Heute vor … Jahren: Unruhe um einen Friedfertigen (Roman)

Oskar Maria Graf gegen die „braune Mordbande“

von Walter Eigenmann

Am 8. Januar 1947 erscheint in New York der Roman „Unruhe um einen Friedfertigen“ von Oskar Maria Graf.
Graf, einer der grossen deutschen Volks-Schriftsteller, dessen Geschichten sich vor allem durch wortgewaltige, urwüchsige Komik auszeichnen, wird 1894 in Berg bei Starnberg geboren. 1938 flieht der heimatverwurzelte Dichter vor der „braunen Mordbande“ (Graf) ins amerikanische Exil nach New York.
Allerdings kann er sich dort niemals wirklich einleben, bleibt auch im multikulturellen New York bewusst „Made in Bavaria“, verweigert sich gar dem Englischen, und läuft durch Manhattans Strassenschluchten in bayerischer Tracht mit „Lederhosn“.

Antifaschismus als Literatur

Oskar Maria Graf - Unruhe um einen Friedfertigen - Exilliteratur (Glarean Magazin)Doch im Gegensatz zum berühmten Mit-Bayer Ludwig Thoma, der mit antisemitischen Äusserungen nie geizte, verschreibt sich Graf lange vor der NS-Barbarei in Deutschland einer antifaschistischen, humanistischen Lebenseinstellung, schliesst sich der linken Arbeiterbewegung an und spart seine Einstellung gegenüber Nazi-Deutschland auch in seinen literarischen Werken nicht aus.

Unruhe um einen Friedfertigen“ stellt einen der Höhepunkte der deutschsprachigen Exil-Literatur dar. Graf entwirft darin das eindringliche Zeit-Panorama der Entwicklung eines beschaulichen bayerischen Dorfes in der Weimarer Republik bis zur Entstehung der Hitlerei. Im Dorf Aufing wird der Schuster Julius Kraus plötzlich mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert… ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor … Jahren“ auch Orient versus Okzident – Der Fall Salman Rushdie

… und zum Thema Nazi-Deutschland über H.-J. Neumann / H. Eberle: War Hitler krank?

Heute vor … Jahren: Technik-Visionär Isaak Asimov

Der „Gute Doktor“ und seine Roboter

von Walter Eigenmann

Am 2. Januar 1920 wird im russischen Petrovichi der US-amerikanische SF-Schriftsteller Isaak Asimov geboren. Asimovs Roboter-Storys sind seit Jahrzehnten Glanz-Stücke und Vorbild zugleich des literarischen Science-Fiction-Genres. Der Bestseller-Autor propagiert bereits in seiner frühen, erstmals 1942 erschienenen Erzählung „Runaround“ drei grundlegende Gesetze der Robotik: 1. Ein Roboter darf keinen Menschen verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen lassen; 2. Ein Roboter muss den Befehlen eines Menschen gehorchen, es sei denn, solche Befehle stehen im Widerspruch zum ersten Gesetz; 3. Ein Roboter muss seine eigene Existenz schützen, solange dieser Schutz nicht dem Ersten oder Zweiten Gesetz widerspricht. Später, z.B. in der berühmten, 1950 publizierten Kurzgeschichten-Sammlung „Ich, der Roboter“ handelt Asimov verschiedene Aspekte dieser Gesetze ab und variiert bzw. erweitert sie.

Visionärer Schriftsteller und produktiver Universalgelehrter

Die Science-Fiction-Reihe Galaxy von Isaak Asimov
Die Science-Fiction-Reihe Galaxy von Isaak Asimov

Das umfangreiche und vielschichtige Oeuvre Isaak Asimovs inspiriert schon zu dessen Lebzeiten eine Fülle von Nachfolgern und Werken, und nicht nur in der SF-Szene, sondern in fast allen künstlerischen Bereichen, von der Literatur bis zum Theater, von der Malerei bis zum Film. Asimov selbst wirkt bei einer Vielzahl von Projekten und Organisationen mit. Ab 1979 ist er beispielsweise „Special Science Consultant“ bei der Entstehung des Film-Kassenschlagers „Star Trek“ (Bild rechts), ausserdem ernennen ihn der bekannte Hochintelligenten-Verein „Mensa“ und die internationale „Skeptiker-Vereinigung“, eine „Gesellschaft zur Förderung von wissenschaftlichem und skeptischem Denken“, zu ihrem Ehren-Vizepräsidenten. 1985 wird er Präsident der „American Humanist Association“ – eine Position, die er bis zu seinem Tode innehat.

500 Bücher und 1’600 Essays

Isaac Asimov - Portrait aus den frühen 1960er Jahren - Glarean Magazin
Isaac Asimov – Portrait aus den frühen 1960er Jahren

Der in New York aufwachsende, ab 1951 als Dozent für Biochemie an der medizinischen Fakultät der Universität Boston lehrende Wissenschaftler gibt seine Professur 1958 auf, um hauptberuflich zu schreiben. Insgesamt veröffentlicht der vielseitig interessierte und äusserst produktive Autor in der Folge über 500 Bücher und mehr als 1’600 Essays, darunter auch verschiedentlich über die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz.

Isaac Asimov an einer internationalen Konferenz im November 1974 in Newark
Isaac Asimov an einer internationalen Konferenz im November 1974 in Newark

Das Spektrum des Asimovschen Schaffens beschränkt sich bei weitem nicht auf Science Fiction. Vielmehr entwickelt sich der „Gute Doktor“, wie ihn seine nach Millionen zählende Anhänger- bzw. Leserschaft inzwischen nennt, zu einer Art modernem Universalgelehrten: Ein Lehrbuch der Biochemie, Bücher über die Bibel und William Shakespeare, Werke über die griechische und römische Geschichte und Sachbücher über naturwissenschaftliche Themen aus fast allen Gebieten gehören zu seinem Oeuvre.
Isaac Asimov stirbt am 6. April 1992 an Herz- und Nierenversagen als Folge einer Aids-Infektion, die er sich 1983 durch eine Bluttransfusion (anlässlich einer Bypass-Operation) zugezogen hatte. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Visionär auch über
Aldous Huxley: „Form in der Zeit“ (Essays Band 2)

… sowie zum Thema Science Fiction über die Literatur-Ausschreibung:
Science-Fiction-Literaturwettbewerb für Frauen

R. Albrecht: Die Funktions-Kompetenzen der Literatur

Literatur als Erinnerungsarbeit und geschichtliche Zeitzeugenschaft

von Dr. Richard Albrecht

I.

„Wenn es […] Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müsste geschehen; und wenn man ihm […] irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.“ (Musil: „Der Mann ohne Eigenschaften“, 1934).

Robert Musil - Glarean Magazin
Robert Musil

Robert Musils epochal-existentiale Reflexion einer „schöpferischen Anlage“ halte ich in der Tat für eine angemessene Beschreibung der „utopischen Methode“ menschlichen Denkens, aller humanen Kreativität und damit auch literarischen Verfahren. Denn wenn Literatur mehr sein will und soll als Strindberg’scher „gedruckter Unsinn“, dann geht es um Fiktionen, Bilder, Imaginationen. Und nicht um wirkliches Leben. Sondern um ein mögliches Leben – Leben-Noch-Nicht und Nicht-Mehr-Leben eingeschlossen – in und als Möglichkeit.
Damit auch: Literarische Texte als kreatives Ergebnis haben es mit zwar Noch-Nicht-Gewordenem, aber Möglichem, freilich nicht notwendig Wahrscheinlichem zu tun. Was keine Antwort auf Jean-Paul Sartres berühmte Doppelfrage „Was ist Literatur?“ und „Was kann Literatur?“ ist, sondern nur ein mir zentral erscheinender Hinweis sein soll auf eine Besonderheit dessen, was wir „Literatur“ – also ästhetisch produzierte Texte – zu nennen uns angewöhnt haben.

II.

Literatur steht in zahlreichen Spannungsfeldern und hatte immer schon fliessende Grenzen und ausgefranste Ränder. Bekannt: Fact&fiction und ihr postmoderner Bastard: Faction. Freilich soll nicht übersehen werden, dass auch die scheinbar dokumentarischsten Formen, sofern nicht blosse Realitätsduplizierung, Resultate angewandter kreativ-ästhetischer Fantasie- und Kompositionselemente sind, etwa Rapportiertexte der Wander und Kirsch (M. Wander: „Guten Morgen, du Schöne“, Frauen in der DDR, Berlin 1977 / S.Kirsch: „Pantherfrau“, Unfrisierte Erzählungen, Berlin 1973).
Eines dieser Spannungsfelder, in dem (funktionshistorisch) Literatur und überhaupt ästhetische Texte stehen, verweist auf etwas, das stets in jeden literarischen Wirkungsprozess eingelagert ist: die Zeit-Deutungskompetenz – gerade in dieser unserer Zeit zunehmender Bindungslosigkeit und verlustiggehender (auch moralischer) Urteilsmassstäbe (schlagwortartig als „Individualisierung“ bezeichnet). Also: wie soll(t)en, könn(t)en, wollen wir leben?
Dies ist, wie mir scheint, eine der ersten Funktionskompetenzen zeitgenössischer Literatur im Spannungsfeld und in der Konkurrenz mit einerseits der Religion (dem geschichtlich älteren) und andererseits der Wissenschaft (dem geschichtlich neueren). Hier ist und bleibt Literatur (nicht zuletzt ihrer besonderen ästhetisch-subjektiven Aneignungs- und Darstellungsweisen von Welt wegen) unersetzlich – und als sprachlich präsentierter Sinn für Möglichkeiten, Alternativen und „konkrete Utopie“ (Bloch) unerreichbar auch und gerade von einer (Sozial)Wissenschaft, die nicht nur im deutschsprachigen Wirkungsbereich zunehmend prostitutiv auftritt und schon auf der Oberfläche kaum mehr das einholen und praktisch werden lassen kann, was noch Max Weber als grundlegende Methode aller (Kultur-)Wissenschaft galt: das Gedankenexperiment (Weber: „Die Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“, 1904).

III.

Neben diesem aus Allgemeinem abgeleiteten Grundhinweis sehe ich aber eine aktuelle Besonderheit von und für Literatur und deren Werke heute: die emotionale Erinnerungs-Arbeit. Denn wie William Faulkner („Soldiers Pay“, 1926) eingängig betonte: Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht mal vergangen. Insofern ist – ob sie das will oder nicht – alle Literatur immer schon einverwoben in das, was der französische Soziologe Maurice Halbwachs programmatisch als „mémoire collective“ (Das kollektive Gedächtnis, 1985) auslotete – und damit auch Erinnerungsarbeit dessen, was war, und zugleich Projektionsarbeit dessen, was nicht ist, aber werden könnte.
Nicht zuletzt deshalb, weil (wie schon der kleinstaatliche Geheimrat bereits vor zwei Jahrhunderten wusste) sich Vergangenes eben nicht blank „vom Halse schaffen lässt“ (Goethe) und Literatur (bei Strafe ihres Untergangs) eben nicht zu einem dümmlich-kindischen Nebengeschäft herrschender (ideologischer) Geschichtsschreibung verkommen mag, ist alle zeitgenössische wie historische Literatur, die diesen Namen verdient, nicht blosser ideologischer Text, nicht ideologisches Gedächtnis, sondern vielmehr (so z.B. Jorge Semprun eindringlich) „una memoria historica, testimonial“, also: Gedächtnis historischer Zeitzeugenschaft. Das ist Literatur also auch. Oder sie ist nichts. Und wenn’s keine Literatur ist, kann es, was immer es ist, ästhetisch nichts bewirken.

IV.

Wenn ich mich im heutigen neuen Deutschland rückbesinne und soziokulturelle Brüche bewerte, dann fällt mir auch und vor allem „68“ ein. Also der versuchte und bis heute untergründig wirksame kulturrevolutionäre Bruch, den man als „antiautoritäre Studentenbewegung“, „neoexpressionistischer Oh-Mensch-Aufbruch“, „junger Linksradikalismus“, „Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft“ (Erwin Scheuch) u.ä. etikettieren kann. Lese ich heute, eine Generation später, tonangebende Feuilletons für die ideologischen Stände, die als gebildet gelten möchten, dann ist hier ein kollektiver Akteur gleichsam schuldhaft ausgemacht, der schier alles zu verantworten hat: Von den verstörten Kindern infolge libertärer Erziehungsstile über den Rote-Armee-Terrorismus infolge Scheiterns studentischer Veränderungsvorhaben bis zur neuen spiessbürgerlichen Promiskuität infolge partnertauschender Wohngemeinschaften…
Auch hier wäre Literatur als Erinnerungsarbeit im Sinne obengenannter geschichtlicher Zeitzeugenschaft einerseits und als produktive Projektionsarbeit alternativer Lebensformen andererseits eingefordert. Wenn Literatur als besondere Form menschlicher Weltaneignung neue Funktionskompetenz gewinnen soll, dann müsste sie sich (wieder) auf alle Niederungen provinzieller lebensweltlicher Fauna und Flora einlassen und ihre Entdeckungsreisen mit ihren besonderen kreativen Mitteln aufarbeiten und mitteilen. ♦


Richard Albrecht - Soziologe - Politologe - Glarean MagazinRichard Albrecht

Geb. 1955 in Apolda/D; Studium der Sprach- und Sozialwissenschaften, Dr. phil., zahlreiche fachwissenschaftliche und essayistische Buch-Publikationen, lebt seit 1987 als Fachbuchautor in Bad Münstereifel/D – (Der obige Text entstand 1998 in Bad Münstereifel)

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Sprach-Essay von
Karin Afshar: Der Verlust der Herkunft

Karl-Heinz Schreiber: Warum noch Gedichte? (Essay)

Die Lyrik als interaktionistische Sublimations-Prophylaxe

von Karl-Heinz Schreiber

„Es war, als träte ich ins Manuskript ein…“
(Dürrenmatt, Justiz)

Was wissen wir schon von einem Gedicht?! Wir wissen nicht einmal, welches Wetter bei seiner Entstehung dominierte. Nur ein wenig Sensibilität des jeweiligen Autors scheint registrierbar. Aber was besagt dies eigentlich?! Empfindlich sind wir alle. Empfänglich sind die wenigsten. Zumindest für die feineren Reize. Und zu denen zählen zweifelsohne Frauen und Gedichte. Allerdings muss es hierbei eine Unterschiedlichkeit geben. Wer hätte nicht schon eine Frau bedichtet?! Aber wer befraut schon ein Gedicht?! Obwohl auch dies nicht uninteressant sein dürfte!

Warum schreiben wir Gedichte?

Nun soll also das Gedicht wirksam werden. In fast schon therapeutischer Hinsicht. Missbraucht wird es offensichtlich ohnehin und stets. Wie lieβe sich nun Dichten ohne Ballast praktizieren?! Könnte das Gedicht dem vorbeugen, wozu es sonst missbraucht werden könnte?! Man versteht Logik? Wie lieβe sich etwas verhindern, zu dessen Beseitigung man genau das bräuchte, was seine Verhinderung nicht bewerkstelligen konnte?! Oder: Warum schreiben wir Gedichte?! Könnte durch das Schreiben eines Gedichts das Schreiben eines Gedichts verhindert werden?! Dies ist die epochale Frage. Oder werden Gedichte womöglich auch noch aus anderen Gründen geschrieben, als andere Gedichte zu verhindern?!
Es ist Zeit für Erschütterung. Nicht eigentlich, was die Thematik angeht. Nein, hinsichtlich der Aktivitäten. Die Reflexion wird allerorten diskreditiert. Mit Argumenten, die keine mehr sein können, weil sie sich in der Gesamtschau einander aufheben. Aber das stört die Fraktionen nicht. Man reklamiert Verletzlichkeit. Man schafft originelle Tabus. Man verausgabt sich, um ein neuartiges Konzept von Parasitentum zu rechtfertigen.

Literatur ohne Einmischung?

Die Literatur hat den Status erlangt, legitim verausgabt sein zu dürfen. Man erwartet bestenfalls Innovationen, aber keine Einmischung mehr. Die Literatur multipliziert sich zu sehr. Dadurch wird sie parzellierbar, isolierbar, angreifbar, beherrschbar. Und so ist sie in kommunikationstechnischer Hinsicht unter das Niveau schlechtbeleumundeter Geheim-Diplomatie geraten. Die Objektivierarbeit von irgend etwas, geschweige denn von Aussagen, wurde wegrationalisiert. Als unmodern und unzweckmäβig erklärt. Das Subjektive ist mit postmoderner Endgültigkeit zum alleinigen und unversöhnlichen Maβstab erkoren. Jeder sein eigener Kosmos. Bis zur Realitätsverleugnung. Verständigung ist plötzlich nur noch dadurch möglich, dass man alles gelten lässt. Die Beliebigkeit wird zur neuen Orthodoxie.
Dennoch stellt sich kein Gefühl der Freiheit ein. Man ist mit kalkulierter Freizügigkeit zufrieden. Das gesellschaftliche Leben wird in seiner Relevanz minimalisiert. Zusammenkünfte haben längst nur noch rituellen Charakter. Die Literatur erhält dort, wo sie toleriert wird, Weihefunktion. Der Autor ist für eine Stunde Charismatiker, bis man ihn am Kneipentisch wieder auf seine Banalität zurückstuft. Notwehr und ihr Vorwurf sind somit programmiert. Womit wir, wie so häufig, bei der Frage nach Beschäftigung und Sinn derselben, beim Schriftsteller wären. Er kann observieren und bedauern, kommentieren und fordern, stänkern oder belobigen. Jedenfalls ist der Schriftsteller immer ein Zuspätgekommener. Er kann noch so früh aufstehen – immer findet er schon Ergebnisse vor. Der Schriftsteller dringt nicht bis zu den Verantwortlichkeiten vor. Aus diesen Grund ist wohl die Sublimationshypothese bezüglich der schriftstellerischen Betätigung in die Welt gesetzt worden. Bösartige oder naiv-wohlmeinende Kritiker mögen sie konstruiert haben. Als Alibi für sich selbst, um das Tun eines Schriftstellers auf die ganz banale Art erklären und gegebenenfalls belächeln zu können.

Sublimieren beim Schreiben?

Der Schriftsteller, dem Sublimation unterstellt wird, befindet sich in der Situation desjenigen, der verhaltensauffällig wurde und dem man  verspricht, dass er gleich auf schonende Weise abgeholt werde. Und man werde ihn irgendwo verwahren, wo er vor sich selbst in Sicherheit sei. Musste denn die Demütigung so weit gedeihen?
Bis die Schriftsteller bemerkten, dass man sie in die Mitleids-Oase abgeschoben hatte, war es schon sehr spät. Nun galt es wirksame, aber auch unverdächtige Strategien zu entwickeln. Nichts ist schwieriger, als sich von den Vorwürfen anderer zu befreien, ohne sich neuerlich zu belasten. Es galt, etwas Prinzipielles klarzukriegen: Etwas Begreifenswertes begreifen und etwas, was einem die Neider des Begreifens und der jeweiligen Problematik missgönnen – das wäre sowohl Thema als auch Triumph. Zu begreifen gilt es, dass man Schriftsteller nicht aus einem Defekt heraus wird. Die Frage ist, ob es eine Prophylaxe gegen überflüssige Unterstellungen gibt, damit man als Schriftsteller seine eigentliche Arbeit tun könne.
Schlieβlich wird man nicht Schriftsteller, um sich dann zu rechtfertigen, dass man einer ist. Wobei diese Rechtfertigung keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde. Eigentlich wird sie sowieso durch die Praxis des Schreibens geleistet. Es gilt klarzumachen, dass der Schriftsteller uneigennützig und bei klarem Verstand ist. Dass seine Begehrlichkeit immer Stellvertreter-Gefechte sind. Er schreibt nicht, weil ihm etwas fehlt, sondern weil er feststellt, dass der Menschheit zu vieles vorenthalten wird.
Ein Schriftsteller ist eigentlich immer in der Offensive. In dem Moment, da der Schriftsteller seine Funktion erkennt und akzeptiert hat, muss er sich seine Zeit und seine Energie geflieβentlich einteilen. Er will ja nicht nur Geld verdienen, sondern vor allem auch gehört werden. Ablehnung kann ihn trotzig machen, aber nicht stärker. Mit Nützlichkeits-erwägungen allein kommt man der Zweckbestimmung der Schriftstellerei nicht bei. Schriftsteller bleiben – im richtig verstandenen Sinne – immer Parasiten in Gesellschaften, die auf Kapital oder Ideologie getrimmt sind. Die Gesellschaft muss ihre Mahner und Warner mitfinanzieren – anders geht es nicht. Schriftsteller sind auf Solidarität und Interaktion angewiesen. Von Seiten der Gesellschaft und auch untereinander.

Der Schriftsteller als Künder und Utopist

Damit sich jeder Schriftsteller möglichst umfangreich seiner eigentlichen Aufgabe widmen könne (nämlich: dass das Leben angenehmer werde), bedarf es wahrscheinlich einer interaktionistischen Sublimationsprophylaxe. Was so kompliziert klingt, ist in realiter etwas ganz Banales: die Schriftsteller müssen in gewisser Weise zusammenhelfen, dass ihr Schreiben nicht nur die Frustration über bestimmte Zustände artikuliert, sondern dass es sich darum bemüht, Ursachen aufzudecken und Strategien mitzuentwickeln hilft, die Ursachen für Missstände zu erkennen und zu beseitigen. Darüber hinaus ist der Schriftsteller Künder und Geburtshelfer von Utopien. Dass man sich über Utopien verständigt, ist eigentlich selbstverständlich. Die Schriftsteller können dies in Essays tun – oder eben in Gedichten! Dies klingt in sich auch utopisch. Ist es aber viel weniger als notwendigerweise praxisorientiert.
Warum sollte nun gerade ein Gedicht interaktionistisch und sogar prophylaktisch wirken können? Und dies zunächst nur oder auch sogar personenbezogen im Rahmen der schriftstellerischen Bedürftigkeit. In jedem Falle stellt ein Gedicht etwas fest. Bringt etwas auf einen Ausdruck. Macht etwas, das nur für einen auffällig war, für viele auffällig. Lädt zu sich ein. Zu einer Beschäftigung, einem Sich-Einlassen. Wenn dies mehrere tun, ist schon der erste Schritt zur Interaktion getan.

Kein Text ist wirkungslos

Dass man dann Texte bespricht, wäre der zweite Schritt. Dass einem die Texte selbst und das Sprechen darüber helfen könnte, führt unmittelbar zur Prophylaxe. Kein Text ist wirkungslos. Ebensowenig wie ein Umgang mit Texten. Der Schriftsteller hilft sich selbst am meisten, wenn er anderen hilft. Lesern oder Schriftstellerkollegen. Es geht ja darum, Sublimation und deren Verursachung zu vermeiden. Wem es tatsächlich nur um Sublimation ginge, der dürfte nicht schreiben. Es ist nicht legitim, andere mit den eigenen Defiziten und Frustrationen zu belästigen. Wer schreibt, muss etwas zu geben haben. In einem Gedicht konzentriert sich jeweils ein Angebot, welches zu einer Kommunikation mit Perspektive beiträgt. Die wirksamste subjektive Sublimationsprophylaxe ist das Aufzeigen einer objektivierbaren, plausiblen Perspektive.
Der Autor muss also „ins Manuskript eintreten“, wenn er sich und seinen Lesern etwas Konkretes anbieten will. Die ganze Verherrlichung der assoziativen Schreibweisen in Lyrik und Prosa führt letztendlich auch zur Orientierungslosigkeit, was die Schreibabsicht anbetrifft. Die mehr oder weniger logische Konsequenz daraus ist die Frustration bei Autor und Leser. Es ist sozusagen die Multiplikation einer ursprünglich beim Autor empfundenen Frustration zu einem Produkt im doppelten Sinne. Nicht nur der Leser, auch der Autor ist hier zu bedauern.

Warum fehlt der Mut, den „positiven“ Menschen zu zeigen?

Die Frage nach der Alternative ist hoffentlich legitim. Und eine Beantwortung möge nicht anmaβend empfunden werden. Es ist im Grunde ganz einfach: Ein Autor, der „nichts zu sagen“ hat, sollte auch nicht schreiben. Wer darüber hinaus nur zur eigenen Sublimation schreibt, um anderen den Vorgang der Sublimation als ohnehin unvermeidlich schmackhaft zu machen, versündigt sich quasi an den Möglichkeiten des Schreibens.
Schreiben sollte dazu dienen, Sublimationsanlässe von vornherein zu vermeiden, eben prophylaktisch wirksam zu werden. Individuelle Existenz, gesellschaftliches Zusammenleben und die daraus erwachsenden bzw. darauf bezogenen Äuβerungsformen von Menschen – z.B. eben auch das Schreiben – können keinem vornehmeren Zweck dienen, als Enttäuschungen zu vermeiden, statt sie zu ritualisieren. Der Typus des „Versagers“ muss wieder aus unseren Köpfen und aus der Literatur verschwinden, weil er als Orientierungsfigur in den Fatalismus führt.
Warum fehlt uns der Mut, den „positiven“ Menschen zu zeigen? ♦


Karl-Heinz SchreiberKarl-Heinz Schreiber
Geb. 1949 in Werneck/BRD, zahlreiche Buch-, Anthologie- und Magazin-Veröffentlichungen von Lyrik, Prosa und Essays, Herausgeber  von „Kult – Magazyn fyr Netzwerk-Poesy“, lebte und arbeitete in Goldach/BRD, verstorben 2014

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Essay von
Arnold Leifert: Wozu Literatur?
sowie die Würdigung von Wolfgang Windhausen:
Walter Janka – Ein ungewöhnlicher Lebenslauf

Heute vor … Jahren: Das Musical „Show Boat“

Die Geburtsstunde des Musicals

Walter Eigenmann

Vor exakt 80 Jahren, am 27. Dezember 1927 führt das Ziegfeld Theatre in New York das erste Musical der Musiktheater-Geschichte auf: „Show Boat“ des Komponisten Jerome Kerne und des Drehbuch-Texters Oscar Hammerstein.

Vom Vorbild der Operette emanzipiert

Historisches Aufführungs-Plakat mit Ava Gardner und Howard Keel
Historisches Aufführungs-Plakat mit Ava Gardner und Howard Keel

Das Stück um den Mississippi-Kapitän Haws und seine äusserst vielfältig-kontroverse Passagier-Schar auf ihrem Theater-Schiff entpuppt sich schnell als einer der allergrössten Erfolge der US-amerikanischen Musical-History. Mit dem Werk emanzipiert sich die unterhaltende amerikanische Musik-Bühne endgültig von ihrem biederen Vorbild der europäischen Operette. Mehrfache Verfilmungen und seit 1927 ununterbrochene Aufführungen auf allen grossen Stages der Welt beweisen den offensichtlich nach wie vor ungebrochenen Reiz und die musikalische Frische der teils quirligen, teils sentimentalen, teils sozialkritischen „Cotton-blossom“-Story von Kern & Hammerstein.

Neue Form des Entertainment-Theaters

Das legendäre "Ol man river"
Das legendäre „Ol‘ man river“

Autorin Edna Ferber, auf deren gleichnamigem Roman der Bühnenstoff basiert, soll zunächst entrüstet über die Zumutung gewesen sein, dass ihr „Show Boat“ als Grundlage für eine der damals üblichen seichten Nummern-Revues herhalte, deren Handlungen bloss als triviale Gerüste für effektvolle Musik-Potpourris zu dienen pflegten. Komponist Kern suchte indes nach neuen Formen des musikalischen Entertainment-Theaters und konnte Ferber schliesslich überzeugen.

Ungewöhnliche Ballung von Musical-Hits

Massgeblich zum durchschlagenden Erfolg der Südstaaten-Tragikomödie trugen nicht nur ihre damals neuen und schockierenden Themata wie Alkoholismus, Rassenhass oder Frauen-Emanzipation, sondern trägt v.a. die melodische und harmonische Qualität der „Show-Boat“-Songs bei: Titel wie „Can’t Help Lovin’ Dat Man“, „Make Believe“, „You Are Love“, oder der Evergreen „Ol’ Man River“ (Bild&Film-Ausschnitt/1936) gehören zu den grössten Hits, die das amerikanische Musical hervorgebracht hat. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den bedeutenden Musical-Schöpfer
Andrew Lloyd-Webber: Das Komponisten-Porträt

… sowie zum Thema Unterhaltungsmusik über:
Das Wiener Musik-Kollegium feiert Jubiläum

Heute vor … Jahren: Prélude a l’après-midi d’un faune

Atmosphärische Musik-Erotik

von Walter Eigenmann

Wegbereiter der Moderne: Impressionist Claude Debussy
Wegbereiter der Moderne: Impressionist Claude Debussy

Am 22. Dezember 1894 wird in der Pariser „Société nationale de Musique“ Claude DebussysPrélude a l’après-midi d’un faune“ uraufgeführt. Dieses impressionistische Schlüsselwerk der Neuen Musik im 20. Jahrhundert basiert in seinem Gefühlsgehalt auf dem berühmten symbolistischen Mallarmé-Gedicht „L’Après-midi d’un faune“ (1865) und entbehrt laut Debussy aller Narrativität, sei also nicht Schilderung, sondern Stimmung:

„La musique de ce Prélude est une très libre illustration du beau poème de Mallarmé. Elle ne désire guère résumer ce poème, mais veut suggérer les différentes atmosphères, au milieu desquelles évoluent les désirs, et les rêves de l’Egipan, par cette brûlante après-midi. Fatigué de poursuivre nymphes craintives et naïades timides, il s’abandonne à un sommet voluptueux qu’anime le rêve d’un désir enfin réalisé: la possession complète de la nature entière.“

„Das Fehlen von Stil und Logik kultiviert“

Flöten-Motiv aus Claude Debussys
Flöten-Anfangsmotiv aus Claude Debussys „Prélude a l’après-midi d’un faune“

Das Orchesterstück von ca. 10-minütiger Dauer, instrumentiert mit 3 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 1 Englischhorn, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Harfen, 2 Cymbales antiques oder Crotales und Streichquintett, sorgte sofort für diametral unterschiedliche Einschätzungen durch Debussys komponierende Zeitgenossen. (Saint-Saëns: „Debussy hat das Fehlen von Stil und Logik kultiviert…“)

Der Barberinische Faun (Schlafender Satyr) - Glarean Magazin
„Erotische Stimmungen eines Fauns im Zustand des Dämmerns“: Der Barberinische Faun („Schlafender Satyr“)

Heute steht allerdings der hohe ästhetische und musikhistorische Rang von Debussys impressionistischer Evokation der „erotischen Stimmungen eines Fauns im Zustand des Dämmerns“ ausser Frage. Pierre Boulez erhob das Werk gar zum Ausgangspunkt der musikalischen Moderne überhaupt: „C’est avec la flûte du faune que commence une respiration nouvelle de l’art musical […], on peut dire que la musique moderne commence avec L’Après-midi d’un Faune.“ ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Stichwort Flöte auch über
Tabea Debus: XXIV Fantasie per il Flauto (CD)

… sowie zum Thema Orchestermusik auch über
Antonín Dvořák: Aus der Neuen Welt

Heute vor … Jahren: Aus der Neuen Welt. (A. Dvořák)

„Der Geist von Neger- und Indianer-Melodien“

von Walter Eigenmann

Am 16. Dezember 1893 hört die Welt erstmals eine der berühmtesten Sinfonien der Musik-Geschichte: Unter der Leitung des deutschen Dirigenten Anton Seidl wird in der New Yorker Carnegie Hall vom Orchester der Philharmonischen Gesellschaft die 9. Sinfonie in e-moll von Antonín Dvořák uraufgeführt.

Themen mit Eigenarten des indianischen Melos

Dvorak-Autograph: Titelblatt der 9. Sinfonie
Dvořák-Autograph: Titelblatt der 9. Sinfonie

Was an der (während Dvoraks dreijährigem Amerika-Aufenthalt entstandenen) Neunten wirklich „amerikanisch“ ist, hat der Komponist selber noch vor der Uraufführung klargestellt: „Es ist der Geist von Neger- und Indianer-Melodien, den ich in meiner neuen Symphonie zu reproduzieren bestrebt war. Ich habe keine einzige jener Melodien benützt. Ich habe einfach charakteristische Themen geschrieben, indem ich ihnen Eigenarten der indianischen Musik eingeprägt habe, und indem ich diese Themen als Gegenstand verwendete, entwickelte ich sie mit Hilfe aller Errungenschaften des modernen Rhythmus, der Harmonisierung, des Kontrapunktes und der orchestralen Farben.“ („New York Herald“ vom 12. Dezember 1893).

Böhmisches National-Kolorit neben synkopierten Afro-Amerikanismen

Antonin Dvorak (1841-1904)
Antonin Dvorak (1841-1904)

Nach New York gelockt hatten Dvorak die 15’000 US-Dollar, die ihm die reiche Kaufmanns-Witwe und Kunstmäzenin Jeannette Thurber als Jahresgehalt versprach, wenn er als Direktor und Kompositionslehrer an dem von ihr gegründeten National Conservatory of Music wirke. Dvorak trat die Stelle im September 1892 an – in Begleitung seiner Familie – und blieb immerhin bis April 1895.
Neben seiner Lehrtätigkeit befasste sich Böhmens berühmtester Musik-Export auch mit der Folklore der damaligen europäischen Auswanderer, mit der synkopischen Rhythmik der Afroamerikaner und der pentatonischen Melodik indianischen Ursprungs – musikalische Elemente, die allesamt massgeblich und problemlos hörbar in die Neunte einflossen. Allerdings zitiert die formal durchaus traditionell strukturierte Sinfonie keine „indianischen Weisen“, wie das begeisterte Zeitgenossen herausgehört haben wollten, und das böhmisch-tschechische Volks-Kolorit aus des Komponisten Heimat ist in der Sinfonie mindestens ebenso präsent wie die typischen „Amerikanismen“. (Hier findet sich eine gute Übersicht des sinfonischen Aufbaus der „Neunten“).

Der "New York Herald" vom 16.12.1893: "Dr. Dvorak's Great Symphony"
Der „New York Herald“ vom 16.12.1893: „Dr. Dvorak’s Great Symphony“

Um die New Yorker Uraufführung unter Seidl wurde in den dortigen Medien ein regelrechter Hype entfacht. Die führenden Tageszeitungen präsentierten lange vor dem Konzert umfangreiche Artikel und Analysen inkl. Notenzitate. Kritiker wie Publikum feierten Werk und Komponist überschwenglich, und von Übersee aus trat schliesslich Dvoraks sinfonisches Glanzstück seine Reise in alle Konzertsäle der (europäischen) Welt an. Bis heute ist „Aus der Neuen Welt“ Dvoraks berühmtestes Orchester-Opus und zählt überhaupt zu den weltweit häufigst aufgeführten Werken der klassischen Musik. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Klassische Orchestermusik auch über
Claude Debussy: Prélude a l’après-midi d’un faune

… sowie zum Thema Sinfonik auch von
Jürgen Kirschner: Zum 50. Todesjahr von Jan Sibelius

Heute vor … Jahren: Euwe wird Schach-Weltmeister

Schach-Amateur Euwe wird Weltmeister

von Walter Eigenmann

Am 15. Dezember 1935 gewinnt in Amsterdam der 34-jährige holländische Mathematik-Lehrer und Versicherungs-Statistiker Max Euwe als Amateur sensationell die Schach-Weltmeisterschaft. Mit dem denkbar knappsten Ergebnis von 15,5 zu 14,5 Punkten schlägt er als Herausforderer das zu dieser Zeit als unbesiegbar geltende exilrussische Schach-Genie Alexander Aljechin.

Amateur Max Euwe (sitzend) gewinnt 1935 gegen das Schachgenie Alexander Aljechin (stehend) den Weltmeister-Titel
Amateur Max Euwe (sitzend) gewinnt 1935 gegen das Schachgenie Alexander Aljechin (stehend) den Weltmeister-Titel

Für das Match wurde eine Kampfbörse von 10’000 Dollar ausgesetzt, es begann am 3. Oktober in Amsterdam und wurde anschliessend in mehreren Städten Hollands fortgesetzt. Aljechin ging schon bald (wie erwartet) mit 6:3 in Führung, doch der zähe und geduldige Holländer kämpfte sich wieder heran und gewann schliesslich nach 9 Siegen, 8 Niederlagen und 13 Unentschieden.

Die Perle von Zandvoort

Eine der schönsten Partien spielten die beiden in Zandvoort (in der 26. Runde), wonach der als Journalist vor Ort berichtende Grossmeister S. Tartakower sie auf den bis heute verbreiteten Ehrennamen „Die Perle von Zandvoort“ taufte:

M. Euwe – A. Aljechin, WM-Match, Zandvoort 1935
(26. Partie, A90/Holländische Verteidigung)

1.d4 e6 2.c4 f5 3.g3 Lb4+ 4.Ld2 Le7 5.Lg2 Sf6 6.Sc3 O-O 7.Sf3 Se4 8.O-O b6 9.Dc2 Lb7 10.Se5 Sxc3 11.Lxc3 Lxg2 12.Kxg2 Dc8 13.d5 d6 14.Sd3 e5 15.Kh1 c6 16.Db3 Kh8 17.f4 e4 18.Sb4 c5 19.Sc2 Sd7 20.Se3 Lf6 21.Sxf5 Lxc3 22.Sxd6 Db8 23.Sxe4 Lf6 24.Sd2 g5 25.e4 gxf4 26.gxf4 Ld4 27.e5 De8 28.e6 Tg8 29.Sf3 Dg6 30.Tg1 Lxg1 31.Txg1 Df6 32.Sg5 Tg7 33.exd7 Txd7 34.De3 Te7 35.Se6 Tf8 36.De5 Dxe5 37.fxe5 Tf5 38.Te1 h6 39.Sd8 Tf2 40.e6 Td2 41.Sc6 Te8 42.e7 b5 43.Sd8 Kg7 44.Sb7 Kf6 45.Te6+ Kg5 46.Sd6 Txe7 47.Se4+ 1:0

Ein stiller und fairer Gentleman

Max Euwe - Ex-Schach-Weltmeister - Euwe-Zentrum Amsterdam - Glarean Magazin
Denkmal im Max-Euwe-Zentrum Amsterdam

Bereits im Vorfeld der Weltmeisterschaft löste der stille und bescheidene, nach allen Augenzeugen-Berichten stets ausnehmend fair kämpfende Gentleman Euwe in seinem Heimatland eine wahre Schach-Euphorie aus, er wurde gefeiert wie ein Star und verhalf dem Königlichen Spiel zu einer bis anhin noch nicht dagewesenen Verbreitung.

In der Folge publizierte der schachtheoretisch äusserst profunde, stets den logisch-wissenschaftlichen Aspekt des Schachs betonende Systematiker eine Fülle von Eröffnungs-, Mittelspiel- und Endspiel-Monographien. In der gesamten Schach-Welt als herausragende Persönlichkeit anerkannt, wählte ihn 1970 die Internationale Schachföderation FIDE zu ihrem Präsidenten. Eine seiner letzten grossen Herausforderungen war deshalb die Organisation des „Jahrhundert-Matchs“ mitten im Kalten Krieg zwischen dem Amerikaner Bobby Fischer und dem Russen Boris Spassky 1972 in Reykjavik/Island. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schach-Weltmeisterschaft auch über Gerhard Kubik: Die Psychotricks der Schachprofis
… sowie die über den neuen Weltmeister Viswanathan Anand: Titelgewinn ohne eine Niederlage
ausserdem zum Thema Schach in Holland: Die Biographie über Hein Donner von Alexander Münninghoff

Heute vor … Jahren: Des Teufels General (Zuckmayer)

Tragische Entscheidungen unbescholtener Menschen

von Walter Eigenmann

Am 14. Dezember 1946 wird Carl Zuckmayers Drama „Des Teufels General“ am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. Das Stück, 1945 in Zuckmayers amerikanischem Exil entstanden, thematisiert den Gewissenskonflikt des Luftwaffen-Generals Harras – dessen reales Vorbild der NS-Generaloberst Ernst Udet ist -, welcher sich Hitlers Wehrmacht aus fliegerischer Besessenheit verschrieben hat, aber im Dezember 1941 erkennt, dass er mitschuldig wurde an Krieg und Unmenschlichkeit. Harras sühnt sein moralisches Versagen, indem er durch seinen Tod den charaktervolleren Freund, der durch Sabotage Widerstand geleistet hat, dem Zugriff der SS-Mörder entzieht.

Idealisierung eines Nazi-Offiziers

Des Teufels General - Szenenfoto aus dem Film von H. Käutner (1954, Hauptrolle Curd Jürgens)
Des Teufels General – Szenenfoto aus dem Film von H. Käutner (1954, Hauptrolle Curd Jürgens)

Kritische Köpfe (auch des damaligen Widerstandes) werfen Zuckmayer bis heute vor, er habe die Gestalt Harras‘ idealisiert. Befürworter hingegen anerkennen die „literaturpolitische“ Leistung des Dramas, welches unmittelbar nach der Nazi-Barbarei eine öffentliche Diskussion um die Möglichkeiten des aktiven Widerstands bzw. der passiven Duldung entfachte. Vor allem bei den jüngeren Deutschen weckte Zuckmayer, der sich selbst den Gesprächen in vielen Städten stellte, ein Bewusstsein von offenen und freien Reden.

Tragische Entscheidung von unbescholtenen Menschen

Carl Zuckmayer (1896-1977)
Carl Zuckmayer (1896-1977)

Zuckmayer selbst war sich im Klaren darüber, dass sein Dreiakter zu bewussten Fehlinterpretationen benutzt werden konnte. Zehn Jahre nach der enthusiastisch gefeierten Londoner Aufführung zog der Autor das Stück von sämtlichen deutschen Bühnen zurück. Zuckmayer: „Es wäre allzuleicht, im positiven oder negativen Sinne, das Stück heute als ‚Entschuldigung‘ eines gewissen Mitmachertyps misszuverstehen. Sein Inhalt ist jedoch die tragische Situation und schliesslich die tragische Entscheidung von unbescholtenen Menschen, die gezwungen sind, oder sich, wie Harras, aus Leichtsinn dazu hergegeben haben, einer ihnen verhassten Gewaltherrschaft zu dienen.“
Der Dramatiker widmet das just nach dem Krieg beendete Stück seinen von den Nazis ermordeten Freunden Theodor Haubach, Wilhelm Leuschner und Helmuth von Moltke.

Kongeniale Verfilmung

"Nur zum Teil durch tatsächliche Ereignisse und Personen angeregt": Theater-Anzeige der Uraufführung von "Des Teufels General"
„Nur zum Teil durch tatsächliche Ereignisse und Personen angeregt“: Theater-Anzeige der Uraufführung von „Des Teufels General“

1954 nimmt sich der Regisseur Helmut Käutner der Verfilmung des Zuckmayer-Schauspiels an, besetzt die Hauptrollen mit Curd Jürgens und Marianne Koch. Die Film-Macher erhielten vom Autor unbeschränkte Vollmacht, was in zusätzlichen Handlungssträngen und Hinzufügungen von Charakteren resultierte. Insbesondere der Harras-Gegenspieler und Himmler-Adlat Schmidt-Lausitz wird vom tumben Befehlsvollstrecker zum intelligent agierenden SS-Offizier aufgewertet. Der Film erhielt mehrere Auszeichnungen und gilt als kongeniale Realisierung der Zuckmayerischen Intention.♦

Lesen Sie im Glarean Magazin in der Rubrik „Heute vor…“ auch über
„Die Zofen“ von Jean Genet
… sowie zum Thema Nazi-Barbarei über
Oskar Maria Graf: Unruhe um einen Friedfertigen
ausserdem in der Rubrik „Heute vor…“:

Heute vor … Jahren: „Die letzten Tage der Menschheit“

Über die Profiteure des Krieges

von Walter Eigenmann

Am 13. Dezember 1918 veröffentlicht der österreichische Schriftsteller sowie Zeit- und Sprach-Kritiker Karl Kraus in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ den ersten Teil seines dramatischen Hauptwerkes „Die letzten Tage der Menschheit“ (Ein „Prolog“ der „Tragödie“ erschien bereits 1916).
Das gewaltige, substantiell wie formal einzigartige Epos montiert dokumentarische „Szenen“ zu einer Apokalypse des (eben beendeten) Ersten Weltkrieges.

Karl Kraus - Prolog-Umschlagseite der "Fackel" mit dem Anfang von "Die letzten Tage der Menschheit"Allerdings ist „Die letzten Tage der Menschheit“ keineswegs ein Sammelsurium von Kampf-Schilderungen. Die wirklichen Schrecken des Krieges manifestieren sich gemäss Kraus im Verhalten jener Menschen, die in ihrer Ignoranz den Ernst und die Tragik des Krieges nicht wahrhaben wollen, sondern sich fernab vom eigentlichen Kriegsschauplatz an ihm bereichern und ihn mit lügnerischen Phrasen beschönigen: Journalisten, Händler, hohe Militärs und Kriegstreiber, die sich fern vom Schlachtfeld im Ruhm ihres militärischen Ranges baden. Kraus entlarvt die Phraseologie und die Worthülsen („Der Krieg ist ausgebrochen“), und er zeigt apokalyptisch, wer vom Krieg profitiert – und wer ihn immer guten Glaubens und sehenden Auges verliert.

Satire gegen den Krieg

Seine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ schrieb Kraus in den Jahren 1915–1922; sie ist Kraus‘ moralisch entrüstetste, dabei fast ausschliesslich mit den literarischen Mitteln Satire, Zitat und Collage bewältigte Reaktion auf ein geschichtliches Ereignis, dem eigentlich mit Satire nicht beizukommen ist: dem Ersten Weltkrieg. Eine fortlaufende Handlung haben die „Letzten Tage“ nicht, sondern die Absurdität des Krieges, seine Macher und Profiteure werden mit über 200 mehr oder weniger zusammenhängenden, auf authentischen zeitgenössischen Quellen beruhenden „Szenen“ gegeisselt.
Zusammengehalten wird das vielseitige Epos von den Aussprüchen und Bekenntnissen einer grossen Menge widersprüchlicher, aber auf den Krieg fokussierter und von ihm profitierender Personen der realen Zeitgeschichte – angefangen bei der korrumpierten Politiker-Kaste über den gleichgeschalteten Journalismus und die skrupellos agierende Militärführung bis hin zum tumben Mitläufer auf der Strasse.

Symptome des Unheils vorausgesehen

Querdenker, Wortkünstler, Prophet, Moralinstanz: Karl Kraus (1874-1936)
Querdenker, Wortkünstler, Prophet, Moralinstanz: Karl Kraus (1874-1936)

Äusserst treffend hat der Schweizer Germanist und Schriftsteller Peter von Matt in der NZZ vom 15.8.2014 das kulturgeschichtliche Verdienst von Karl Kraus und seiner „Letzten Tage der Menschheit“ zusammengefasst (Zitat): „Dass Krieg und Propaganda zusammengehören wie Kopf und Zahl einer Münze, ist bekannt. Es zeigt sich jeweils am deutlichsten beim Beginn der militärischen Operationen. Und dass die Propaganda zusammenfällt mit der Manipulation aller populären Medien, weiss man auch seit je. Aber wie diese Propaganda einsickert in die einzelnen Gehirne und von da wieder auf die Zungen kommt, wie sie sich vernetzt mit dem Egoismus des Einzelnen und ihm zur Kaschierung seiner kleinen Schuftereien dienen kann, das steht nicht in den politischen Analysen. Hierzu braucht es den literarischen Blick, der das Detail vor dem Ganzen sieht, dafür aber auch dieses Ganze im Detail aufleuchten lässt wie die Sonne in einer Glasscherbe. Kraus besass die Fähigkeit, die feinsten Symptome des Unheils zu sehen und zu hören.“

Das Lied von der Presse

Im Anfang war die Presse
und dann erschien die Welt.
Im eigenen Interesse
hat sie sich uns gesellt.
Nach unserer Vorbereitung
sieht Gott, dass es gelingt,
und so die Welt zur Zeitung
er bringt […] Sie lesen, was erschienen,
sie denken, was man meint.
Noch mehr lässt sich verdienen,
wenn etwas nicht erscheint.

Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ ist in seinem beissenden Zugriff, in seiner Virtuosität des Jonglierens mit Zitaten, Phrasen  und Statements ein Anti-Kriegs-Epos, das zu den beeindruckendsten der gesamten Literaturgeschichte zählt – als der verzweifelte Versuch, die Ungeheuerlichkeit eines Weltkrieges auf nur 770 Buchseiten mit sprachlichen Mitteln zu bewältigen.
Dieser monumentale Versuch mag nicht auf absolut jeder Seite von Kraus‘ Werk gelungen sein. Doch wer die politischen Wirren auf der aktuellen Weltbühne beobachtet, dem wird klar, wie hellhörig, wie weitsichtig dieser böhmische Sprachvirtuose die grundlegenden Mechanismen moderner Gesellschaften schon vor fast hundert Jahren vorweg nahm – und welche offensichtlich schier unüberwindlichen desaströsen Konstanten das Geschick der „Menschheit“ bestimmen…

Krieg ist zuerst die Hoffnung, dass es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, dass es dem andern schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, dass es dem andern auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, dass es beiden schlechter geht. (Karl Kraus)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Satire auch von
Walter Eigenmann: Was ist Satire?
… sowie über Karl Kraus in:
Zum 100. Todestag von Rosa Luxemburg

Walter Eigenmann: Der Chor in der romantischen Oper

Vom „Gefangenen“-Hymnus zum „Zigeuner“-Kolorit

von Walter Eigenmann

Die „romantische“ Oper, also jene musiktheatralische Ausprägung, welche die „ernste“ Bühnenmusik fast des gesamten 19. Jahrhunderts beherrschte, ist sowohl stilistisch wie inhaltlich nicht einheitlich zu fassen.
Zwischen etwa Carl Maria von Webers „deutsch“-volksliedhaft gehaltenem „Freischütz“ (1821 uraufgeführt) und Bizets „französisch“-effektreicher „Carmen“ (1875) oder zwischen der chromatisch stark gebrochenen, „dramatischen“ Harmonik in Wagners „Tannhäuser“ (1845) und dem italienisch-glutvollen, populären Arien-Melos z.B. eines Verdi-„Trovatore“ liegen Welten.

Richard Wagner - Tannhäuser-Aufführung in Bayreuth - Glarean Magazin
Der Chor als Handlungs-Essenz in der Oper: Bayreuther Inszenierung von Wagners „Tannhäuser“

Schon der (ursprünglich literarisch gemeinte) Begriff der „Romantik“ ist ideengeschichtlich widersprüchlich. Immerhin sind etwa, in deutlichem Unterschied zur vorausgegangenen „Klassik“, ein extremes Ausdrucksbedürfnis, die Entgrenzung des Subjekts, eine teils beinahe märchen-hafte Weltsicht, die naturbezogene Idyllik, sowie die Forderung nach Originalität und Neuheit der Werke, gekoppelt mit historisierenden Tendenzen, als die wesentlichen ( wenn hier auch stark vereinfachten) Stichworte im „Programm“ der Romantiker zu nennen.

Besinnung auf das „geschichtliche Erbe“ in den „national-romantischen“ Strömungen

Iphigenie in Aulis - Euripides - Chor der Chalkidischen Frauen - Glarean Magazin
Der Chor nicht als Handlungs-Träger, sondern als Erzähl-Instanz: Chalkidische Frauen in Euripides‘ „Iphigenie in Aulis“

Als ein besonders facettenreicher Aspekt der Oper im 19. Jahrhundert müssen, als Ausdruck der damaligen allgemeinen Besinnung auf das „geschichtliche Erbe“, noch ihre „national-romantischen“ Strömungen – die italienischen (Verdi), deutschen (Wagner), französischen (Bizet) und slawischen (Smetana) „Schulen“ – mit je spezifischem Klang- und Melodien-Kolorit erwähnt werden.

Der Opern-Chor als politischer Verkünder

Dem Chor kommt dabei in der romantischen Oper, ausgehend von seiner wichtigen Rolle in der griechischen Tragödie, den geistlichen und weltlichen Spielen des Mittelalters oder den Masken- und Triumphzügen der Renaissance, eine besondere, teils gar tragende Bedeutung zu. Gerade in der Romantik wird er nicht selten zum eigentlichen Verkünder und Träger des „politischen“ Gehalts einer Oper, oft zum triumphalen Massen-Spektakel, welches die Botschaft(en) des Werkes hundertköpfig multiplizieren soll.

Richard Wagner: Partitur-Auszug des Tannhäusers (Sängerkrieg auf der Wartburg)
Richard Wagner: Partitur-Auszug des Tannhäusers (Sängerkrieg auf der Wartburg)

„Flieg, Gedanke“: Heimliche Nationalhymne Italiens

Verdi - Gefangenen-Chor aus Nabucco - Glarean Magazin
Der Chor als politischer Katalysator: „Gefangenen-Chor“ aus Verdi’s „Nabucco“

Als beispielsweise 1842 in Mailand erstmals Verdis weltberühmter Gefangenen-Chor aus „Nabucco“ („Va pensiero sull’ali dorate“ / „Flieg, Gedanke, auf goldnen Flügeln“) erklang, wusste ganz Italien sofort, für welchen Kampf dieser Hilferuf stand; „Va pensiero“ wurde zum musikalischen Banner des „Risorgimento“ – und blieb bis heute die heimliche Nationalhymne Italiens… ♦

 

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über die
Bedeutung des Politischen in der frühromantischen Oper: La Muette de Portici

Kür der Allgemeinbildung: Das Bilder-Rätsel (Rebus)

Der Rebus – Magie des Zeich(n)ens

von Walter Eigenmann

Das „klassische“ Bilder-Rätsel, zumal das im 18. und 19. Jahrhundert in Europa verbreitete, – auch unter dem Begriff „Rebus“ bekannt – zählt zu jenen „Denksport-Arten“, die vom Betrachter bzw. Löser oft ein hohes Maβ an Logik, Allgemeinbildung, Assoziationsfähigkeit und Abstraktionsvermögen, aber auch gehörigen Sinn fürs Pittoreske, ja Surreale verlangen. Auf höchstem Niveau wird der Rebus, wo er sowohl zeichnerisch mit Kunstanspruch daherkommt als auch explizit nach Sinn-Sprüchen, Sprichwörtern oder anderen moralischen Sentenzen sucht, gleichsam zur „modernen“ Hieroglyphe, deren Semiotik und Semantik aufzuschlüsseln oft nur in vielstündiger Arbeit gelingt – wenn überhaupt.

Das Bilderrätsel als politische oder religiöse Chiffre

Beispiel eines simplen, aber zeichnerisch reizvollen Rebus aus dem vorletzten Jahrhundert; Gesuchter Begriff:
Beispiel eines simplen, aber zeichnerisch reizvollen Rebus aus dem vorletzten Jahrhundert; Gesuchter Begriff: „Eine angesehene Person“

Die Beschäftigung mit dieser nicht erst seit dem vorletzten Jahrhundert (v.a. im romanischen Raum) verbreiteten, sondern schon in der Antike nachweisbaren Form des „Dechiffrierens“ sinnvoll geordneter Bild- und Buchstaben-Elemente ist also meilenweit entfernt davon, bloβ „die Zeit totzuschlagen“. Denn die zu transponierenden Inhalte des klassischen Rebus waren zwar oft unterhaltsamer, aber meistens vielmehr (oder zumindest auch) politischer, gesellschaftlicher, ja gar religiöser Art. Im Gegensatz zum heutigen, in seiner Verbreitung dem früheren Rebus vergleichbaren Kreuzwort- gesellt sich beim Bilder-Rätsel zum rein sprachlich-lexikalischen Kontext noch das Lautmalerische und das Zeichensprachliche – die ganze komplexe Welt des Piktographischen. Damit hat der anspruchsvolle Rebus (vom späten Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert) mit der primitiven Zeichensprache z.B. schriftunkundiger Naturvölker nur noch wenig gemeinsam.

Zu einer regelrechten Mode, die praktisch den gesamten gesellschaftlichen Bereich der Zeit „abdeckte“, wurde der Rebus in der Renaissance. Angeregt von der damals aufstrebenden, die gelehrte (Humanismus-)Welt sofort faszinierende Ägyptologie bzw. Hieroglyphik entstand eine gewaltige Fülle von Bild-Wort-Zeichen-Buchstaben-Fügungen, welche von der Familie bis zum Staat, von der Erotik bis zur hohen Politik fast alles an Höfischem und Gehobenem, aber nicht immer „Salonfähigem“ chiffrierte.

Jenseits aller gelehrten Spielerei

Melchior Mattsbergers
Melchior Mattsbergers „Biblische Figur-Sprüche“

Der Rebus wurde also zu weit mehr als einer gelehrten Spielerei, und bald prangten auf allen möglichen Kunst-Gegenständen, Pfortensäulen und Medaillen der Renaissance solche Rätsel-Inschriften. Das 17. und 18. Jahrhundert weitete den Rebus dann sogar religiös aus zur „Geistlichen Herzenseinbildung“ (z.B. beim Augsburger Autor Melchior Mattsperger), welche biblische Inhalte rebusartig „übersetzte“ – zur „Erbauung und frommen Unterrichtung der Jugend“.

Anhand des folgenden, mittelschweren, in der Komposition aber repräsentativen Rebus aus der seinerzeit berühmten Postille „Über Land und Meer“ – ihr sind praktisch alle unsere Grafiken dieses Artikels entnommen – sei nachstehend beispielhaft untersucht, wie ein Rebus zusammengesetzt ist – und wie man ihn knackt:

Rebus aus der seinerzeit berühmten Postille
Rebus aus der seinerzeit berühmten Postille „Über Land und Meer“

Das Rätsel ist mit seinen drei Zeilen und deren deutlich abgegrenzten Bildmotiven (3-4-3) graphisch klar strukturiert, und obwohl es kaum „Sprach-liches“ (Wörter&Buchstaben), sondern fast ausschlieβlich „Bild-haftes“ (Figuren und Zeichen) aufweist (was die Lösung gemeinhin erschwert),  lassen sich seine Elemente gut isolieren und damit leichter analysieren:

advo.jpg
Der halbierte Adler (= Ad) und die zwei Buchstaben vo = Advo…

katzen.jpg
DieKatzen ohne das Z (durchstrichen) = katen —> Advokaten

oresund.jpg
Das liegende Fragezeichen als Brücke über den Fluss zwischen Malmö und Kopenhagen = Öresund; das anführende Apostroph (nach Kopenhagen) als häufiges Auslassungszeichen im Rebus = und

soldaten.jpg
= Soldaten

k-s-ind.jpg
Das Kind mit dem auslassenden Apostroph bzw. dem ersetzenden s = sind

des.jpg
Die Musiknote = des

teufels.jpg
Der Teufel mit angefügtem s = Teufels

spiegel.jpg
Der Spiegel mit den beiden durchstrrichenen Buchstaben g und l = Spiel…

kamera.jpg
Die Kamera mit dem auslassenden Apostroph am Schluss = …kamer… —> Spielkamer…

aden.jpg
Unterhalb von Sanaa am Golf = …aden —> Spielkameraden

Die Lösung lautet hier also:  „Advokaten und Soldaten sind des Teufels Spielkameraden“

Vom simplen Bild-Motiv bis zur komplexen Verschlüsselung

Wie immer in einem anspruchsvolleren Rebus wechseln sich auch hier leicht ersichtliche Bild-Motive (z.B. „Soldaten“) und schwierigere, nicht ohne Recherche-Arbeit zu enträtselnde Verschlüsselungen (z.B. Öres“und“brücke) ab. Mit etwas Hartnäckigkeit und Allgemeinbildung (nicht zuletzt auf dem Gebiete der gängigsten alten Sinn- und Moralsprüche…) ist aber auch in unserer Zeit jedes noch so künstlerisch-abstrakte Bilderrätsel aus dem 19. Jahrhundert decodierbar. Wobei nicht vergessen werden sollte, dass seinerzeit weder genaue Landkarten noch Google bekannt waren…

Lehnen Sie sich also mal entspannt zurück und widmen Sie Ihren ganzen Scharfsinn der folgenden Knacknuss. Gesucht ist einmal mehr ein „Spruch zur Erbauung und Belehrung“ – viel Erfolg…

Ein Rebus der anspruchsvolleren Art aus dem 19. Jahrhundert. Gesucht ist einmal mehr ein
Ein Rebus der anspruchsvolleren Art aus dem 19. Jahrhundert. Gesucht ist einmal mehr ein „Spruch zur Erbauung und Belehrung“…

Der Rebus als „intellektuelle Kunst“

Die Hochblüte des Rebus als eigentliche „Kunstgattung“, welche weder gesellschaftliche noch moralische Legitimation benötigte und sowohl inhaltlich wie formal völlig autark auftrat, datiert im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Rasanz der Presse-Entwicklung in Europa, v.a. die enorme Verbreitung der sog. „Illustrirten“ förderte die Beliebtheit dieser Rätsel-Form aus Bildern, Zahlen und Buchstaben ungemein. Ganze Rebus-Almanache lagen nun plötzlich in den Buchhandlungen – das moderne Sudoku-Fieber unserer Tage lässt grüβen…

Auch hier: Oft ist das grafisch-malerische Primat vor inhaltlicher Komplexität anzutreffen (Mitte 19. Jh.)
Auch hier: Oft ist das grafisch-malerische Primat vor inhaltlicher Komplexität anzutreffen (Mitte 19. Jh.)

Möglich war jetzt die gesamte Zeichen-Palette, über welche sich das aufgeklärte Lesepublikum des gehobenen Bürgertums als semantischen Konsens verständigte. (Denn Voraussetzung für eine sinnvolle Rebus-Lektüre ist u.a. selbstverständlich, dass Verfasser und „Leser“ dieselbe Lautschrift benutzen; was für den deutschen Rebus-Löser schnell entschlüsselbar ist, wird dem Andersprachigen zum kontextlosen Kauderwelsch, und umgekehrt.) Die Konstruktion dieser illustrierten Denksportaufgaben folgte keinem Regel-Kanon mehr, die immer komplizierter, vertrackter werdenden graphischen Kabinettstückchen erwuchsen der bildungs-beflissenen Mittelschicht zur intellektuellen Kurzweil erster Güte. Der Schwierigkeitsgrad eines Rebus ist, sobald in ihm das Bildzeichen als die tragende Zeichen-Art fungiert, wesentlich abhängig von der Technik, wie seine Elemente komponiert sind: Je einheitlicher seine „Sinnträger“, desto „sinnfälliger“, sprich einfacher die Lösung; je variabler die Gestaltung seines Materials ausfällt, desto schwieriger, gleichsam „esoterischer“ wird es, die Bild(er)figuren und Schriftzeichen auch inhaltlich aufeinander zu beziehen. Ein zusätzlich verwirrendes Moment gesellt sich in der Optik hinzu.

Verwirrung stiften, doch ästhetischen Reiz schaffen

Vielfach sind es graphische bzw. ästhetische und nicht „lesetechnische“ Gesichtspunkte, welche die Anordnung bzw. Gröβe der verschiedenen Elemente bestimmen. (Insgesamt dürfte beim klassischen Bilderrätsel die Lösung dort vereinfacht sein, wo die nichtfigürlichen, also die Wort und Buchstaben-Bestandteile gegenüber den figürlichen Elementen überwiegen.)

Die sog. Allgemeine Illustrirte Zeitung
Die sog. Allgemeine Illustrirte Zeitung „Über Land und Meer“ war nur eine der vielen Postillen im vorletzten Jahrhundert, welche das Bilderrätsel als noblen Zeitvertreib breiter gebildeter Schichten etablierten

Jeder Rebus mit qualitativem Anspruch ist eine semiotische „Welt für sich“, Dinge enthaltend, die bekannt sind, und die man doch nicht kennt – wenn Kenntnis hier nämlich „sinnstiftender Zusammenhang“ meint. Diese nur scheinbar fehlende Ordnung ist vom „Lesenden“ erst herzustellen, das Surreale im Bilderrätsel bedarf zwingend des Lösungssatzes. Letzterer ist oft genug trivial bis läppisch – und doch decodiert er je einen ganzen Kosmos.

Zum Schluss dieses kleinen Tractatus über ein uraltes Kulturphänomen, das bis heute nichts von seiner Faszination eingebüβt hat – und  zum Beispiel in der modernen Plakat-Werbung eine bedeutende Rolle spielt! – noch ein besonders schönes Rebus-Exemplar, das ebenfalls aus der berühmten Illustrierten „Über Land und Meer“ stammt und einigen detektivischen Spürsinn abverlangt… ♦

Entschlüsseln Sie die Bild-Motive und versteckten Rebus-Wörter und puzzlen Sie diese zu einem Lösungssatz!
Entschlüsseln Sie die Bild-Motive und versteckten Rebus-Wörter und puzzlen Sie diese zu einem Lösungssatz!

Lösen Sie im Glarean Magazin  auch das Monster-Rebus-Rätsel (Oktober 2007)

… und lesen Sie zum Thema „Verrätselte Bilder“ auch im Glarean Magazin die 6. Wort-Bild-Meditation über „Das schwarze Quadrat“

Vera Simon: Was macht ein gutes Gedicht aus?

Sprachliche Präzision als Qualitätsmerkmal

von Vera Simon

Jeder kann Gedichte schreiben. Die Frage ist nur, was ein Gedicht braucht, um ausgezeichnet zu werden. Oder anders: Was macht ein gutes Gedicht aus? Was ist bei Gedichten zu beachten? Sensibilität, Sprachgefühl, bestimmte Versformen oder Reimarten mögen hilfreich sein, ein Gedicht zu schreiben. Was aber führt zu einem Gedicht, das sogar auszeichnungswürdig ist?

Die poetische Sprache des Gedichts

Gedichte sind Texte, die in Versen aufgebaut sind. Oder einfacher gesagt: Zeilenumbrüche sind typisch für Gedichte. Die Verse bilden Sinneinheiten, wobei nicht der Satzbau bestimmt, wo ein Vers beginnt oder endet. Von einem Gedicht erwartet man andere Inhalte als von Prosatexten. Das Gedicht zählt zur Lyrik. Lyrik überzeugt durch die Unmittelbarkeit des Ausdrucks.  Im Gedicht drückt sich das Lyrische Ich aus, das erlebende und empfindende Ich. Insofern zeigt das Gedicht eine besondere Sprache, die so genannte poetische Sprache, eine Sprache, die deutlich von der Alltagssprache abweicht. So gesehen ist das Gedicht ein Laboratorium der Sprache.

Gedicht Manuskript Georg Trakl - An Mauern hin - Lyrik-Literatur Glarean-Magazin
Manuskript von Georg Trakl des Gedichtes „An Mauern hin“

Im Gedicht empfindet der Dichter und drückt seine Empfindung aus. Wenn nur Wissen, Denken oder Glauben zum Ausdruck kommen, kann man also noch nicht von einem Gedicht sprechen. Im Empfinden ist der Mensch einzigartig und durch den Ausdruck des Einzigartigen bekommt ein Gedicht seine eigene Note. Beim Ausdruck ihres Empfindens aber machen viele Menschen Fehler. Auch Dichter: Viele verwenden abgegriffene Worte, die einen Sachverhalt nur ungenügend treffen, werden sentimental, schreiben geborgte Bilder oder schwülstige und unpassende Vergleiche nieder. Um das zu verhindern würde es manchmal schon helfen, wenn so genannte Dichter ihre spontanen Einfälle erst einmal verräumen und nach Tagen kritisch beurteilen würden. Meist misslingen Gedichte auch dann, wenn man sich nicht auf den eigenen Einfall verlässt, sondern mit fremden Einfällen arbeitet. Besser die Finger davon lassen, als andere Dichter zu paraphrasieren.

Das Gedicht als Ausdruck des kleinsten Ganzen

Auch der Rhythmus ist wichtig und macht ein Gedicht aus. Er entspricht nicht dem normalen Prosafluss, was man auch dann merkt, wenn ein Gedicht ohne Zeilenfall wie ein Prosatext gesetzt ist. Dieser Rhythmus hat dem Inhalt des Gedichtes zu entsprechen. Der Einsatz von Metapher und Vergleich ist ein weiteres Kennzeichen von dichterischer Sprache. Allerdings sollte man beim Vergleich das Wort „wie“ vermeiden, denn es führt in die Region des Erzählerischen und löst die dichterische oder lyrische Atmosphäre auf.

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Nicht erst den Begriff bilden, der ausgesagt werden soll und dann das Bild dazu suchen! Dies ist ein typischer Anfängerfehler, den Sie sicher vermeiden. Theoretische Erkenntnisse lassen sich selten in lyrische Bilder fassen, weshalb die meisten Umweltschutz- oder Antikriegsgedichte nichts werden. In einem Gedicht lässt sich nur selten das grosse Ganze zum Ausdruck bringen. Das Gedicht formuliert das kleinste Ganze. Nur im Bildhaften entsteht das Dichterische. Abstrakta können leicht und schnell ein ganzes Gedicht zerstören. Aber Vorsicht: Beim Bildhaften darf auch nicht der Sinn für das Angemessene verloren gehen!

Der Rhythmus von Vers-Struktur und Vers-Inhalt

Literatur - Lyrik - Versmasse - Gedicht-Rhythmen - Glarean Magazin
Die häufigsten Versmasse in der deutschen Lyrik: Jambus, Trochäus, Daktylus, Anapäst, Amphibrachis

Kein Vers ohne Rhythmus! Der Rhythmus stellt zwischen Versstruktur und Versinhalt eine Beziehung her. Werden bestimmte Versformen wie Knittelvers, Blankvers, Alexandriner (jambische Verse), fallende Viertakter, fallende Fünftakter, fallende Sechstakter (trochäische Verse) oder viertaktige Reihen, Hexameter oder Pentameter (daktylische Verse) verwendet, so sollten diese Versformen auch durchgehalten werden und nicht irgendwo auf der Strecke wie ein lahmendes Pferd eingehen.
Denken wir an ein Gedicht, denken wir zuerst wohl an Reime. Werden Reime in einem Gedicht verwendet, sollten unreine Reime vermieden werden. Der Klang beim Vorlesen entscheidet darüber, ob ein unreiner Reim noch verwendet werden kann. Verwendet werden dürfen alle Reimfolgen wie Haufenreim, Kreuzreim, Paarreim, Schweifreim, umarmender Reim, verschränkter Reim und so weiter und so fort. Allerdings sollten diese Reimfolgen sorgfältig verwendet werden und nur dann gegen die Reimregeln verstossen, wenn das die Aussage des Gedichtes unterstreicht.

Innere Konsequenz der Strophenformen

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Auch bei der Anwendung von Strophenformen sollte Sorgfalt herrschen. Manche Strophenform passt besser als eine andere zum Gedichtinhalt. Klassische deutsche Strophenformen sind z.B. die Nibelungenstrophe, die Hildebrandstrophe, die Chevy-Chase-Strophe, die Vagantenstrophe, die Schweifreimstrophe, die Fünfzeilerstrophe, die Lutherstrophe. Dazu kommen noch romanische Strophenformen wie das Sonett, der Sonettkranz, die Stanze, die Terzine, das Triolett und Nachbildungen antiker Strophenformen wie Distichon, erste asklepiadeische und zweite asklepiadeische Odenstrophe sowie alkäische und sapphische Odenstrophe. Wurde eine Strophenform ausgewählt, wäre es schön, wenn sie auch durchgehalten würde.

Regelfreies Dichten als Grenzgefahr zum Prosatext

Viele heutige Dichter versuchen alle Regeln des Dichtens dadurch zu umgehen, dass sie frei dichten. Freies Dichten ist aber nicht so leicht, wie es scheint. Man muss auch beim freien Dichten sprachlich äusserst präzis sein. Darüber hinaus muss auch beim freien Dichten noch ein Rest an Versstruktur erhalten bleiben, damit ein Text nicht in Prosa übergeht.
Auch Sonderformen des Dichtens wie Haiku, komische Gedichte, Limericks, Klapphornverse, Gedichtparodien, Lautgedichte oder visuelle Gedichte haben ihre Schönheit und sind auszeichnungswürdig. Aber auch hier gilt natürlich: Gedichte sollen einfach und genau sein und damit Aufgeblasenheit, Verschwommenheit, Schwulst und Manieriertheit ausschliessen.

Der Weg zu einem guten Gedicht muss nicht, kann aber lang sein. Niemals sollte sich der Dichter entmutigen lassen. Gedichte schreiben ist immer eine Annäherung an das zu Beschreibende. Mal gelingt diese Annäherung mehr, mal weniger. Wir sind nie am Ende, wenn es um gute Gedichte geht. ♦


Vera Simon - Autorin - Literatur - Lyrik - Versmasse - Gedicht-Rhythmen - Glarean MagazinVera Simon

Geb. 1973 in Grönland, seit 1977 in der BRD, Veröffentlichung verschiedener Lyrik- und Geschenkbuch-Bestseller, Autorin von Lebenshilfe-Büchern

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Schreiben“ auch den Essay von Mario Andreotti: Ist Dichten lernbar?

… sowie über den Gedichte-Band von Jasha Gnirs: Dolor de Desiderio

Joanna Lisiak: Des Künstlers Seele (Essay)

Des Künstlers Seele

von Joanna Lisiak

An Vernissagen von Galerien würde man ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit begegnen, denn gewissermassen ist es seine Pflicht, an solcherlei Anlässen zu erscheinen. Diese Feierlichkeiten – eher von politischer und banaler denn ästhetisch-philosophischer Natur. Er ist also zugegen, hat seine Atelierumgebung verlassen, hat seine übliche Arbeitsgarderobe gegen eine andere getauscht. Er fühlt sich möglicherweise unwohl, ist irritiert ob der vermeintlich interessierten Kreise, die durch seltsam gesponnene Netze ihre Wege zu diesem Abend gefunden haben. Der Künstler inmitten derer, die wahrscheinlich nie hungern, und welche mehr Faible als aufrichtiges Kunstverständnis auszeichnet.

Er steht wahrhaftig da, und doch entfernt. Potentiell steht er Red und Antwort, und wer etwas später ins leise Glasklirren und Parfümgewölk kommt, der wird den Protagonisten des Abends möglicherweise lange suchen. Denn sehr oft ist es der kleine Unscheinbare, der den Spiess umgedreht hat und selber in eine Beobachterrolle geschlüpft ist. Man erkennt ihn weniger am stolzen Gang oder am Posieren  als an dem auf den zweiten Blick Erkennbaren; oft erst im Vergleich zu den aufgetakelten und angeblichen Schöngeistern fällt sein schlichtes Schuhwerk auf, das eher schlecht gebügelte Hemd, der subtil eingestickte Markenname auf der linken Brusttasche abwesend. So pedantisch Künstler, die mir bisher begegnet sind, sein können, die Übergenauigkeit bezieht sich auf ihr Werk und Tun, nicht auf ihr aussehen. Im Gesicht ein verschlagen-leuchtendes Augenpaar, das etwas Verschmitztes ausstrahlt und einen kindlichen Geist erahnen lässt.

Die Künstlerseele macht den Künstler aus

Wenn ich von einem Künstler spreche, meine ich aber keineswegs Äusserlichkeiten, die für alle gleichermassen da sind, für die Schauenden und Sehenden. Das Visuelle, wie die Sinne überhaupt, sind in ihrer potentiell jederzeit entflammbaren Art naiv demokratisch, stehen unvoreingenommen zur Verfügung auch für Ignoranten und Fanatiker. Nur die Erkenntnissuchenden nehmen die scheinbare Oberfläche als Schlösser und Türen wahr, die lohnen und leise fordern geknackt, geöffnet zu werden. Wenn ich vom Künstler spreche, dann spreche ich auch nicht vom Werk und jenen Spiegelungen und Reflexionen, die vom Macher kommen. Mit Künstler meine ich die Künstlerseele.

Die Künstlerseele ist es, die einen Künstler zu einem Künstler macht. Es ist nicht das artistische Werk, nicht das Nochnichtdagewesene, weder das Provokative noch das historisch, handwerklich gut Umgesetzte. Eine Künstlerseele ist auch nicht messbar an Qualitätsbarometern. Selbst das Genie seines Genres gewährleistet keine Garantie. Am wenigsten meine ich mit dem Begriff das Künstlerklischee des verschrobenen Menschenbildes. Oder jenen erfolgsverwöhnten Mann, der sich geschickt im Netzwerk der Galeristen, Mäzene und Agenten bewegt, sich ihrem Vermittlungsspieltreiben opfert und dies mit keiner Faser seines Gemüts bezahlt, was ihn für mich verdächtig macht.

Zweifelsohne kann eine Künstlerseele auch einen Sieggekrönten beleben, und sie tut es immer wieder. Aber die Faktoren, die für Aufstieg und Durchbruch stehen, lassen sie jedenfalls unberührt. Einzig aus sich heraus soll sie tun oder unterlassen, triumphieren oder scheitern. Eine Künstlerseele ist eine Seele, die nicht fordert und nicht muss. Sie darf sich in ihrem Ausdruck, sei er nun elegant und tiefsinnig oder dahingeschmiert und von willkürlicher Anrührung, austoben. Potentiell darf sie immer inaktiv bleiben. Es genügt, wenn sich ihr monologischer Dialog im Innern abspielt, wenn sie ans Ausserhalb anspruchslos Grösse zeigen kann. Wenn sie in jenem richtigen Moment versteht, wo es um das Wahre geht, ohne das pro-aktive Zutun. Das Schaffende und Erschaffte also ausser Acht. Sie begreift ihr Sein mit dem Verzicht auf schmückende Attribute oder Werte, denn sie ist genügende Tatsache.

Es ist also nicht das Tun und nicht das Resultat, das ihre Existenz stützt. Eine Künstlerseele benötigt kein Leid oder eine Zäsur, um ans Ziel zu gelangen. Sie kennt das Ziel nicht. Auch muss sie nicht viel erlebt haben an Welt. Eine Künstlerseele als solche ist roh und bereits ausgewachsen. Sie ist nicht von unendlicher Auswucherung. Dazu ist sie zu sehr mittiger Stillstand. Sie hat kein Geschlecht und kein Alter. Einzig ist sie. Das Sein als Matrix.

Das Sein als Matrix…

Die Künstlerseele nämlich ist im Sein bereits entfaltet. Ob sie glücklich oder betrübt gefärbt ist, hängt vom „Träger“ ab oder vom Zufall der Tageszeit. Dass es von diesem An-Sich-Sein Abervarianten und -versionen gibt, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Dass man von ihr weniger spricht als vom Künstler, gründet vielleicht in unserer Vorstellung, Sachen wie Personen dingbar, fassbar machen zu wollen. Auf einen Künstler kann man mit dem Finger zeigen. Gegen ein Gemälde ein Wortreich erbauen. Aber selbst die akkurateste Wahl der Worte und Hintergründe ist in ihrer Form physischer als die Vorstellung davon, was die Künstlerseele ist: körperlos.

Ohne Seele keine Künstler. Aber viele Werke muten seelenlos an. Das Werk also ist es nicht, an welchem wir eine solche Seele erkennen. Dem Mann mit dem leicht unbekümmerten Gesicht – der in der Galerie seinen potentiellen Kunden, für die er weder lebt, aber vielleicht von ihnen, gegenüber steht – man wird es ihm nicht ansehen, ob er sie nun hat oder nicht. Dieser gelobte Künstler, der in der Ausstellung so nah ist, als lebe er just in derselben an Widerspruch und Kompromiss reichen Welt.

Vielleicht trösten wir uns ein Stück damit, dass er ja da ist und es ihn sichtlich nicht „besser erwischt“ hat als unsereinen, Besserbetuchten, die uns zynisch Brötchenverdiener nennen und uns manchmal, in einem Anflug von Ausbruch, aberwitzig kleiden wie gerade jetzt, uns in sog. Künstlerkreise mischen, das Sektglas lässig in der Hand, eine entrückte Aufgeregtheit im Blick, als wäre man gerade verliebt, und die von einer lokalen Zeitungsreporterin versehentlich um ein Interview gebeten werden. Zunächst beschämt, erleben wir sogleich ein Gefühl von Anerkennung. Und das Paradoxe der Situation und die Phantasie lassen es zu, dass wir uns hinleiten zu diesem romantischen Bild, auf dem Land, in einer malerischen Scheune, wie wir aus einem Stück roher Marmormasse die für unser erfahrenes Auge schon erkennbare Form meisseln. In dem Moment haben wir gegenüber den anderen kostümierten Gästen gesiegt und verloren in dem Moment, wo sich unser Blick mit dem wahren Künstler trifft.

Form nach Form unter der Käseglocke…

Aber nicht nur auf Vernissagen trifft man Trittbrettfahrer an. Sie verstecken sich in durchgestylten Bürogebäuden, sie tauchen als spruchreife Ausreden auf, wenn der durch Gänge schlurfende Buchhalter weder einen Satz auf die Reihe kriegt noch über Zahlenflair verfügt, aber mit dem Künstler-Stempel eine ihn fast friedlich anmutende Aura von Akzeptanz umgibt. Oder der Chef, der es schlichtweg nicht im Griff hat, pünktlich den Lohn seiner Untertanen zu bezahlen, weil er sich selber für einen unantastbaren und unerreichbaren Künstler hält. Und er diese Nachricht mit einst gelerntem Marketingflair zur Legende macht, bis er selber wirklich daran glaubt und auf dieser Grundlage seine Marotten züchtet. Das Klischee Künstler, das zum Manierismus verkommt.

Dieses ehrfürchtige Wort „Künstler“ ist ein Phänomen, das sich ausbreitet, ist es einmal verlautbart, bis hin zu den Kreisen, in denen tatsächlich von Kunst die Rede ist. Dass dem auf dem Begriff als Sprungbrett abgehobenen Möchtegern-Künstler keine Beweise abverlangt werden, spricht für die Tatsache, dass ein Künstler auch der sein kann, der keine Werke schafft. Und auch jener, der aus reiner Disziplin unter einer Art Käseglocke Form nach Form erzeugt. Der Ausdruck als Wiederholung eines Glücksmoments, das mit jenem Moment bereits entschwand. Kunst indes hat keine Grenzen. Und nicht weniger als im Angesicht einer erschaffenden Kontinuität, die im Dialog mit dem Ausserhalb steht, kommen mir die grössten Zweifel, ob es sich nicht lediglich um Produktion und Kontaktpunkt, gepaart mit dem fahrlässigen Umgang mit der Figur Künstler, handelt. Der Wahn, der in einer Künstlerseele innewohnt, kann manchmal und oft vor lauter Wollen nicht mehr.

Dem Künstler an der Vernissage sind solche Überlegungen möglicherweise zu anstrengend. Zu sehr nimmt ihn seine Künstlerseele in ihren Gehorsam. Sie verlangt nichts, denn sie ist in ihrem So-Sein gefangen. Sie kann nichts dafür und ist somit nicht schuldig und unschuldig. Erst, wenn der Macher ausbricht und sich in Künstler-Nichtseelen mischt, nimmt die ansonsten leichte Sache einen Weg des Widerstandes. Der Künstler als Seelenzustand – Ruhe in sich gepolt. Zahlreiche Künstler, die ihre Vehikel nicht finden, um sich durchs Werk erkennbar zu machen. Ausserdem Künstler, die durch allzu glatte Umstände im Gesellschaftsrad eine Funktion fanden und davon nicht loskommen, so dass ihre nie alternde Künstlerseele einem kümmerlichen Dasein frönt. Verkannte Künstler und Künstler, die nicht wissen, dass sie Künstler sind…

Des Künstlers neutrale Zufriedenheit

Auf der anderen Seite die gellenden Künstler, clever und produktiv – die Negativform vom verkanntem Künstler? Ein für mein Empfinden wirklich wahrer Künstler, der Werk und Schaffen nicht aktiv auslebt, sagte mir, dass er einen anderen, in seinen Augen wahren Künstler bewundere dafür, dass jener nichts weiter benötige als fast nichts zu tun – und dieses Fast-nichts mit niemandem zu teilen brauche und dabei eine neutrale Zufriedenheit lebe. Das imponiere ihm – und während er sich seine Pfeife stopfte, sagte er zu mir: „Ist das nicht wunderbar? Ich wäre so glücklich, wenn ich schon dort wäre“. Vielleicht lag es an seinem zerbrechlichen Tonfall und seinem tief sitzenden Verständnis, die mir in jenem Moment die leise Anerkennung weckte, als wäre mein Bekannter da gerade oder überhaupt nicht weniger als eben ein Künstler-Seelenverwandter. Jemand, der nie den Anspruch haben würde, das Wort „Künstler“ für sich zu beanspruchen, weil es zum einen seine Bescheidenheit und Demut nicht zuliessen und zum anderen, weil er das Wort „Künstler“ zu sehr im entwürdigten Status sieht.

Leicht kommen einem die Worte „Künstler“ – ggf. noch mit dem Anhängsel „halt“, das vorflunkert wirklich zu wissen, worum es da gehe – über die Lippen. Worte und Tugenden wie „Ehrfurcht“, „Übermenschliches“, „Sosein“ wirken auf der Zunge plump und pathetisch. Vielleicht deswegen spreche ich lieber von der Künstlerseele. Ich wage zu behaupten, ich hätte es damals gespürt in jenem beinah flüchtigen Moment, als seine eigene über die andere Seele sprach. Als es um das Irgendwo und Irgendwen ging, um das Fast Nichts im Nicht-Dialog mit Niemand. Da war es. Zwischen seinen Worten: wahre Grösse spürbar. Überwältigung schwang mit, die mir die Sprache verschlug und mich augenblicklich klein fühlen liess. Es war ein nicht zu beweisender Beweis, dass auf einmal beide zugegen waren. Oder etwas. Ein kurzes Anleuchten auf ein Dasein fern physischer Grenzen. Künstlerseelen.

Denn es gibt sie wirklich. Und vielleicht ist die Achtung vor dieser nicht in Worten zu fassenden Tatsache ein kleines Verbindungsglied, das filigrane Brücken schlägt zu diesen auf wunderbar geheimnisvolle Weise verborgenen Künstlerseelen. ♦


Joanna Lisiak
Geb. 1971 in Polen, Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, Dokumentarfilme und Hörspiele, Radio-Moderation, Mitglied des PEN, Jazz-Sängerin, lebt in Nürensdorf/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin auch den Essay von
Joanna Lisiak: Reife Männerstimmen

… sowie zum Thema Sprach-Kunst über
Brigitte Fuchs: Salto Wortale

ausserdem im GLAREAN zum Sprachkunst & Bilder:
Meditation über das Bild „Grand Arlequinade“

Walter Eigenmann: Über die Satire (Notiz)

Gegen die „Wahrheit“

von Walter Eigenmann

Es mag schon sein, dass unserer ver-rückten, un-sinnigen Welt alleine noch – wie professionelle Zyniker behaupten – entweder mit Kriegen oder dann mit Ironie beizukommen ist. Auch sei dem Resignierenden in Gottes Namen der unproduktive Trost gelassen, dass blosses Gelächter über Dummheit manchmal siegt. Und jene schliesslich, die dem Geschehen um sich herum ohnehin nur als Gaudi-Konsumenten beizuwohnen pflegen, mögen ruhig dabei bleiben; das Welttheater kann auf sie als Claque nicht verzichten…
Jedenfalls aber steht eines grundsätzlich fest, spätestens seit den Tagen des Römers Juvenal: „Difficile est satiram non scribere“.

Was ist Satire?

Juvenal - Altrömischer Satiriker - Glarean Magazin
Der römische Satiriker Juvenal (1./2. Jh.): „Difficile est saturam non scribere“ („Es ist schwierig, keine Satire zu schreiben“)

Dabei ist so eindeutig nicht, was eine Satire denn sei. Die Literaturtheoretiker zum Beispiel – wir müssen sie wohl ernst nehmen – schweigen sich (je nachdem über viele hundert Seiten hinweg) darüber aus, welche unverzichtbaren Text-Ingredienzien ein Prosastück erst zur Satire mache. Gewiss: Satiren spotten fast immer, Satiren karikieren meistens, Satiren kritisieren oft, Satiren verhöhnen manchmal, Satiren wollen hie und da aufrütteln, ganz selten belehren sie sogar, und nie bilden sie einfach nur ab. Aber die Satire?
Andererseits: die Ausstrahlungskraft (und damit auch Qualität) eines satirischen Textes hängt auch, aber nicht vor allem von seinen formalästhetischen oder inhaltstheoretischen Komponenten ab. Das verzweifelte Bemühen um eine gattungsspezifische Katalogisierung literaturhistorisch greifbarer Satiren gäbe seinerseits idealen Satire-Stoff her.


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Walter Eigenmann: In medias res – 222 Aphorismen

In medias res - 222 Aphorismen - Cover 2015 - Walter Eigenmann„In medias res“ – das sind 222 Aphorismen des Schweizer Literaten, Musikers und Publizisten Walter Eigenmann (geb. 1956), die in den Jahren 1981 bis 1991 entstanden sind und witzige Frechheiten, satirische Bosheiten, humorvolle Weisheiten und komische Wahrheiten über und wider alle Bereiche des Menschlichen, Kulturellen und Politischen enthalten. Ein geistreiches Panoptikum boshafter Pointen und geschliffener Sticheleien, die „mitten hinein“ gegen alle menschlichen Eitelkeiten anschreiben – ganz dem Drang jeglicher Aufklärer verpflichtet (Zitat): „Satiriker sind Pyromanen: Dauernd müssen sie andern das Brett vor dem Kopf anzünden“.

48 Seiten  –  Paperback/BoD  –  SFr 9.90  –  ISBN 978-3-7347-9374-5

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Könnte denn womöglich sein, dass die Satire recht eigentlich erst beim Lesen, beim Leser entsteht, dass sie wesentlich auf die intellektuelle Befindlichkeit, Empfänglichkeit, vor allem aber Empfindlichkeit abstellt? Wie alle gute Literatur also? Nur mit dem Unterschied, dass vom Publikum noch ein Quäntchen mehr an Aufgeklärtheit und Intelligenz, Reflexion und Abstraktionsvermögen, doch auch an Verletzbarkeit und Wut aufgeboten werden muss, als dies bei anderen literarischen Ausprägungen der Fall sein mag?

Sakrilegien – mit sprachlicher Raffinesse

Ununterbrochen begehen Satiriker Sakrilegien, und gute Satiriker tun das mit sprachlicher Raffinesse: Gegen „Gott und die Welt“, gegen „Haus und Hof“, gegen „Gedanken und Taten“, gegen „König und Vaterland“, gegen „Konventionen und Institutionen“, gegen…
Zum Arsenal dieses Gegen-Kampfes (den Leser herausfinden zu lassen, wofür der Satiriker kämpft, ist übrigens ein weiteres Merkmal der Satire, ihr moralischer Standpunkt ist vom Leser zu eruieren) gehören die (manchmal sanfte, meist hämische) Ironie, die Übertreibung, die Verzerrung, der Spott in all seinen vernichtenden Schattierungen. Aber auch das hoffnungsvoll-resignierte Überzeichnen jener kreatürlichen Eigenschaften, die das in der Natur einzigartig defizitäre Mangelwesen Mensch konstituieren.
Die vordergründige Destruktivität der Satire erwächst also aus der Einsicht (und deshalb Notwendigkeit), dort entlarven zu müssen, wo Konsens mit common sense verwechselt wird. Gute Satiren sind per definitionem immens politisch – auch dort, wo sie individuelles Versagen als das Produkt kollektiven Funktionierens fokussieren. Der Satiriker schreibt gegen die „Wahrheit“ an. ♦

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Angela Mund: Hektor (Philosophische Satire)

und über den Satiriker
Karl Kraus: „Die letzten Tage der Menschheit“