Vorgetragene Lyrik: Sangspruchdichtung, Popmusik und Poetry Slam

by Zeichensetzerin Alexa

Wie viel Ori­gi­na­li­tät ist in der Kunst über­haupt noch vor­han­den? Ist Pop­mu­sik poe­tisch? Und was ist eigent­lich „Lite­ra­tur“? Zei­chen­set­ze­rin Alexa macht sich Gedan­ken über Sangs­pruch­dich­tung, Pop­mu­sik, Poe­try Slam und den Literaturbegriff.

Neu­lich unter­hielt ich mich mit einer Bekann­ten über den Lite­ra­tur­no­bel­preis. „Was das eigent­lich soll“, setzte sie an. „Bob Dylan den Nobel­preis für Lite­ra­tur zu ver­lei­hen! Er ist Musi­ker, kein Lite­rat!“ Ich, die schon immer Ver­tre­te­rin des wei­ten Lite­ra­tur­be­griffs war, ent­geg­nete: „Aber was ist denn ein Lite­rat? Und was ist Lite­ra­tur? Wo beginnt sie und wo hört sie auf?“ Die Bekannte ist sich sicher: „Lite­ra­tur ist das, was zwi­schen den Buch­de­ckeln ist!“

Ich erin­nere mich an die unzäh­li­gen Arti­kel und Dis­kus­sio­nen in den sozia­len Netz­wer­ken, als im Jahre 2016 Bob Dylan der Lite­ra­tur­no­bel­preis ver­lie­hen wurde. Und an die Kri­tik, die der Jury des Prei­ses galt. „Fal­scher Preis für den Rich­ti­gen“ heißt es in der Frank­fur­ter All­ge­meine. Der Autor des Arti­kels, Tobias Rüt­her, meint: „Wenn über­haupt, dann hätte Bob Dylan den Nobel­preis für Pop­mu­sik ver­dient. Er ist eine der über­ra­gen­den Figu­ren sei­ner Bran­che, ob man ihn nun mag oder nicht.“

Ist Pop­mu­sik poetisch?

Erhal­ten hat Dylan den Preis „für seine poe­ti­schen Neu­schöp­fun­gen in der gro­ßen ame­ri­ka­ni­schen Song­tra­di­tion“. Dass Pop­mu­sik auch Poe­sie ist, strei­tet Rüt­her in sei­nem Text gar nicht ab – sie ist aller­dings noch mehr als das: „Aber genauso gehö­ren auch Ele­mente zur Pop­mu­sik, die nicht aus Buch­sta­ben gemacht und gerade des­we­gen schwer zu beschrei­ben sind: Melo­die. Per­for­mance. Tanz – auf der Bühne und davor. Mode. Fri­su­ren. Kör­per­lich­keit über­haupt. Der rich­tige Moment. Cha­risma und Schön­heits­feh­ler, die Iden­ti­fi­ka­tion erlauben.“

Ich denke über diese Worte nach und bli­cke zurück: Da war doch mal was mit Sangs­pruch­dich­tung, die seit dem 12. Jhd. eben­falls vor­ge­tra­gen wurde. Es gibt viele Ähn­lich­kei­ten zur vor­ge­tra­ge­nen Lyrik von heute, sei es Pop­mu­sik oder Poe­try Slam – vor­der­grün­dig geht es bei die­sen Kate­go­rien darum, einen lyri­schen Text (meist auf einer Bühne und instru­men­tal beglei­tet) vor­zu­tra­gen. Wäh­rend im Mit­tel­al­ter das Urhe­ber­recht, die Indi­vi­dua­li­tät und Ori­gi­na­li­tät nicht von Bedeu­tung waren, gel­ten Namen heut­zu­tage als „Mar­ken“. Die Performance/Selbstdarstellung ist das Aus­hän­ge­schild, der Name das, wofür die Künst­ler ste­hen. (Nicht ver­wun­der­lich ist daher, dass Autoren ver­mehrt je nach Genre unter ver­schie­de­nen Pseud­ony­men schrei­ben. Hier ver­kauft sich der Name, nicht der Inhalt.)

Kunst als Spie­gel der Gesellschaft

Kunst ist auch immer ein Spie­gel der Gesell­schaft: Ob in Lite­ra­tur, Musik, der dar­stel­len­den oder bil­den­den Kunst – stets wer­den The­men aus dem aktu­el­len Zeit­ge­sche­hen auf­ge­grif­fen. Poli­ti­sches wird ebenso the­ma­ti­siert wie Reli­gion, dane­ben die gro­ßen The­men wie Liebe und Tod. Das hat sich über die vie­len Jahre nicht geän­dert. Gewan­delt haben sich jedoch die Tabu­the­men – jede Zeit hat ihre eigenen.

Ein Bei­spiel für das Auf­bre­chen von Tabu­the­men ist Lisa Eck­hart, die mit The­men und Spra­che jon­gliert wie ihr beliebt. Hier las­sen sich die von Rüt­hers auf­ge­zähl­ten Ele­mente wie­der­fin­den: Die (Sprach-)Melodie und Per­for­mance, Cha­risma, das Auf­tre­ten auf der Bühne, die Mode und Fri­sur, das Kör­per­li­che und „der rich­tige Moment“. Es fehlt: der Tanz und die Hin­ter­grund­mu­sik. Aber Poe­try Slam funk­tio­niert auch außer­halb der Bühne, mit Musik hin­ter­legt als „Poe­try Clip“, wie Leti­cia Wahl mit ihrem Text „Ich bin hohl“ zeigt. Oder San­dra Da Vina mit „Ohne mich“.

Waren es frü­her die Mäzene, auf die Dich­ter finan­zi­ell ange­wie­sen waren, ist es heute die Gesell­schaft, der etwas ver­kauft wer­den muss. Als Dank erwähn­ten die Dich­ter Mäzene in ihren Tex­ten, spra­chen Lob und Dank­bar­keit aus. Heute wer­den Spon­so­ren text­lich sowie gra­fisch in das Werk ein­ge­bun­den. Denn der größte und wich­tigste Unter­schied ist: Sangs­pruch­dich­tung wurde vor einem meist höfi­schen, ade­li­gen Publi­kum vor­ge­tra­gen. Heute ste­hen uns Medien zur Ver­fü­gung, über die wir die eigene Kunst ver­brei­ten und sie allen, die einen Inter­net­zu­gang haben, zugäng­lich machen kön­nen. Soziale Netz­werke, Videos, Bil­der – es gibt viele Mög­lich­kei­ten, etwas dar­zu­stel­len und in Umlauf zu bringen.

Poe­try Slam wird bei­spiels­weise vom Ham­bur­ger Ver­an­stal­ter „Kampf der Künste“ auf­ge­nom­men und auf You­Tube ver­öf­fent­licht. „Die Auf­tre­ten­den kön­nen bei uns mit dem rich­ti­gen Talent schnell vom Under­ground auf die grö­ße­ren Büh­nen auf­stei­gen“, schreibt der Ver­an­stal­ter, der 80.000 Besucher*innen pro Sai­son hat. Der Wett­be­werbs-Aspekt gehört zum Poe­try Slam dazu: Hier ent­schei­det das Publi­kum dar­über, wer weiterkommt.

Gibt es noch Originalität? 

Ich erwähnte bereits die Ori­gi­na­li­tät und Indi­vi­dua­li­tät – und frage mich nun, ob wir in man­cher­lei Hin­sicht nicht wie­der rück­schritt­lich agie­ren. Wie viele Bücher wer­den jähr­lich ver­öf­fent­licht, von denen der Inhalt bei­nahe iden­tisch ist? Wie viele Pop­songs hören wir tag­täg­lich im Radio, die dem glei­chen Mus­ter fol­gen? Wie viel von die­ser Ori­gi­na­li­tät und Indi­vi­dua­li­tät ist über­haupt noch vor­han­den? Ist nicht bereits alles gesun­gen und erzählt? Ist nicht alles schon ein­mal in ähn­li­cher Form ver­öf­fent­licht worden?

Jim Pan­dzko und Jan Böh­mer­mann haben ein Expe­ri­ment gewagt: „‘Men­schen Leben Tan­zen Welt‘ von Jim Pan­dzko feat. Jan Böh­mer­mann wurde aus Kalen­der­sprü­chen, Wer­be­slo­gans, Zei­len aus aktu­el­len Pop­songs und Tweets von Bibi und Sami Sli­mani zusam­men­ge­stellt. Von fünf Schim­pan­sen aus dem Gel­sen­kir­che­ner Zoo.“ Das Musik­vi­deo ist als Text-Bild-Col­lage gestal­tet, in der Bild­ab­fol­gen und Text­aus­schnitte unzu­sam­men­hän­gend prä­sen­tiert wer­den. Mit die­sem Musik­vi­deo wird die aktu­elle Musik­in­dus­trie dar­ge­stellt: belang­lose Texte, sich wie­der­ho­lende Text­zei­len wie „Oh oh eh oh oh“ und Pro­dukt­wer­bung. Ziel des Videos sei es, laut Böh­mer­mann, den Echo 2018 zu gewinnen.

Um zurück zu Bob Dylan zu kom­men: „Dylan ist kein Sän­ger, der gele­gent­lich auch mal lite­ra­risch ambi­tio­nierte Texte schreibt. Sowe­nig wie er eigent­lich ein Dich­ter ist, der sich aus Ver­se­hen eine Gitarre umge­hängt hat“, meint Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Hein­rich Dete­ring zum Nobel­preis für Dylan. „Der Witz ist grade, dass er in der­sel­ben Weise wie, sagen wir, die gro­ßen Min­st­rels und Min­ne­sän­ger des Mit­tel­al­ters, die […] ver­sucht haben mit den Mit­teln der Musik und Auf­füh­rung die Poe­sie in ihre Ursprünge zurück­zu­füh­ren. Nie­mand hat das so eigen­wil­lig und so erfin­dungs­reich getan wie Bob Dylan.“

Lite­ra­tur­be­griff im Wandel

Hat Bob Dylan dem­nach doch den „rich­ti­gen“ Preis erhal­ten? Ver­mut­lich müsste – bevor eine Dis­kus­sion über die Ent­schei­dung der Preis­ver­lei­hung geführt wer­den kann – zunächst die Defi­ni­tion von Lite­ra­tur geklärt wer­den. Im Mit­tel­al­ter war das Ver­ständ­nis von Lite­ra­tur noch ein offe­nes. Lite­ra­tur war ein wei­ter Begriff und schloss Min­ne­sang und Sangs­pruch­dich­tung ein. Heute ist die Aus­le­gung abhän­gig von vie­len Fak­to­ren und Insti­tu­tio­nen wie Ver­la­gen und Universitäten.

Allein im Stu­di­en­gang Ger­ma­nis­tik an der Uni­ver­si­tät Bre­men gibt es Dozie­rende, die unter „Lite­ra­tur“ nur die soge­nannte „anspruchsvolle/hohe Lite­ra­tur“ ver­ste­hen. Andere hin­ge­gen ver­tre­ten die Mei­nung, dass Lite­ra­tur nicht nur auf Texte beschränkt ist. So wer­den Film und Game Stu­dies zuneh­mend Gegen­stand ger­ma­nis­ti­scher Ana­ly­sen. Der Begriff „Lite­ra­tur“ wird neu defi­niert und erwei­tert. Unter die­sem Blick­punkt würde auch Dyl­ans Werk in die Kate­go­rie „Lite­ra­tur“ fallen.

Dass der Lite­ra­tur­be­griff der­zeit im Wan­del ist, sieht man bei­spiels­weise auch in Buch­hand­lun­gen, in denen „Lite­ra­tur“ von Unter­hal­tungs­ro­ma­nen getrennt ist. (Was an sich absurd ist, da jede Art von Lite­ra­tur – abge­se­hen von For­schungs­li­te­ra­tur – der Unter­hal­tung dient; die eine mehr, die andere weni­ger.) Auf der ande­ren Seite wer­den Poe­try Slam und Song­texte als lite­ra­risch angesehen.

Der Lite­ra­tur­be­griff ist stän­di­gen Ver­än­de­run­gen aus­ge­setzt und muss stets hin­ter­fragt und neu defi­niert wer­den – aus­ge­hend von media­len Ent­wick­lun­gen und neuen Erzähl­for­men. Lite­ra­tur ist schon lange nicht (mehr) auf das Medium Buch begrenzt. Was also ist Lite­ra­tur? Wo beginnt sie und wo hört sie auf?

Wei­ter­le­sen: Ter­voo­ren, Hel­mut: Sangs­pruch­dich­tung. Stutt­gart. 2001. 
Alle Links wur­den zuletzt auf­ge­ru­fen am 09.03.18

Bild: Zei­chen­set­ze­rin Alexa

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