Inhaltsverzeichnis
In der Top-Etage des Fernschachs (05)
von Walter Eigenmann
Der Computer veränderte und verändert noch immer bekanntlich alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens – und geradezu dramatisch dokumentierte sich diese Veränderung u.a. im Bereich der Unterhaltungsindustrie. Hier genauer gemeint: des Schachspiels.
Denn seit dem in den letzten Jahren die sog. Chess Engines (= die eigentlich rechnenden „Motoren“, eingebettet in diverse verfügbaren Schach-User-Interfaces GUI) eine derart hohe Spielstärke erreicht haben, dass jeder menschliche Grossmeister (der amtierende Weltmeister Magnus Carlsen inklusive) absolut chancenlos ist, hat das Schach seinen einstigen Nimbus des zauberhaften Königlichen Spiels, des unerschöpflichen Meeres an genialen Kombinationen und seiner vielhundertjährigen Kulturgeschichte für viele seiner Adepten verloren.
Legendäre Schachkombinationen entzaubert

Die buchstäblich unmenschliche Präzision und Tiefe des maschinellen Berechnens ist denn auch heutzutage nicht mehr dazu angetan, irgend einen Zauber des menschlichen Geistes zu beschwören, der auf (zwangsläufiges) Patzen in den Turniersälen (gestern und heute) oder auf jahrzehntelang hochgelobte Zugkommentare in Schachbüchern voller grober Fehler und Ungenauigkeiten basiert. Schätzungsweise 90% aller vor der letzten Jahrhundertwende geschriebenen Schachbücher dürften im Lichte des modernen Computerschachs betrachtet inzwischen Makulatur sein – Kult-Bücher einst legendärer Schach-Genies von Steinitz bis Karpow eingeschlossen. Die damals weltweit gefeierten Super-Kombinationen von Bobby Fischer & Co. entpuppen sich heute unterm Mikroskop von Houdini & Co. als sekundenschnell gefundene Simplizitäten, wo sie nicht überhaupt gar unkorrekt sind. Dass dies der schachgeschichtlichen Leistung der damaligen Genies allerdings nichts anhaben kann, muss nicht extra betont werden. Trotzdem: Das Schachspiel mag nach wie vor (gemäss Goethe) „ein Prüfstein des Gehirns“ sein – aber nicht für Computer…
Das Fernschach als Labor des schachlichen Erkenntnisgewinns

Wenn also der (frühere wie heutige) menschliche Turnier-Schachbetrieb (ob online oder on-the-board) unergiebig geworden ist, wenn es darum geht, nach wirklich „tiefen“, nach besonders „schwierigen“ Kombinationen und Strategemen zu fahnden, so verhält es sich mit dem modernen Fernschach FS (Correspondence Chess CC) mittlerweile anders. Denn hier sind die Topspieler der internationalen FS-Szene längst dazu übergegangen, den Computer in ihre (oft tagelangen) Stellungsanalysen einzubeziehen.
Und die interaktive Verbindung von menschlichem „Planen“ bzw. Lenkung des „Mainstreams“ einer Schachpartie mit der ungeheuren Akkuratesse der heutigen Engines zeitigt inzwischen wirklich bewunderswerte Schachzüge, die nicht nur in ästhetischer Hinsicht faszinierend sind, sondern auch quasi schach-„erkenntnistheoretisch“ grossartige Leistungen darstellen, die das Fernschach ausweisen als regelrechtes Schach-Forschungslabor.
Die neue Reihe „Brilliant Correspondence Chess Moves“ BCCM will denn auch genau solche Fernschach-Kombinationen präsentieren, die zwar frappant, aber auch korrekt, zwar schwierig zu finden, aber nicht „unlösbar“ sind. Züge also, die vom menschlichen Meisterspieler erst nach langer Analyse aufspürbar sind – mithilfe des Computers…
Strategisches Planen versus taktisches Rechnen
Die untenstehende Stellung ist dem (bereits bei dem BCCM Nr. 5 zu Ehren gekommenen, stark besetzten) Zinser Memorial 2014 (Email-Turnier des ICCF) entnommen und entstand zwischen dem Deutschen Fernschachmeister 2009-2014 Adrian Schilcher und dem polnischen Fernschach-Grossmeister Zbigniew Szczepanski.
Setzt man die Position den modernen Schachprogrammen vor, hegen die meisten von ihnen keinerlei Argwohn gegenüber der schwarzen Stellung. Praktische alle Engines meinen eine ausgeglichene Position vor sich zu haben und bewerten minutenlang mit mehr oder weniger „0.00“.

Doch findige Köpfe wie der deutsche Spitzenspieler Schilcher interagieren mit der Tiefenberechnung des Computers so lange, bis die Stellung nach und nach ihre Geheimnisse preisgibt – und dann entweder wirklich „totgerechnet“ ist oder aber die versteckte Ressource preisgeben musst. Hier hat Weiss der Verführung des verflachenden Läuferschlagens zu widerstehen und stattdessen den Sperr-Zwischenzug Le4 zu entdecken, um genügend Zeit zu finden für seine tödlichen Operationen auf der h-Linie, in Verbindung mit späteren Abzug-Angriffen eben dieses Sperr-Läufers.
Meist sind es grundsätzliche Überlegungen, indiziert durch taktisch zugespitzte Stellungsmerkmale, deren späten Konsequenzen weder von Menschen noch von Maschinen auf die Schnelle ausgerechnet werden können – und weder direkt am Brett vom Grossmeister noch aus dem Stande heraus vom Computer. Die weitsichtige, wengleich natürlich zeitintensive Planung des Menschen, dieses tagelange detektivische Aufspüren von versteckten Ressourcen, immer abgesichert mittels interaktiver taktischer Verifizierung durch den Computer – das ist das eigentliche Faszinosum des Korrespondenz-Schachs heute, und das dürfte es noch lange bleiben. ♦
Brilliant Correspondence Chess Moves BCCM – 05
FEN-String: r3r1k1/1b3qp1/p2p2p1/1pp3B1/n2b4/2PB1P2/PPP3Q1/1K2R2R w Ein Mausklick auf eine Stelle in der Partie-Notation öffnet ein neues Partie-Fenster; dort lassen sich die Züge nachspielen und die Partie als PGN-Datei downloaden. Um die Aufgaben selber schnell (mittels copy&paste) in ein Programm bzw. in ein Schach-Interface laden zu können, ist jeder Stellung auch der zugehörige FEN-String beigegeben. |
Hier finden sich alle bisherigen BCCM-Aufgaben
Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Computerschach auch:
Die besten Engines der Welt
Die BCCM 05 erachte ich als nicht speziell die Stärke eins menschliche FS betonend, denn sowohl Houdini 6.02 als auch Stockfish 9 64 POPCNT finden den Gewinnzug 24.Le4!! sehr rasch (Beispiel: unten). Bei diesem Glanzzug kann es sich also durchaus um einen normalen Computerzug handeln.
Mfg Kurt Utzinger
BCCM 05 – Schilcher – Szczepanski Line, Zinser Memorial Email 2014
r3r1k1/1b3qp1/p2p2p1/1pp3B1/n2b4/2PB1P2/PPP3Q1/1K2R2R w – – 0 1
Analysis by Stockfish 9 64 POPCNT:
24.cxd4 Dxf3 25.Dd2 Dd5 26.Th4 Dg2 27.Lxg6 Dxd2 28.Lxd2 Txe1+ 29.Lxe1 cxd4 30.Txd4 Td8 31.Lb4 Tf8 32.a3 Tf1+ 33.Ka2 Tf6 34.Txd6 Txd6 35.Lxd6 Sb6 36.Kb3 Ld5+ 37.Kb4 Sc4 38.Lc5 Sxb2 39.Ka5 Lb7 40.Kb6 Lc8 41.Kc7 Le6 42.Kb7 a5 43.Kc6 b4 44.axb4 axb4 45.Lxb4 Sc4 46.c3 Se3 47.Kd6 Lf5 48.Lxf5 Sxf5+ 49.Ke6 Se3 50.Lc5 Sc4
Weiss steht etwas besser: +/= (0.39 ++) Tiefe: 33/61 00:00:53 262MN, tb=7583
Weiss steht etwas besser: +/= (0.43) Tiefe: 35/62 00:01:23 423MN, tb=14005
24.Le4 Lxe4 25.fxe4 Sxc3+ 26.bxc3 Dc4 27.e5 Lxe5 28.Th4 Lf4 29.Txe8+ Txe8 30.Txf4 De6 31.Tf1 De4 32.Dg3 Te5 33.Td1 Td5 34.Txd5 Dxd5 35.Lf4 g5 36.Lxg5 a5 37.Lf4 a4 38.Dg6 b4 39.Dxd6 Dxd6 40.Lxd6 bxc3 41.Lxc5 g5 42.Ld4 g4 43.Lxc3 g3 44.Kb2 Kf8 45.Ld4 Ke7 46.Ka3 Kd6 47.Kxa4
Weiss steht etwas besser: +/= (0.51 ++) Tiefe: 36/67 00:01:58 618MN, tb=19769
Weiss hat entscheidenden Vorteil: +- (2.56) Tiefe: 36/67 00:03:57 1286MN, tb=23618
(Utzinger, 09.06.2018)
Merci für deine Analysen, Kurt.
Nun ja, der Zug ist fast 5 Jahre alt, in dieser Hinsicht ist dein ultramoderner Stockfish-9-Output kein guter Vergleichswert. Ältere Engines könnten da durchaus im Dunkeln tappen. (Das habe ich jetzt aber nicht getestet).
Zweitens wäre da noch die Frage der Definition von „sehr rasch“: Zwei Minuten, bis überhaupt der Zug präferiert wird, und dann nochmals zwei Minuten, bis die Gewinn-Anzeige kommt – das würde ich heutzutage nicht als „sehr rasch“, sondern als „ziemlich gemütlich“ bezeichnen… 😉
Es kann also auch alles genau umgekehrt sein: Die Maschine bestätigt den Menschen…
Apropos neue Engines: Starke moderne Programme wie Komodo 11, Andscacs, Fritz 16, Fire 6.1 oder Texel kriegen das Ding „in vertretbarer Zeit“ nicht gebacken…
Gruss: Walter