Im letzten Winter hat John Lanchester uns in seinem Roman „Kapital“ nach London gebracht, in die Pepys Road. Er hat uns erzählt von den Menschen, die nun dort leben in den mehrstöckigen Backsteinhäusern, erbaut zum Ende des 19. Jahrhunderts von den leitenden Angestellten in Steuerberaterbüros oder Anwaltskanzleien: dem jungen afrikanischen Fußballspieler zum Beispiel, der mit seinem Vater in der Pepys Road wohnt; dem Banker, der nur darüber nachdenkt, wie hoch seine Jahresprämie sein muss, damit er sein Leben weiter finanzieren kann und wie hoch es idealerweise sein könnte; der alten Dame, die in der Pepys Road ihr gesamtes Leben verbracht hat und die nun dort stirbt; der pakistanischen Familie, die an der Ecke einen Kiosk betriebt; dem polnischen Handwerker, der in den Häusern Reparaturen durchführt; dem ungarischen Kindermädchen.
Auch Zadie Smith entführt uns nach London, aber nach Kilburn, im Nordwesten der Hauptstadt gelegen, nicht gerade ein Viertel, in dem die Reichen wohnen, eher eines, in dem sich Arbeiter, „kleine“ Angestellte, viele Einwanderer vor allem ansiedeln. Aber Smith´ Romanpersonal ist überschaubarer als das John Lanchesters Geschichte und so können wir den einzelnen Figuren viel näher kommen, sie viel besser kennenlernen, ihre Motive, ihre Konflikte viel lebendiger erleben als dies in „Kapital“ möglich war: Leah und Natalie, Felix und Nathan, Schulkameraden vor über zehn Jahren an der Brayton High School, sind die Protagonisten.
Nun ist Leah Hanwell, Tochter einer irischen Mutter und eines englischen Vaters, verheiratet mit Michel, einem Franzosen, und verteilt bei der Stadtverwaltung die Einnahmen aus Lotterien an soziale Einrichtungen. Michel möchte gerne Kinder haben, Leah will lieber mit Michel alleine bleiben, so nimmt sie heimlich die Pille oder treibt ab, wenn sie doch schwanger ist.
Felix wäre so gerne Filmschauspieler geworden, aber er hat es nur zu einem Laufburschen bei einer Filmproduktion gebracht. Aus dem Drogensumpf hat er sich gerade herausgezogen, mit Grace möchte er eine Familie haben, endlich, wie in einem Computerspiel, das nächste Level in seinem Leben erreichen – und auf keinen Fall will er so ein Leben wie seine Eltern oder sein Halbbruder, mit Drogen, Wahnsinn, Kriminalität.
Nathan war Mädchenschwarm in der Schule, ein hoch talentierter Fußballspieler, doch für die ganz tolle Karriere als Profifußballer hat es dann doch nicht gereicht. Nun fühlt er sich vom Schicksal schlecht behandelt, schließlich ist er schwarz und da gehe die Geschichte ja immer so, dass die Menschen, die ihn mit zehn Jahren als kleinen, netten brother gesehen haben, begannen, die Straßenseite zu wechseln, als er vierzehn wurde. In so einer Gesellschaft habe einer wie er keine Chance. Nun lebt er selbst von der Straße, als Zuhälter, Dealer, Krimineller.
Natalie, die eigentlich Keisha heißt, sich dann aber einen anderen Namen gesucht hat, studiert nach einem guten Schulabschluss Jura, macht sehr erfolgreich die teure Barrister-Ausbildung, die ihre jamaikanische Familie sich eigentlich nicht leisten kann. Nach einem Umweg, und weil sie meint, sie würde sowieso nicht als Partnerin aufgenommen, beginnt sie doch in einer der renommierten Anwaltskanzleien zu arbeiten und vertritt Unternehmen vor Gericht. Ihren Mann Francesco De Angelis, BWL-Student aus reicher Familie mit mittelmäßigen Studienerfolgen aber sicherer Karriere in der Welt der Finanzen, lernt sie schon im Studium kennen.
Zadie Smith gibt ihren vier Protagonisten ganz eigene Stimmen und ganz eigene Erzählkonzepte. Natalie, der der größte Raum im Roman eingeräumt wird, erzählt uns in vielen kleinen Kapiteln gleich ihr ganzes Leben, Leah können wir ein paar Monate begleiten, Felix erleben wir an einem einzigen Tag und Nathan lernen wir bei einem langen Gespräch kennen. Alle Charaktere sind komplex, haben Ziele, Träume, Vorstellungen, aber auch mehr oder weniger viele Ecken und Kanten. So kommt ein sehr vielschichtiges Bild der so unterschiedlichen Menschen eines Viertels zustande, der Einfluss ihrer ethnischen, sozialen und geografischen Herkunft, ihre Chancen und Möglichkeiten in der Jugend, ihre Entwicklung zu Erwachsenen.
Dabei ziehen alle vier Protagonisten nun über zehn Jahre nach Ende der Schule, als Erwachsene, die sich für ihre Leben entschieden, sich in diesen Leben eingerichtet haben, Bilanz. Ist dieses Leben wirklich das, was sie haben wollen? Sind die Entscheidungen für Ausbildung, Beruf, die Wahl ihrer Partner richtig gewesen? Wie ist die Frage nach der Familie zu beantworten, wie die Kinderfrage? Sind sie zufrieden mit dem Erreichten, vielleicht sogar glücklich?
Nein, zufrieden sind sie nicht, glücklich auch nicht. Vielmehr tragen sie ihre äußeren und auch inneren Konflikte nach wie vor mit sich herum. Und eine Stärke dieses Romans ist es sicherlich, diese latente Unzufriedenheit der Figuren quer durch die üblichen Zuschreibungen von ethnischen, gesellschaftlichen und individuellen Motiven zu verorten. Es sind die heillosen Verknüpfungen der Ansprüche – oder auch gerade die Nicht-Ansprüche, nämlich die Verwahrlosung – der Eltern, die eigenen Ansprüche, der Wunsch, sich aus einem Milieu herauszuarbeiten, wirtschaftlich aufzusteigen, sorgenfrei, anerkannt, ja bürgerlich zu leben, es sind Herkunft, Viertel, Schule, es sind die Partner und ihre Wünsche, die Freunde, die auf einmal Abendessen organisieren, bei denen man sich merkwürdig fremd vorkommt. In diesem Geflecht kann der Einzelne sich selbst schon einmal sehr verloren gehen:
Tochter Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrauen-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung. Aber wenn sie die diversen Haltungen nebeneinanderstellte, hatte sie Mühe, sich klar zu werden, welche am authentischsten war und vielleicht auch nur am wenigsten unauthentisch. (S. 359)
Es passiert eigentlich nicht viel in diesem Roman, die vier Protagonisten sind mit ihren Betrachtungen und Reflexionen beschäftigt, mit ihrem Alltag. Indem aber über jeder Geschichte latent die Frage von Bedrohung und Gewalt liegt – auch hier ein ähnlicher Ansatz wie bei Lanchesters „Kapital“ -, ergibt sich nicht nur ein weiterer Blick auf gegenwärtige Biografien, zumal in einer Großstadt, sondern wird in diesem Fall auch die Geschichte selbst vorangetrieben. Bei Leah ist es Shar, die ihr unter Vorgabe einer rührseligen Geschichte an der Haustür vierzig Pfund für die Taxifahrt abluchst und erstaunlich viel über Leah weiß. Leah und Michel treffen Shar immer wieder auf der Straße, stellen sie zur Rede, wollen das Geld zurück und bekommen es mehr und mehr mit Männern in Shars Umgebung zu tun, die absolut nicht zimperlich sind. Felix dagegen bittet nur zwei Männer in der U-Bahn, doch für eine schwangere Frau zusammenzurücken, um ihr einen Sitzplatz frei zu machen, und gerät in ein merkwürdig-abgründiges Streitgespräch mit ihnen. Und Natalie, nach außen in allen Bereichen so erfolgreich, wendet die Gewalt gegen sich und setzt Ehe und Ansehen aufs Spiel.
Zadie Smith lässt die vier Geschichten geschickt und ohne dass es konstruiert wirkt am Karnevals-Wochende im August zusammenfließen. Indem sie zusammenfließen, fließen auch die Lebenswege der Schulkameraden zusammen und es ergibt sich durch die Vielschichtigkeit der vier Erzählungen nicht nur eine Lösung, sondern für den Leser auch noch einmal eine neue Perspektive.
Ganz am Ende der Geschichte, nach diesem denkwürdigen Wochenende, als soviel in Scherben liegt, sitzen Leah, Michel und Natalie zusammen im Garten und denken nach über das, was passiert ist:
„Ich verstehe einfach nicht, warum ich so ein Leben habe“, sagt [Leah] leise. (…) „Du, ich wir alle. Warum dieses Mädchen und nicht wir,. Warum der arme Kerl aus der Albert Road. Das ergibt für mich alles keinen Sinn.“ (…)
„Weil wir härter gearbeitet haben!“, sagte [Natalie] und legte den Kopf auf die Rückenlehne der Bank, um den weit offenen Himmel zu betrachten. „Wir waren klüger, und wir wussten, dass wir nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln wollten. Wir wollten raus. (…) Tut mir leid, Lee, wenn du das als eine hässliche Antwort findest, aber es ist die Wahrheit. Das gehört zu den Dingen, die man im Gerichtssaal lernt: Die Leute kriegen in der Regel das, was sie verdienen.“ (S. 426)
Ob das nun das Resümee des Romans ist, das auch der Leser nach der Lektüre der Geschichten aus London NW akzeptiert, sei dahingestellt.
Zadie Smith (2014): London NW, Köln, Kiepenheuer & Witsch
Ich habe „Das Kapital“ geliebt und so denke ich, dass ich mir auch London NW näher betrachten sollte. Danke für diese Rezension, durch die ich nun aufmerksam auf dieses Buch von Zadie Smith wurde. Merke ich mir auf jeden Fall :-). Liebe Grüße
Und ich finde sogar, dass dieser Roman Zadie Smith noch viel besser gelungen ist als Lanchester sein „Kapital“. Die Figuren sind vielschichtiger, ihre inneren Konflikte werden viel deutlicher – und konstruiert ist er auch toll. Eine Lektüre lohnt sich (soll nur eine Empfehlung sein, kein Rat-Schlag 🙂 ).
Viele Grüße, Claudia
Um das Buch schleiche ich ja schon lange herum. „Kapital“ fand ich toll, ..ich behalte es, vorallendingen nach deiner ausführlichen Besprechung, mit Sicherheit im Hinterkopf!
Liebe Sophie,
herumschleichen ist in diesem Fall völlig falsch. Ich empfehle: Lesen :-)! (Das musste jetzt sein (ganz breites Haifischgrinsen). Der Sydney-Roman ist ja auch schon bestellt!).
Viele Grüße, Claudia
Klasse Besprechung …ich habe „Zähne zeigen“ erst im vergangenen Jahr gelesen, mit Genuß. So denke ich doch, dass ich nun auch dieses Buch, das soviele Empfehlungen bekommt, lesen werde. Wenn mir nebst T-Shirt-Druck noch Zeit bleibt 🙂 Mir gefiel an ihrem ersten Roman sehr gut, dass sie dieses Aufeinanderprallen der verschiedenen Kulturen so beschreibt, ohne zu sehr in schwarz-weiß Zeichnungen zu verfallen oder Fronten zu schaffen – egal, aus welcher Kultur ihre Figuren kamen, jeder hatte seine Macken. Das mit viel Witz zu beschreiben, scheint aber auch was typisch Englisches zu sein – siehe Hanif Kureishi. Oder täusche ich mich da?
Liebe Birgit,
das ist mein erster Zadie Smith-Roman gewesen. Und ich bin wirklich von der Vielschichtigkeit der Figuren sehr beeindruckt, auch von der Vielfältigkeit des Erzählens und der Story. Hat mir wirklich sehr gut gefallen. So kommen mir die Figuren, obwohl ich sicher ganz anders lebe und natürlich in weiten Teilen eine ganz andere Geschichte habe, mehr oder weniger nah und ihre (Lebens-)Fragen sind dann natürlich schon auch meine. Hanif Kureishi kenne ich auch nicht, deswegen kann ich zu Deiner Frage nichts sagen.— Was den T-Shirt-Druck angeht: ich hätte gerne ein schwarzes kurzärmeliges T-Shirt in Größe M mit 2B/-2B- Aufdruck und bin natürlich schon auf der Suche nach weiteren Motiven :-).
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
statt der T-Shirts könnte ich Dir das Buch von Zadie Smith und den Kureishi anbieten – jetzt im Ernst. Beides Taschenbücher und ich hätte sie ansonsten eh irgendwie aussortiert. Wenn Du Interesse hast, dann mail mir eine Adresse und du kriegst Post. So, jetzt einen schönen Samstagabend noch! Birgit
Liebe Birgit,
vielen Dank für Dein liebes und verlockendes Angebot. Aber (das war ja nach dem Anfang fast klar, dass das jetzt kommt 🙂 ) mein Buchstapel ist schon so hoch, zwar noch kein ganzes ungelesenes Regal, aber immerhin schon ein ganzes Brett, dass ich erst einmal ein bisschen davon ablesen muss, sodass ich mich fast schon nicht mehr traue, in meinen Blogreader zu schauen, damit ich erst gar nicht in Versuchung geführt werde. Der Murakami liegt hier noch neben Chirbes und Juli Zeh, dann noch die Biografie von Boris Cyrulinik – und von den Büchern vom letzten Jahr ganz zu schweigen…
Seufzende Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
das habe ich mir fast schon gedacht 🙂
Ich glaube, ich würde auch erst einmal erschrecken, wenn mich derzeit jemand mit neuen Büchern, noch mehr Büchern bedroht 🙂 :-)…Lust und Last des Lesens. 🙂 Viele Grüße Birgit
Nicht wirklich bedroht habe ich mich gefühlt, eher furchtbar überfordert :-)!
Liebe Grüße, Claudia
🙂
Vielen Dank für diese ausführliche Rezension!! Ich lese gerade John Lanchesters „Kapital“ und kann Zadie Smith kaum noch abwarten…
Liebe Danares,
„London NW“ lohnt sich wirklich, sogar noch viel mehr als Lanchesters „Kapital“, viel lebendiger, viel komplexer, viel besser konstruiert – ohne dass es platt wird. Du kannst Dich schon richtig vorfreuen!
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, ist gebongt, kommt sofort auf die Liste. Ein Rätsel allerdings bleibt noch ungelöst, mein Reader zeigt deine Artikel nicht mehr an, wundere dich also nicht, wenn ich dich mal kurzzeitig „entfolge“, um so der Macke im System vielleicht auf die Spur zu kommen. Oder ist das höhere Gewalt, weil du mir immer neue Titel so verlockend präsentierst 🙂 Einen schönen und hoffentlich schulfreien Sonntag, Anna
Liebe Anna,
ja, es ist ein korrigierfreier Sonntag: hurra. Und dann das tolle Frühlingswetter, fast wie im April: wir gehen, mit Tannenzapfen Quatsch machend, im strahlender Sonnenschein und trotzdem graupelt es aus einer doch so entfernten tiefschwarzen Wolke. — Ich habe schon gesehen, dass Du alls naselang neuer Follower wirst und habe mich schon gewundert. Bei manchen meiner abonnierten Blogs habe ich aber auch den Verdacht, dass nicht jeder Beitrag bei mir ankommt. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass es an den vielen verlockenden Titeln liegt, dass die Software das Weiterleiten boykottiert :-). Sonst müsste mein Reader jeden Tag leer bleiben und allein gestern habe ich drei Bücher bestellen müssen (ja, es ist zum Mäusemelken…)! — Und wie schön, wenn Zadie Smith auf Deine Liste wandert.
Dir auch einen erholsamen Sonntag, Claudia
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