­scher Geschichte stei­gert sich zum Ende hin. So wird die rus­si­sche Seele noch ein­mal rich­tig ange­spro­chen: Die Schau­spie­ler ver­mi­schen Pop und Oper und sin­gen vol­ler Emo­tio­nen, von Gitar­ren­klän­gen beglei­tet, das Stück „Kat­ju­scha“.

Das Musik­thea­ter „Anna Kare­nina“ zeigt wie es aus­se­hen kann, wenn Kunst und Lite­ra­tur ver­bun­den wer­den. Gebo­ten wird einem ein moder­nes, mul­ti­me­dia­les Stück, das ergän­zend zum Buch gese­hen wer­den kann, die­ses jedoch nicht ersetzt. Das liegt allein schon an der Tat­sa­che, dass ein Roman von knapp 1200 Sei­ten nicht kom­plett auf die Bühne gebracht wer­den kann und dem­nach viele Kür­zun­gen vor­ge­nom­men wer­den muss­ten. Die Haupt­hand­lung bleibt aller­dings die gleiche.

Ter­mine:
Diens­tag, 28. Okto­ber 2014, 19:30 Uhr
Sams­tag, 01. Novem­ber 2014, 19:30 Uhr
Mitt­woch, 12. Novem­ber 2014, 19:30 Uhr
Don­ners­tag, 20. Novem­ber 2014, 19:30 Uhr
Diens­tag, 09. Dezem­ber 2014, 19:30 Uhr
Frei­tag, 19. Dezem­ber 2014, 19:30 Uhr
Sams­tag, 24. Januar 2015, 19:30 Uhr

Wei­tere Infor­ma­tio­nen zum Pro­jekt „Rus­si­sche Lite­ra­tur“ fin­det ihr hier.
Fotos: Jörg Landsberg

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