Deutscher Herbst
Als Deutscher Herbst wird die Zeit und ihre politische Atmosphäre in der Bundesrepublik Deutschland im September und Oktober 1977 bezeichnet, die geprägt war durch Anschläge der terroristischen Vereinigung Rote Armee Fraktion (RAF). Die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers, die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs Landshut und die Selbstmorde der inhaftierten führenden Mitglieder der ersten Generation der RAF stellten den Schlussakt der so genannten Offensive 77 der RAF dar. Der Deutsche Herbst gilt als eine der schwersten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
Der Begriff „Deutscher Herbst“ leitet sich von dem Film Deutschland im Herbst von 1978 ab, einer Collage mehrerer Dokumentarfilme von elf Regisseuren des „Neuen Deutschen Films“, die sich mit der Reaktion des Staates auf den Terrorismus aus unterschiedlichen Blickwinkeln kritisch auseinandersetzen.
Ereignisse im Frühjahr und Sommer des Jahres 1977[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Im Jahr 1977 erreichten die Aktivitäten der sogenannten zweiten Generation der RAF ihren Höhepunkt. Die Ereignisse vor September werden aber allgemein nicht dem Deutschen Herbst zugerechnet.
Am 7. April 1977 wurden in Karlsruhe vom Kommando Ulrike Meinhof der Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer Wolfgang Göbel und der Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft Georg Wurster von einem Motorrad aus in ihrem Auto erschossen.
Am 30. Juli 1977 wurde der Vorstandssprecher der Dresdner Bank AG Jürgen Ponto ermordet. Das RAF-Mitglied Susanne Albrecht war mit dem Bankier persönlich bekannt, sodass dieser sie in seinem Privathaus in der Oberhöchstadter Straße in Oberursel empfing. Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar erschienen in Pontos Villa, um ihn zu entführen. Als Ponto sich zur Wehr setzte, schossen Klar und Mohnhaupt mehrere Male auf Ponto und trafen ihn tödlich. Danach flohen Mohnhaupt, Klar und Albrecht mit dem von Peter-Jürgen Boock gesteuerten Auto.
Am 25. August 1977 scheiterte ein Anschlag auf das Gebäude der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe.[1]
Verlauf des Herbstes 1977[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Am 5. September 1977 wurde der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer in Köln überfallen und verschleppt, dabei wurden sein Fahrer und drei Polizeibeamte getötet. Die Entführer forderten die Freilassung von elf gefangenen RAF-Mitgliedern.
Da die Bundesregierung – anders als bei der Entführung von Peter Lorenz zwei Jahre zuvor – nicht zu einem Gefangenenaustausch bereit war, versuchten mit der RAF verbündete Terroristen der PFLP, den Druck durch die Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ am 13. Oktober 1977 zu erhöhen. Nach einer Odyssee des Flugzeuges durch die arabische Welt und der Ermordung des Piloten, Kapitän Jürgen Schumann, landeten die Terroristen auf dem Flughafen Mogadischus, der Hauptstadt des ostafrikanischen Somalia. Hier wurde das Flugzeug am 18. Oktober gegen 00:30 Uhr durch die GSG 9 gestürmt. Um 00:38 Uhr kam eine Sondermeldung des Deutschlandfunkes, dass „alle Geiseln befreit sind. Ob es unter ihnen Tote und Verletzte gab, wissen wir zu dieser Stunde noch nicht …“. Die 86 Geiseln konnten unverletzt befreit werden.
Kurz danach, noch in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977, der Todesnacht von Stammheim, begingen die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe Selbstmord. Die ebenfalls in Stammheim inhaftierte Irmgard Möller überlebte mit vier Messerstichen in der Herzgegend.
Als Reaktion auf die Stürmung des Flugzeuges „Landshut“ wurde Hanns Martin Schleyer von seinen Entführern erschossen. Seine Leiche wurde am Abend des 19. Oktober in Mülhausen im Elsass gefunden.
Gesellschaftspolitische Atmosphäre während des Deutschen Herbstes[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Der Begriff „Deutscher Herbst“ steht auch für die Atmosphäre in Westdeutschland und West-Berlin im Herbst 1977. Nach der Verhaftung der ersten Generation der RAF im Jahr 1972 hatten viele geglaubt, das Kapitel Linksterrorismus sei nun geschlossen. Es stellte sich jedoch heraus, dass die RAF eine zweite Generation hervorgebracht hatte. Durch die sympathisierenden Rechtsanwälte, wie die später selbst verurteilten Klaus Croissant und Siegfried Haag, gelang es der RAF, neue Untergrundkämpfer zu rekrutieren. Außerdem versorgten die Anwälte die linke Szene, aber auch die Medien, mit immer neuen Nachrichten über die inhaftierten Mitglieder der ersten Generation. Es wurde von Isolationshaft gesprochen und für die Häftlinge der Status von Kriegsgefangenen gefordert. Zwischen 1972 und 1977 hatte es sechs Hungerstreiks gegeben, an denen sich bis zu 90 Häftlinge beteiligten. Holger Meins war 1974 an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben. Ab 1975 kam es zu einer neuen Anschlagserie. Diese Ereignisse polarisierten. Für die Medien war der RAF-Terror nun ein beherrschendes Thema. Neue polizeitaktische Methoden, unter anderem die Rasterfahndung, hatten zu einigen Fahndungserfolgen geführt, aber auch viele Unbeteiligte in den Fahndungsprozess mit einbezogen. Straßensperren, Personenkontrollen und schwer bewaffnete Polizisten gehörten zum Straßenbild. Die Angst vor neuen Anschlägen war weit verbreitet.
Die linke Szene, aber auch weite Teile sozialdemokratischer und liberaler Kreise fühlten sich andererseits durch die neuen Gesetze in ihren Grundrechten bedroht und wollten sich ideologisch mit der RAF auseinandersetzen. Vielen dieser Gruppen und Personen, die nach den Ursachen des Terrorismus fragten, wurde fehlende Distanz zur RAF vorgeworfen und sie wurden als Sympathisanten der Terroristen angegriffen. So forderte der damalige Bundesinnenminister im April 1977 in einer Rede vor dem Innen- und Rechtsausschuss des Bundestages eine
„Dissolidarisierungskampagne gegen die ganz erhebliche Unterstützer- oder jedenfalls Sympathisantenszene der RAF. Das ist das Wasser, in dem diese Fische schwimmen. Weiterhin schwimmen sie auch im Wasser einer Schickeria, die in der Tat die Grenzen nicht so ganz klar zieht.“
Schon Anfang 1972 hatte der spätere Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll im Spiegel sein Plädoyer Will Ulrike Gnade oder freies Geleit? veröffentlicht, in dem er sich mit den Motiven der RAF kritisch, aber sachlich auseinandersetzte und den Sensationsjournalismus der Bild-Zeitung in diesem Zusammenhang scharf kritisierte. Die heftige öffentliche Reaktion darauf verkannte die Absichten von Böll, er galt von da an weithin als „Sympathisant“ des Terrors, was vermutlich durch den vom Spiegel verfälschten Titel – die scheinbar vertraute Anrede „Ulrike“ kam in Bölls Originaltext nicht vor – verstärkt worden war. Als Reaktion auf die folgende äußerst negative Berichterstattung vor allem der Springer-Medien veröffentlichte er 1974 die Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum, die als kämpferische Kritik am Sensationsjournalismus im Zusammenhang mit dem linken Terrorismus konzipiert war. Dies führte zu einer weiteren Verhärtung der publizistischen Fronten.
Am 25. April 1977 veröffentlichte ein anonymer Student der Göttinger Universität, der so genannte Göttinger Mescalero, in der damaligen Studentenzeitung Göttinger Nachrichten einen Text unter dem Titel „Buback – ein Nachruf“, in dessen Einleitung er bekundete, eine „klammheimliche Freude“ über den Tod des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback „nicht verhehlen“ zu können, um im weiteren Verlauf des Textes trotz inhaltlicher Sympathie für die Ziele der RAF deren Strategie der Gewalt grundlegend als Weg in eine Sackgasse zu kritisieren. Bekannt wurde vor allem die Einleitungspassage, woraufhin der Text verboten wurde. Um dagegen zu protestieren, wurde der Text mit einer einführenden Einleitung und der Unterschrift von 48 Hochschulprofessoren mehrfach nachgedruckt[3] und demonstrativ in verschiedenen kritischen Medien veröffentlicht, was zu über 140 Strafanzeigen gegen die Herausgeber und die veröffentlichenden Professoren führte, die letztlich jedoch alle freigesprochen wurden.
Reaktion der Politik[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
Auch die Parteien gerieten im Deutschen Herbst in heftige Auseinandersetzungen. Die CDU/CSU-Opposition vermutete bei der regierenden sozial-liberalen SPD/FDP-Koalition unter Helmut Schmidt (SPD) eine ideologische Nähe zu den Terroristen. Die Koalition ihrerseits warf der Opposition hysterische Überreaktionen vor und unterstellte ihr, sie nutze die Gelegenheit, die Bundesrepublik ein Stück weit in einen Polizeistaat zu verwandeln.[4]
Trotz dieser Gegensätze berief Bundeskanzler Schmidt zu Beginn der Schleyer-Entführung den so genannten Großen Krisenstab ein, dem Mitglieder aller Fraktionen des Deutschen Bundestages angehörten. Der Historiker Wolfgang Kraushaar bezeichnete diese Zeit später als „nicht-erklärten Ausnahmezustand“. Ein Ergebnis des parteiübergreifenden Konsenses war das im Herbst 1977 verabschiedete Kontaktsperregesetz, das die Möglichkeit zu einem Kontaktverbot für Häftlinge schuf. Dieses Kontaktverbot bezog sich auch auf die Gespräche mit Rechtsanwälten. Außerdem wurde die Strafprozessordnung dahingehend geändert, dass ein Angeklagter höchstens drei Wahlverteidiger benennen durfte. Bereits 1976 war mit dem § 129a StGB der Straftatbestand „Bildung terroristischer Vereinigungen“ geschaffen worden.
Literatur[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Ulf G. Stuberger: Die Tage von Stammheim – als Augenzeuge beim RAF-Prozess. Herbig-Verlag, München 2007, ISBN 978-3-7766-2528-8.
- Ulf G. Stuberger: In der Strafsache gegen Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin wegen Mordes u. a. – Dokumente aus dem Prozess. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2007, ISBN 978-3-434-50607-2.
- Klaus Pflieger: Die Aktion „Spindy“, Die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Dr. Hanns-Martin Schleyer. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1997, ISBN 3-7890-4598-5.
- erneut in: Klaus Pflieger: Die Rote Armee Fraktion – RAF – 14. Mai 1970 bis 20. April 1998. Nomos-Verlag, Baden-Baden, 3. erweiterte und aktualisierte Auflage. 2011, ISBN 978-3-8329-5582-3.
- Klaus Pflieger: Gegen den Terror – Erinnerungen eines Staatsanwalts. Verrai, Stuttgart, 2016, ISBN 978-3-9818041-4-0.
- Erklärungen der RAF vom 5. September bis 18. Oktober 1977 (Memento vom 12. März 2007 im Internet Archive).
- Ein deutscher Herbst. Zustände 1977. Von Tatjana Botzat, Elisabeth Kiderlen und Frank Wolff. ISBN 3-8015-0315-1.
- Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex. Hoffmann und Campe, Hamburg 1985, 667 Seiten, ISBN 3-455-08253-X (erweitert und aktualisiert: 1997, ISBN 3-455-11230-7; Taschenbuchausgabe 1998, ISBN 3-442-12953-2; völlig überarbeitete und ergänzte Neuausgabe 2008, ISBN 978-3-455-50029-5).
- Literarische Verarbeitung: Thomas Hoeps: Arbeit am Widerspruch. „Terrorismus“ in deutschen Romanen und Erzählungen (1837–1992). Dresden 2001, ISBN 3-933592-24-0.
- Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland. Siedler Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-88680-329-5, S. 338ff.
- Oliver Tolmein, Detlef zum Winkel: Nix gerafft – 10 Jahre Deutscher Herbst und der Konservatismus der Linken. Konkret-Literatur-Verlag, Hamburg 1987, ISBN 3-922144-66-7.
- The German Autumn, 1977. In Karrin Hanshew: Terror and Democracy in West Germany. Cambridge University, Cambridge 2012, ISBN 978-1-107-01737-5, S. 192–236.
Filmbeiträge[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Deutschland im Herbst – verschiedene Kurzfilme und Kurzreportagen von mehreren Regisseuren des Neuen Deutschen Films, Bundesrepublik Deutschland 1978, Regie: Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff, Alexander Kluge, Edgar Reitz und andere
- Todesspiel – zweiteiliges Fernseh-Doku-Drama (Teil 1: Volksgefängnis, Teil 2: Die Entführung der Landshut), Deutschland 1997, Regie: Heinrich Breloer
- Der Deutsche Herbst – Dokumentation auf BR-alpha, 2005
- Mogadischu – Fernsehverfilmung, Deutschland 2008, Regie: Roland Suso Richter
- Der Baader Meinhof Komplex – Kino- und TV-Dokumentarfilm, Deutschland 2008, Regie: Uli Edel, Drehbuch und Produktion: Bernd Eichinger
- Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte – Kinodokumentarfilm, Deutschland 2009, Regie: Birgit Schulz
Weblinks[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- Der Deutsche Herbst (Memento vom 18. April 2016 im Internet Archive), Spezial der Frankfurter Rundschau
- Blutiger Deutscher Herbst 1977 auf wdr.de – mit weiterführenden Informationen, Fotos und Filmmaterial zum Thema
- Informationen zum Thema auf museumsmagazin.com
- Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer bei geschichte.nrw.de
- Nicht zu zweifeln, wäre unmenschlich gewesen – Gespräch über den „Deutschen Herbst“ mit dem früheren Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel, Spiegel online, 19. September 2007.
Einzelnachweise[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]
- ↑ Die Welt, 4. April 2007, Die mörderische „Offensive 77“ begann zu Ostern.
- ↑ zitiert nach: Autonomie. Nr. 12, 9/78, S. 120.
- ↑ Buback-Nachruf mit Einführungstext und Unterschriften der 48 Professoren
- ↑ Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschlands. Berlin 2000, ISBN 3-88680-329-5, S. 342.