Verworrene Rundreise durch Wien und das Leben

by Worteweberin Annika

Was haben eine ver­wit­wete Leh­re­rin, ein altes Haus in der Gro­ßen Moh­ren­gasse in Wien, Man­ner Schnit­ten und Knä­cke­brot, ein ver­rückt spie­len­der Auf­zug und ein wei­ßes Kanin­chen gemein­sam? Sie alle sind Teil des Romans „Lucia Binar und die rus­si­sche Seele“ von Vla­di­mir Vertlib, der auf der Lon­g­list des Deut­schen Buch­prei­ses 2015 gelan­det ist. Worte­we­be­rin Annika hat sich auf eine Odys­see in die Große Moh­ren­gasse mit­neh­men lassen.

Alles beginnt, als die rüs­tige Rent­ne­rin Lucia Binar einen gan­zen Tag lang auf ihr Essen auf Rädern war­ten muss. Auf Nach­frage rät man ihr im Call Cen­ter, sie solle auf Man­ner Schnit­ten und Knä­cke­brot umstei­gen. Kurz dar­auf steht ein Mäd­chen vor Lucias Tür und wirbt für eine Peti­tion, die „Moh­ren­gasse“ in „Möh­ren­gasse“ umzu­be­nen­nen. Als dann auch noch Obdach­lose in das Mehr­fa­mi­li­en­haus ein­zie­hen und Lucia nachts kein Auge mehr zu bekommt, wird es ihr zu bunt. Sie will doch ein­fach nur in Ruhe ster­ben dür­fen; hier, wo sie vor 83 Jah­ren gebo­ren wurde.

Aber es scheint, als hätte ganz Wien andere Pläne, vor allem der Haus­be­sit­zer Wil­helm Neff. Er will die Mehr­fa­mi­li­en­häu­ser auf der Gro­ßen Moh­ren­gasse sanie­ren las­sen und ver­sucht nun, alle alten Mie­ter los­zu­wer­den, dar­un­ter auch Lucia und das Mäd­chen mit der Peti­tion, das sich als Junge namens Moritz ent­puppt. Gemein­sam bege­ben sich die Senio­rin und der Stu­dent auf eine Irr­fahrt durch Wien, die letzt­lich in einer Vor­stel­lung des rus­si­schen Magi­ers Vik­to­ro­witsch endet, einer rus­si­schen See­len­reise eben, in der sich man­ches auf­zu­klä­ren scheint.

Vertlibs Roman ist manch­mal ver­wor­ren wie das Leben selbst. Die vie­len Geschich­ten, die sich im Wie­ner Groß­stadt­rummel kreu­zen, ent­hül­len ein Pan­orama der heu­ti­gen Gesell­schaft – ob nun spe­zi­ell in Öster­reich oder in Europa all­ge­mein. So kom­men The­men wie der Umgang mit Flücht­lin­gen, Obdach­lo­sig­keit, Schuld und Gerech­tig­keit zur Spra­che, kom­bi­niert mit Humor und skur­ri­len Einfällen.

Da die Ant­wort auf die Frage, was all diese Ein­fälle mit­ein­an­der zu tun haben, oft aller­dings: „Nicht viel!“ lau­ten muss, kommt beim Lesen lei­der auch Ver­wir­rung auf. Stän­dig springt die Erzäh­lung zwi­schen Lucias Sicht, ihren Erin­ne­run­gen und der Sicht zweier Rand­fi­gu­ren und deren Erin­ne­run­gen hin und her, ohne dass das die Hand­lung vor­an­ge­trie­ben wird. Nicht sel­ten wirkt das eher bemüht und kon­stru­iert, wenn Lucia dann plötz­lich auch noch kom­men­tar- und bezugs­los anfängt, Teile ihrer Memoi­ren zu ver­fas­sen, sogar halbherzig.

Mög­lich, dass der bunte Buch­ein­band in Kom­bi­na­tion mit dem Titel und dem Ver­weis auf eine Senio­rin auf Irr­fahr­ten spä­tes­tens nach „Der Hun­dert­jäh­rige, der aus dem Fens­ter stieg und ver­schwand“ gewisse Asso­zia­tio­nen wecken. Mög­lich auch, dass trotz die­ser Erwar­tun­gen nicht jede Geschichte von alten Men­schen so komisch, locker flo­ckig zu lesen und herz­er­wär­mend sein muss, wie die eben jenes Hun­dert­jäh­ri­gen. Schließ­lich ist es gut, wenn ein Autor seine eige­nen Wege geht und etwas ganz Neues macht. Das gewisse Etwas sollte aber trotz­dem nicht feh­len, und das in „Lucia Binar und die rus­si­sche Seele“ zu fin­den, mag nicht allen so leicht fal­len. Letzt­end­lich scheint es nicht ver­wun­der­lich, dass andere Bücher als „Lucia Binar und die rus­si­sche Seele“ auf der Short­list des Deut­schen Buch­prei­ses gelan­det sind.

Lucia Binar und die rus­si­sche Seele. Vla­di­mir Vertlib. Deu­ti­cke Ver­lag. 2015.

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