Von Göttern, Münzen und gesprengten Schubladen

by Buchstaplerin Maike

An Neil Gai­m­ans Büchern schei­nen sich die Geis­ter zu schei­den – ent­we­der man liebt sie oder man hasst sie. Aber eines ist klar: sie sind unge­wöhn­lich und zie­hen die Auf­merk­sam­keit auf sich. Ein Para­de­bei­spiel dafür ist „Ame­ri­can Gods“. Bei Eich­born ist nun, 15 Jahre nach den ers­ten Erfol­gen des Romans, die Lieb­lings­fas­sung des Autors auf Deutsch erschie­nen. - Von Buch­stap­le­rin Maike

Als Shadow aus dem Gefäng­nis ent­las­sen wird, glaubt er, sein Leben neu begin­nen zu kön­nen. Doch seine zweite Chance kommt anders als gedacht. Seine Frau ist ver­un­glückt und in sei­ner Hei­mat war­tet kein Job auf ihn. Da bie­tet ein selt­sa­mer alter Trick­be­trü­ger, der sich Mr. Wed­nes­day nennt, Shadow einen Deal an, der sein Leben ver­än­dern soll. Zöger­lich wil­ligt er ein, denn was hat er jetzt noch zu ver­lie­ren? Ein Road­t­rip durch Ame­rika beginnt, bei dem Wed­nes­day und Shadow geheim­nis­volle Orte auf­su­chen und unmög­li­chen Per­so­nen begeg­nen. Bald stellt sich her­aus, dass die Dinge mehr sind, als sie schei­nen. Ein Krieg steht bevor, und kein gewöhn­li­cher Krieg: Die Göt­ter der alten Mytho­lo­gien, die fast in Ver­ges­sen­heit gera­ten sind, bezie­hen Auf­stel­lung gegen die neuen Göt­ter der Medien. Und Shadow ist mittendrin...

„Wir kämp­fen ums Über­le­ben, am Rand der Dinge, wo nie­mand uns allzu genau beob­ach­tet. […] Alte Göt­ter, hier in die­sem neuen, göt­ter­lo­sen Land.“ (Wed­nes­day, S. 166)

Ame­ri­can Gods ist ein Roman, der sich in kein Genre ein­ord­nen lässt. Die Geschichte um Shadow und Wed­nes­day ist viel­schich­tig und bunt: Ele­mente von Road­t­rip, Thril­ler, Aben­teuer, Hor­ror, Fan­tasy und sogar Lie­bes­ge­schichte ver­flech­ten sich zu einem Epos. Dabei kommt es zu einem Rund­um­schlag durch die alten Mytho­lo­gien, etwa den nor­di­schen, den ägyp­ti­schen oder den indi­schen Sagen, der durch­aus ver­wir­ren kann.
Auch wenn der Schwer­punkt auf Shadows Geschichte liegt, gibt es lose Zwi­schen­spiele, die illus­trie­ren, wie Göt­ter und Wesen der Alten Welt nach Ame­rika gekom­men sind und wie es ihnen dort ergeht. Diese Kapi­tel kön­nen durch­aus für sich allein ste­hen und lockern das Buch auf.
Beson­ders inter­es­sant ist Shadow als Prot­ago­nist gestal­tet: Er bleibt zunächst farb­los, denn es gibt nach dem Tod sei­ner Frau kein gro­ßes Ziel mehr in sei­nem Leben. So schlit­tert er in die Geschichte hin­ein, reagiert mal naiv, mal intel­li­gent auf die Ereig­nisse und kommt den Schat­ten sei­ner eige­nen Ver­gan­gen­heit immer näher.

Motive und Spra­che: Die zwei Sei­ten einer Münze

Schnell wird das Leit­mo­tiv des Buches her­aus­ge­ar­bei­tet. Erschei­nen die Münztricks, die Shadow aus Lan­ge­weile übt, zunächst als nich­tige Details, wird bald das Aus­maß des Bil­des klar: Der Roman spielt mit der Wahr­neh­mung und führt den Lesen­den immer wie­der vor Augen, dass die zwei Sei­ten einer Münze, so unter­schied­lich und wider­sprüch­lich sie sein mögen, immer noch zu ein- und dem­sel­ben Gegen­stand gehö­ren. Auch die Spra­che des Buches gleicht einem Münztrick: Derb, respekt­los und direkt, gleich­zei­tig poe­tisch, nach­denk­lich und mit unnach­ahm­li­cher Beobachtungsgabe.

Der „Director’s Cut“ von Ame­ri­can Gods ist gut zwöf­tau­send Wör­ter län­ger als die preis­ge­krönte Ori­gi­nal­aus­gabe von 2001 und ist damit die Fas­sung, auf die Gai­man am meis­ten stolz ist. Ein Blick in den Roman lohnt sich auch für Men­schen, die mit Fan­tasy weni­ger anzu­fan­gen wis­sen. Denn es geht um nichts ande­res als um die Seele Ame­ri­kas, die gleich­zei­tig alt und jung, bestän­dig und wan­del­bar ist – und vor allem: mehr als man sieht.

Ame­ri­can Gods (Director’s Cut). Neil Gai­man. Über­set­zung: Han­nes Rif­fel. Eich­born. 2015. Ab 16.

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3 comments

belmonte 14. Juni 2015 - 21:24

Schöne Rezen­sion, hätte Lust, das Buch im neuen „Director’s Cut“ erneut zu lesen. Meine eigene Lek­türe der Ver­sion aus dem Heyne-Ver­lag fiel etwas weni­ger posi­tiv aus (http://​wp​.me/​p​1​V​m​d​7​-​114), obwohl ich viele sei­ner Romane, Kurz­ge­schich­ten und vor allem die Sand­man-Reihe bril­lant finde.

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Bücherstadt Kurier 15. Juni 2015 - 23:29

Hallo bel­monte,
das freut mich. Viel­leicht ent­deckst du an dem Buch neue Sei­ten – auch wenn sich im Director’s Cut nicht wirk­lich etwas an der Epi­so­den­haf­tig­keit ver­än­dert hat. Es ist wohl auch der per­sön­li­che Geschmack, wie Ame­ri­can Gods ankommt. Mir per­sön­lich gefällt der Gen­re­mix, wäh­rend Sand­man mich nicht hat begeis­tern kön­nen. Ich bin gespannt, was er noch aus dem Ärmel schüttelt.
Maike

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Vom Anfang der Welt bis zu den Ragnarök – Bücherstadt Kurier 1. Mai 2017 - 17:06

[…] wit­zig, zeit­los: Neil Gai­man, der sei­ne Er­zähl­kunst un­ter an­de­rem schon in „Ame­ri­can Gods“ un­ter Be­weis ge­stellt hat, wid­met sich dies­mal ei­nem ein­zi­gen Sa­gen­kreis und […]

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