Thomas Brändle: Das Geheimnis von Montreux (Krimi)

Tödliche Schweizer Politik

von Walter Eigenmann

Was wäre, wenn damals auf den Schweizer Bundesrat Christoph Blocher, also auf einen der seit Menschengedenken einflussreichsten Politiker Helvetiens, ein tödlicher Mordanschlag verübt worden wäre? –
Hoppla! Darf man sowas wirklich fragen? Ja, überhaupt nur denken? In der Schweiz? In der Innerschweiz?? Doch genau dies tut der Zuger Schriftsteller Thomas Brändle. In seinem Kriminalroman „Das Geheimnis von Montreux“.

Die Geschichte des Brändle-Roman-Erstlings entspinnt sich um ein skandalöses Verbrechen: Im SwimmingPool seiner Villa wird der Schweiz prominentester Volksvertreter ermordet aufgefunden. Natürlich heisst im Roman das Opfer nicht Blocher (sondern Landolt) und nicht Christoph (sondern Christian) mit Vornamen. Doch im dritten Kapitel liest’s sich völlig unzweideutig (Zitat):
„Landolt war damals noch der Inhaber eines global agierenden Konzerns in der Kunststoffbranche und bereits wichtiges Mitglied des Nationalrates, der grossen neben der kleinen Kammer, dem Ständerat. Landolt führte in der öffentlichen Wahrnehmung quasi im Alleingang einen politischen Feldzug gegen das gesellschaftliche, mediale und wirtschaftliche, auch das politische Establishment der Schweiz, das sich im Vorfeld geschlossen für den Beitritt ausgesprochen hatte. Und das Volk liebte ihn dafür, denn noch einige Monate vor der entscheidenden Abstimmung wurden die Gegner in den Medien flächendeckend als nationalistische Ewiggestrige der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Gegnerschaft, das war schon damals ein grosser Teil der Schweizer Bevölkerung. Sie hatte aber kaum bedeutende Exponenten auf ihrer Seite, sondern machte nur die sprichwörtliche Faust im Sack. Landolt avancierte in dieser Situation zum Volkstribun. Der schwerreiche grossindustrielle glänzte durch seine scharfzüngige Rhetorik, einen entwaffnenden Schalk und sein für einen Politiker ungewohnt bodenständiges Auftreten. Er liess kein Schwingfest, keine Parteiversammlung, keinen Auftritt in einer Gemeindeturnhalle, keine Möglichkeit aus, um sich unter das Volk zu mischen, mit deftigen Sprüchen auf die ‚Classe politique‘ zu schimpfen und mit einer einfachen, direkten Sprache zu zeigen: Ich bin einer von euch. Er war Mitglied der SVP, einer kleinen Partei, die bis anhin kaum 5% Wähleranteil auf sich vereinen konnte, der Partei der Landwirte und kleinen Gewerbeunternehmer, die erst während des Zweiten Weltkriegs, also fast hundert Jahre nach der Staatsgründung, eines der sieben Regierungsmitglieder stellen konnte. Die Parteigänger waren stolz auf ihren Multimillionär, der immer offener ihre Bewegung, wie sich die Partei selber bezeichnet, finanzierte, die ebenso immer offensichtlicher in vielen Themen auch Landolts ganz persönliche Meinung als ihre eigene übernahm. Landolt erweckte die verschlafene Partei zu einer politischen Kraft, die sich bei fast jeder Abstimmung gegen alle anderen Parteien des Landes stellte. Mit jeder gewonnenen Abstimmung legte sie ein bis zwei Prozente Wähleranteil zu…“

Schweizer Symbolfiguren als Leichen…

Karl Jauslin - Schlacht am Morgarten - Glarean Magazin
Bankier-Leiche an helvetisch historischer Stätte: Rettet der Geist von Morgarten die Schweizer vor dem neoliberalen Sozial-Darwinismus? (Bild: Schlacht am Morgarten – Karl Jauslin)

Das Landolt-Attentat wird in der Folge der Story zum Ausgangs- und Angelpunkt zugleich von nicht nur schweizerischen, sondern internationalen, ja global vernetzten Machenschaften, Illegalitäten und Korruptionen, von mysteriösen Polit-Szenarien mit schier monströser Tragweite, welche zuweilen, konsequent zuende gedacht, den Leser beängstigen müssten. Denn selbstverständlich bleibt der hohe Magistrat nicht das einzige Mordopfer in diesem Krimi: Wenig später findet man die Leiche einer weiteren Schweizer Symbolfigur, nämlich des Präsidenten der Nationalbank – ausgerechnet an für Eidgenossen heiliger Stätte: dem Morgarten-Denkmal am Ägerisee. Dem armen Teufel hatte man flüssiges Gold in den Rachen geleert… Und es geht weiter, das Meucheln – das Geheimnis von Montreux aus uralter Zeit fordert plötzlich neuzeitlichen Tribut.
Mitten in all diese mörderischen Troubles um viel „Geld und Macht“, aber auch viel „Gut und Geist“ hineingestellt findet sich die attraktive Journalistin Franziska Fischer, deren Recherchen sie tief in die helvetische Vergangenheit (bis zur „Helvetischen Republik“ nach der französischen Invasion durch Napoleons Truppen im Jahre 1798) und weit in die Zukunft (bis zum Crash des Währungssystems im Jahre 2011 aufgrund skrupelloser Mafia-Banken-Attacken…) führen. Ihr zur Seite steht der „frei-sinnige“ Nationalrat Marco Keller, ein direkter Nachfahre des berühmten freiheitlich-„liberal“-vaterländischen Polit-Dichters Gottfried Keller, der u.a. Mitte des vorletzten Jahrhunderts die Gründung der Zürcher Kantonalbank als Staatsbank anregte mit den Worten: „Wir brauchen diese Staatsbank, um den Wucher zu bekämpfen, den Privatbanken heilsame Konkurrenz entgegenzustellen und den mittleren und kleineren Gewerbestand vor der Ausbeutung durch die in erster Linie auf eigenen Nutzen bedachten Privatbanken zu schützen.“

Kritischer Krimi zu den helvetischen „Sonderfällen“

Politiker, Bäcker, Schriftsteller: Thomas Brändle
Politiker, Bäcker, Schriftsteller: Thomas Brändle

Der 1969 in Liestal geborene, seit langem im innerschweizerischen Zug als selbstständiger Konditorei-Inhaber lebende, im kantonalen Parlament als FDP-Mitglied politisierende und  bislang v.a. als humoristischer Belletristiker hervorgetretene Autor Thomas Brändle hat mit „Das Geheimnis von Montreux“ nicht nur über den „Sonderfall Schweiz“ einen Roman geschrieben, sondern selber einen „Roman-Sonderfall“ geschaffen. Denn Buenos Aires, Rom, Montreux, Washington, Moskau: das sind nicht Schauplätze, wie man sie von Innerschweizer Schriftstellern gewohnt ist; ebensowenig geläufig sind einem bei zentral-helvetischen Autoren Themata wie Polit-Morde, Finanz-Verschwörungen oder Regierungs-Korruption. Vollends „unmöglich“ für einen Zuger Schriftsteller, notabene einen dezidiert „bürgerlichen“ Regionalpolitiker schliesslich scheint derart Unerhörtes wie Kritik am „Finanzplatz Schweiz“, an der zivilen Verfilzung von Parlament und Grossindustrie, an grundsätzlich Kapitalistischem wie der „Freien Marktwirtschaft“ oder an institutionalen Grundfesten wie der Börsenkotierung zu sein. Denn Autor Brändle lässt so ziemlich nichts aus, was Herrn und Frau Schweizer eigentlich (und eigentlich brennend) interessieren müsste an den (durchaus momentanen) Geschicken des Landes. Nur dass es hier als globale Verflechtung daherkommt, deren Schicksalshaftigkeit man so gerade eben und gottseidank noch die hehren Staatstugenden eines Gottfried Keller entgegenzuhalten vermag – denn sonst…

Roman-Exkurs über die Schweizer Geschichte

Geistiger Wegbereiter eines volkssouveränen Liberalismus' und eines progressiven Schweizer Grundgesetzes:
Geistiger Wegbereiter eines volkssouveränen Liberalismus‘ und eines progressiven Schweizer Grundgesetzes: „Martin-Salander“-Dichter Gottfried Keller (1819-1890)

Brändle breitet auf 240 Buchseiten eine ganze Menge historischer „Aufklärung“, aber auch politischer Aufklärung aus, zahllose (schweizer-)geschichtliche Exkurse garnieren den Krimi, bis hin zur Philosophie- und Sozialhistorik, und ein zumeist geistesgeschichtliches Prominenten-Zitat über jedem Kapitel untermauert quasi die jeweilige „Moral der G’schicht“. Dies alles kommt dabei in einer erstaunlich rasanten Sprache daher, Brändle schreibt kurz, knackig, routiniert. Die teils üppigen Theorie-Einschübe werden geschickt durch schnelle Wechsel von Zeit und Ort gesplittet, was die literarischen Handlungsstränge zwar simultanisiert und dadurch verkompliziert, aber die Spannung durchaus raffiniert hält.

Wer also über den viel- (und im eigenen Land gern-)zitierten politischen „Sonderfall Schweiz“ mehr erfahren will, als er im üblichen eidgenössischen Blätterwald – gerade zu Zeiten und inmitten eines krisengeschüttelten Europa – je vorgesetzt erhält, der kann nun auch einfach einen Innerschweizer Krimi lesen… ♦

Thomas Brändle, Das Geheimnis von Montreux, Ein Kriminalroman zum Sonderfall Schweiz, Wolfbach Verlag, 240 Seiten, ISBN 978-3-9523334-1-9


Interview mit Thomas Brändle

Glarean Magazin: Bis jetzt kannte man den Schriftsteller Thomas Brändle vornehmlich als erfolgreichen Humoristen, beispielsweise in „Noch ein Stück, bitte!“ und „Einen Augenblick bitte!“. Warum nun dieser unverhoffte Schwenk ins dramatische, ja buchstäblich todernste „Fach“ des Polit-Thrillers?

Thomas Brändle: Tatsächlich bevorzuge ich das Humoristisch-Hintergründige. Dass ich nun einen Polit-Krimi geschrieben habe (der im wahrsten Sinne des Wortes auch seine komischen „Seiten“ hat), hat natürlich mit meinem politischen Mandat zu tun. Nach einigen Jahren Recherche habe ich ihn 2007 geschrieben und im September 2008 veröffentlicht. Am 15. September 2008 crashte die Bank Lehman Brothers – der Anfang der aktuellen Weltwirtschaftskrise. Ich bin selber verblüfft, wie schnell schon vieles eingetroffen ist, was ich im Buch vorweggenommen habe. Sogar die Schweizer Boulevardzeitung „Blick“ schrieb darüber. So wie’s aussieht, könnte noch einiges mehr aus dem Politthriller Realität werden.

GM: Ihren Protagonisten Marco Keller charakterisieren Sie im Buch u.a. so: „Er hält es in den vorgegebenen Leitplanken kaum aus und kann nicht verstehen, wie seine Partei, die FDP, zunehmend das eigene Staatsgebilde demontiert, sich immer auf Sachzwänge, die Globalisierung und eine vermeintlich ökonomische Logik berufend.“ Spricht hier auch der real politisierende Autor, dem die eigene Fraktion bei einer Parlamentsrede gar mal das Mikrofon abstellen liess?

TB: 2002 wurde ich ins Parlament des Kantons Zug gewählt. Ende 2004 erschien mein erster kritischer Leserbrief zu unserer Wirtschafts- und Finanzordnung. Damals begann meine Odyssee durch die Schweizer Geschichte und auch das Zweifeln an der Seriosität der Wirtschaftswissenschaften. Da ist viel Ideologie dabei. Inzwischen darf ich im Parlament auch wieder ausreden. Meine „Aktien“ sind durch die Krise gestiegen… Und ja, die FDP ist leider von einer staatstragenden, visionären Volkspartei zur Klientelpartei mutiert. Das kritisiert mein Protagonist Marco Keller.

GM: Über jedem Ihrer Buch-Kapitel prangt ein Aphorismus eines zumeist grossen Dichters oder Denkers, und der wirtschaftsethische Standpunkt des Autors bleibt zu keinem Zeitpunkt verborgen. Der Krimi auch als moralischer Appell? Haben Schriftsteller eine soziale Aufgabe?

TB: Persönlich lese ich am liebsten Autoren, die mich aufregen, anregen und unterhalten – und natürlich zum Lachen bringen. Ich möchte mir mit Lesen nicht nur die Zeit vertreiben, sondern davon eben auch bereichert werden. Ich finde schon, dass Schriftsteller eine sehr wichtige Aufgabe hätten. Wie es Dürrenmatt gesagt hat, haben Schriftsteller die Position der Rebellion zu beziehen, in jeder Gesellschaft, die denkbar ist. Wir schnell werden blosse Behauptungen zu Wahrheiten, die sich in unseren „gesunden“ Menschenverstand einschleichen und dort alles lahm legen! Dann wehren wir uns natürlich, wenn plötzlich einer fragt, ob denn die Erde auch wirklich flach ist. Wir dürfen (trotzdem) „nie damit aufhören, Fragen zu stellen“ (Albert Einstein).

GM: Wie einflussreich sind wirtschaftliche „Geheimbünde“ wie die von Ihnen geschilderte, in Montreux gegründete „Mont Pèlerin Society“ oder „Denkfabriken“ wie „Avenir Swiss“ wirklich?

TB: Offenbar sind sie sehr einflussreich. Deren Interessen und Ansichten sind eben nicht geheim. Sie werden durch Bildungsinstitute, Medien und Politik gelehrt und verbreitet. Die von ihnen propagierte Wirtschaftsdoktrin hat, wenn auch selten in der reinen Lehre, innert 30 Jahren den Status eines global akzeptierten „Naturgesetzes“ erreicht. Im Anhang meines Romans findet die interessierte Leserschaft „andere“ wissenschaftliche Literatur. Es gibt wenig Geheimes, nur der Fokus ist oft etwas beschränkt…

GM: Nach H. Ch. Binswangers Arbeit „Die Wachstumsspirale“, welche Sie im Buch zitieren, zerstört unser neoliberales Kreditsystem wichtige ökologische, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Strukturen. Wie sähe die kurze Skizzierung eines besseren politischen Gegenentwurfs aus?

TB: Binswanger plädiert unbedingt dafür, dass wir unser 500 Jahre altes Finanzsystem reformieren, wie es in der Schweiz nach 1848 schon einmal getan wurde. Und zwar recht erfolgreich. Nur die Notenbank darf Geld herstellen und die Kantonal- und Genossenschaftsbanken haben die gesellschaftliche Verantwortung, dass es für sozial nützliche Projekte zur Verfügung steht: für die Infrastruktur, die wertschöpfenden Menschen, die Familien und jene Unternehmungen, die sinnvolles Produzieren und damit Nutzen stiften. Geld darf sich nur durch reale Wertschöpfung vermehren, nicht durch sich selber. Einen konkreten Vorschlag habe ich aktuell bei der „Fachkommission Wirtschaftspolitik“ der FDP Schweiz eingereicht. Wirtschaftswissenschaftler wie Hans Christoph Binswanger, Heinrich Bortis und andere haben mir dabei geholfen.

GM: Gottfried Keller ist in Ihrem Krimi eine Art imaginärer Rufer aus der Vergangenheit. Was, glauben Sie, würde er seinen Schweizern zurufen angesichts der heutigen Misere in Staat und Gesellschaft?

TB: Der IT-Unternehmer Ivo Muri hat in seinem Buch „Kleptokratisches Manifest“ ein fiktives Interview zwischen Gottfried Keller und einer heutigen Wirtschaftsstudentin veröffentlicht. Herrlich genial!
In der Realität würde Keller sich heute wohl sehr wundern, dass wir im Gegensatz zu Bereichen wie Technik, Bildung und Wissenschaft geistig, politisch und moralisch so klägliche Fortschritte gemacht haben. Bestimmt würde er sich auch ärgern, dass ausgerechnet die Schweizer so geldhörig geworden sind. Die Schweiz hätte der Welt gerade heute aufgrund ihrer staatspolitischen Erfahrungen so viel zu geben.

GM: Glauben Sie, dass Bücher die Welt verändern?

TB: Ja, manche haben das ja auch getan. Das geschriebene Wort hat schon seine Kraft – wenn es gelesen wird. Wenn die Menschen es endlich überdrüssig sind, nur als Konsumenten, Arbeitnehmer, Steuerzahler und einfältige Unterhaltungssuchende gesehen zu werden, möchten sie vielleicht auch wieder geistig etwas herausgefordert werden; lustbetont, humorvoll, spannungsgeladen. ♦

Probeseiten

Leseprobe 1 aus Thomas Brändle: Das Geheimnis von Montreux (Krimi)
Leseprobe 1 aus Thomas Brändle: Das Geheimnis von Montreux (Krimi)
Leseprobe 2 aus Thomas Brändle: Das Geheimnis von Montreux (Krimi)
Leseprobe 2 aus Thomas Brändle: Das Geheimnis von Montreux (Krimi)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Krimi auch über den Polit-Thriller von Boris Johnson: 72 Jungfrauen

… sowie über den Krimi von Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)

Interview mit dem Komponisten Fabian Müller

Neue Musik?

Interview: Margaret Jardas

Der Zürcher Komponist Fabian Müller, studierter Konzert-Cellist, passionierter CH-Volksmusik-Forscher und früher vieljähriger Begleiter der Tessiner Sängerin „La Lupa“, zählt mittlerweile zu den erfolgreichreichsten und vielseitigsten Schweizer Tonschöpfern der jüngeren Generation. Da er sich, wie er sich selbst charakterisiert, „nie irgendwelchen Schulen oder Glaubens-Sätzen verpflichtet fühlt“, und „intellektuell entworfene Konzepte, denen die Musik folgen soll“, nicht sein Ausgangspunkt beim Komponieren sind, schlieβt sein bisheriges Oeuvre modernistische Elemente ebenso ein wie traditionelle. Seine Werke „schöpfen ganz aus der intuitiven Freiheit“ (Müller).

Fabian Müller - Glarean Magazin
Fabian Müller (geb. 1964)

Im Frühjahr 2001 nahm David Zinman zusammen mit dem Philharmonia Orchestra London eine CD mit Werken von Fabian Müller auf. Eine Produktion, die sich für das weitere Schaffen des jungen Zürcher Komponisten als sehr fruchtbar erweisen sollte.
Die Kunsthistorikerin, Autorin und Kulturjournalistin Margaret Jardas führte vor einiger Zeit mit Fabian Müller ein Gespräch, das wir hier (mit freundlicher Genehmigung des Komponisten) auszugsweise wiedergeben.

Margaret Jardas: Ihre Werke knüpfen irgendwie an die Klangwelt des Impressionismus an. Bei neuer Musik erwarte ich eigentlich ganz andere Klänge. Komponisten, die sich auf die eine oder andere Art von der Avantgarde abgewendet haben, schreiben mehr oder weniger tonale Musik. Ist das nicht ein Schritt zurück? Darf man da überhaupt von neuer Musik sprechen?

Fabian Müller: Was genau heiβt „neu“? Man muss sich heutzutage genau überlegen, was dieses Wort bedeutet, was denn überhaupt „neu“ sein kann. Inhaltlich hat sich über die Jahrhunderte nicht viel geändert. Es geht immer noch um Liebe, Schmerz und Tod, um die Palette von Gefühlen und Erfahrungen, die in der Kunst allgemein und speziell eben auch in der Musik zum Ausdruck kommen. Deshalb ist die Frage nach Neuem vor allem die Frage nach neuen Ausdrucksmitteln. Das ist eine Frage des Stils, und im Hinblick auf den Stil gab es natürlich eine beachtliche Entwicklung in den vergangenen Jahrhunderten. Ich verstehe die Entwicklungen der Musikgeschichte als ständige Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten.

Die klangliche Entwicklung der Orchester-Instrumente ist abgeschlossen

Was herkömmliche Instrumente unseres Orchesters betrifft, muss man sagen, dass diese Entwicklung inzwischen abgeschlossen ist. Auf der Geige gibt es keinen relevanten neuen Klang zu entdecken, der nicht bereits vor Jahrzehnten verwendet wurde. Ein Komponist, der heute meint, seine Musik sei neu, weil sein Stück für Geige solo auf den „normalen“ Geigenklang verzichtet und aus lauter Spezialeffekten besteht, der ist entweder naiv oder macht sich etwas vor. Es gibt keinen Klang auf diesen Instrumenten, der nicht bereits in den 50er- und 60er-Jahren ausgelotet wurde. Wer also für diese Instrumente komponiert, schreibt hinsichtlich der „Materialfrage“ nicht eigentlich „neue“ Musik.

Man muss sich deshalb ernsthaft fragen, wessen Musik denn heute „neu“ ist: Diejenige, welche die Erwartungshaltung der Avantgarde-Kreise erfüllt, oder jene, die diese – wie auch immer – durchbricht und etwas anderes versucht.

„Ich glaube, der Einsatz des Geräusches zur Herstellung wird zunehmen, bis wir zu einer Musik gelangen, die mit Hilfe elektronischer Instrumente produziert wird, die uns sämtliche Klänge, die das Gehör wahrnehmen kann, zur Verfügung stellen wird. – Bis ich sterbe, wird es Geräusche geben. Und diese werden meinen Tod überdauern. Man braucht keine Angst um die Zukunft der Musik zu haben.“
John Cage, Komponist von „433“

Die jüngere Generation ist frei zu schreiben was sie will

Dabei ist es sicher nicht interessant, Stile aus der Vergangenheit zu kopieren. Ich glaube viel mehr, dass die jüngere Generation sich einfach die Freiheit herausnimmt zu schreiben, was sie will, und eine meiner Meinung nach gesunde Rücksichtslosigkeit an den Tag legt gegenüber den Avantgarde-Kreisen, die genau zu wissen scheinen, wie es gegenwärtig klingen muss. Wenn man Leute aus diesen Kreisen etwas genauer ausfragt, was sie denn bei neuer Musik für Hörerwartungen haben, stellt sich heraus, dass es sich um stilistische und klangliche Elemente handelt, die keineswegs neu sind und vor 40 Jahren noch Provokation waren, heute aber längst der Vergangenheit angehören.

Ich gehöre auf keinen Fall zu denen, die die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte für einen Irrweg halten. Es gibt viele Komponisten und Komponistinnen dieser Zeit, die groβartige Musik geschrieben haben oder immer noch schreiben und die ich sehr schätze. Das 20. Jahrhundert hat der Kunstmusik eine ungeheure Befreiung gebracht. Diese Freiheit unverkrampft und undogmatisch zu nützen, und alles bisher musikalisch Entdeckte zu einer persönlichen Synthese zu bringen, das ist meiner Meinung nach die momentane Herausforderung für Komponierende.

MJ: Sie glauben also an eine Zukunft der Kunstmusik. Was kann denn Ihrer Meinung nach noch „neu“ sein?

FM: Wer heute noch nach neuen Klängen sucht, muss diese ehrlicherweise in der Elektronik suchen oder nach neuen akustischen Instrumenten-Erfindungen Ausschau halten.

Herbert Eimert (1897-1972)
Herbert Eimert (1897-1972)

Als offizielles Geburtsdatum der elektronischen Musik gilt der 26. Mai 1953. Auf dem vom Nordwest-Deutschen Rundfunk organisierten Kölner „Neuen Musikfest“ 1953 wurden vier erste Stücke von Robert Beyer und Herbert Eimert (Link: Youtube-Video zu „Tongemische“) zuvorgestellt.
Werner Meyer-Eppler  zur Definition: „Musik ist nicht schon dann ‚elektronisch‘ zu nennen, wenn sie sich elektronischer Hilfsmittel bedient, da es hierzu keineswegs genügt, die bereits vorhandene Tonwelt oder gar eine bestehende Musik ins Elektro-Akustische zu übertragen.“
Im gleichen Jahr stellte
Karlheinz Stockhausen seine „Studie I“ (Link: Youtube-Video) fertig, die nur aus Sinustönen zusammengesetzt war und als das erste realisierte Stück auch den theoretischen Intentionen der elektronischen Musik entsprach.

Mit einem Orchester in klanglicher Hinsicht „neue“ Musik zu schreiben ist kaum möglich. Aber vergessen wir nicht: Klangmaterialien und musikalische Formen sind die – man könnte sagen – „materielle“ Seite der Musik. Durch alles was in den letzten 600 Jahren musikalisch entdeckt und entwickelt wurde, hat der heutige Musikschaffende eine noch nie dagewesene Palette von Möglichkeiten. Die Frage ist: Hat er auch die Freiheit sie zu benützen? Und da gehen die Meinungen sehr auseinander.
Viele Anhänger der avantgardistischen Ästhetik halten ausschlieβlich das Verwenden der letzten Entwicklungen oder zumindest derjenigen der Nachkriegsavantgarde für legitim und hoffen auf eine Weiterentwicklung. Das Verwenden von beispielsweise tonalen Bezügen gilt in gewissen Kreisen geradezu als Verrat. Dieses Denken sollte man meiner Meinung nach nun am Beginn eines neuen Jahrhunderts hinter sich lassen, weil es – bei aller plausiblen Begründung – ganz einfach unfrei und dogmatisch ist. Eine schlechte Voraussetzung, um zu wirklich „neuen“ Resultaten zu kommen.

Heute geht es nicht mehr um „tonal“ oder „atonal“

Es kann heute nicht mehr um „tonal“ oder „atonal“ gehen. Meiner Meinung nach ist es heute eine Befreiung und auch eine Chance, wenn man sich vom Denken, die Musikgeschichte als geradliniges Kontinuum zu betrachten löst, wo Epoche auf Epoche folgt, entweder als Weiterentwicklung des Vorhandenen oder als Reaktion darauf. Es ist ja eine unbestreitbare Realität, dass im heutigen Konzertangebot sämtliche Epochen in einer noch nie dagewesenen Weise gleichzeitig präsent sind, und dementsprechend auch in unserem Bewusstsein. Man sollte versuchen, die Musikgeschichte als ständige Erweiterung der klanglichen Möglichkeiten zu sehen.

Wenn man die bis heute entwickelten musikalischen Mittel als Ganzes sieht und sich die Freiheit nimmt, sie auch als Ganzes zu verwenden, stehen wir eher an einem Beginn als an einem Ende. Die Schwierigkeit ist heute, in dieser immensen Palette von Möglichkeiten einen persönlichen Weg zu finden.

MJ: Haben Sie ihn gefunden?

FM: Auf irgendeinem Weg bin ich, weiβ aber nicht wohin er führt. Ich habe ein sehr nebelhaftes Gefühl davon, wie es in Zukunft weitergehen könnte. Wenn Sie mich aber fragen, warum ich heute so komponiere und nicht anders, dann ist meine einzige ehrliche Antwort darauf: weil ich nicht anders kann. Alle ästhetischen und philosophischen Begründungen folgen erst nachher. Es war mir immer ein Anliegen, das zu schreiben, was ich wirklich innerlich wahrnehme, ohne jegliche Konzessionen an heutige Hörerwartungen. Wenn ich das Bedürfnis habe, etwas aufzuschreiben und es stellt sich heraus, dass es zum Beispiel Anklänge an Mahler hat, dann hat das damit zu tun, dass ich Mahlers Musik eben sehr liebe und seit meiner Jugend so oft gehört habe, dass sie längst in mir verinnerlicht ist.

Manuskript-Skizze der 4. Sinfonie von Gustav Mahler (1. Satz, 1. Fassung 1899)
Manuskript-Skizze der 4. Sinfonie von Gustav Mahler (1. Satz, 1. Fassung 1899)

Natürlich könnte ich das Wahrgenommene nun so verfremden, dass es avantgardistisch daherkommt. Doch warum? Die Beweggründe dafür wären mir suspekt. Natürlich spreche ich hier nur von subtilen Anklängen, die sich von selbst einstellen und nicht von längeren Passagen oder gar Stilkopie. Mit Stilkopien kann ich gar nichts anfangen. Auβerdem ist für mich die Klangwelt des Symphonie-Orchesters noch immer das Gröβte – für Elektronik konnte ich mich nie so richtig begeistern, sie war mir immer etwas zu kalt – also werde ich wohl weiterhin für die herkömmlichen Instrumente schreiben. Natürlich träume ich davon – wie es wahrscheinlich jeder Komponist tut – Klänge, die bisherigen und neue dazu, eines Tages auf noch nie dagewesene Art zu verwenden… daran arbeite ich.
Gewisse Synthesen von verschiedenen Stilmitteln einiger heutiger Komponisten können durchaus als „neu“ bezeichnet werden, weil Musik noch nie in dieser Form erklungen ist. Dieses „Neue“ ist zur Zeit in Europa vor allem in den nordischen oder baltischen Staaten zu finden.

MJ: Am Anfang haben Sie unterschieden zwischen Inhalt und musikalischem Material – wir haben bis jetzt hauptsächlich über das musikalische Material gesprochen. Gibt es auch „Neues“, was den Inhalt betrifft?

FM: Darüber möchte ich gerne etwas sagen, nämlich über das Bedürfnis eines Komponisten, überhaupt etwas zu schreiben, überhaupt diese undefinierbaren Dinge und Empfindungen, die ihn nicht loslassen, in Musik auszudrücken. Es gibt diese ewige Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, die Sehnsucht nach vollkommenem Glück, vollkommener Liebe, Ekstase, Schönheit.

„Die Musik der meisten Komponisten, die ich für groβ halte, erzählt von der Freude an diesen wunderbaren Dingen, für die es sich zu leben lohnt – und gleichzeitig schwingt darin eine Melancholie mit – die Trauer darüber, dass man diese Dinge eben nie ganz erreicht. Solche Musik kann uns ergreifen, erschüttern, verzaubern. Sie entspringt einem Niemandsland irgendwo zwischen der Sehnsucht selbst und dem, was man herbeisehnt. Das beste Beispiel im 20. Jahrhundert für das, was ich meine, ist die Musik von Olivier Messiaen. Seine Musik ist für mich zukunftsweisend.“ (Fabian Müller)

Dem intellektuellen Umgang mit Klang ist die Transzendenz abhanden gekommen

Dem rein intellektuellen Umgang mit Klang in den letzten Jahrzehnten ist diese transzendente Dimension der Musik etwas abhanden gekommen. Es ist wohl die Aufgabe der jüngeren und nächsten Generationen, der Kunstmusik diese Dimension wieder zurückzugewinnen. Meiner Meinung nach hat nur eine Musik dauerhaften Wert, die den Menschen als Ganzes anzusprechen vermag. Weder losgelöster intellektueller Kitzel noch Gefühlsschwärmerei ohne Logik befriedigt auf die Dauer. Über die „wissenschaftliche“ Analysierbarkeit eines Werkes freuen sich allenfalls die Musikwissenschafter und Kritiker und oft auch nur deswegen, weil ihnen ein anderer Zugang zur Musik verwehrt bleibt. Der Begriff „Musikwissenschaft“ birgt in sich sowieso schon ein Paradoxon.
Denn das, was Musik wirklich ausmacht, beginnt dort, wo der Wissenschaft die Türen verschlossen bleiben. Konnte jemals jemand erklären, warum einen beispielsweise das Thema des 2. Satzes im Doppelkonzert von Brahms aus den Socken hebt? Und dies auch beim x-ten Anhören? Natürlich lässt sich viel über die Spannungsverhältnisse der Intervalle im Verlauf dieser Melodie sagen und es wird irgendwie offensichtlich, warum es sich um eine „gute“ Melodie handelt. Aber hat jemals jemand durch solche – wissenschaftlichen – Erkenntnisse die Fähigkeit erlangt, eine ähnlich gute Melodie zu schreiben?

Olivier Messiaen: Aus "Oiseaux exotiques 1955
Olivier Messiaen: Aus „Oiseaux exotiques 1955

Musik ist wie das Leben, sie lässt sich nicht erklären

Interview mit Fabian Mueller - Komponierhaus - Glarean Magazin
Das „Komponier-Gartenhäuschen“ von F. Müller in Zürich – genius loci des Komponisten

Musik ist wie das Leben, sie lässt sich nicht erklären, und ein einzelnes Werk ist wie ein Mensch: Lange analytische Werkeinführungstexte sind wie anatomische Beschreibungen und wecken in mir den Verdacht, dass ich im Konzert eine klingende Leiche zu hören bekomme.

MJ: Wenn Sie vorhin von dieser Sehnsucht nach dem Unerreichbaren gesprochen haben, ist das nicht eigentlich der Zeitgeist der Romantik?

FM: Vieles was heute tonal klingt oder tonale Anklänge hat, wird als „Neoromantik“ bezeichnet. Das geht manchmal auch meiner Musik so, und mir persönlich auf den Wecker… „Neoromantisch“ ist ein so unscharfer Begriff – und wenn ich bedenke, dass oft schon ein paar Dreiklänge oder ein Melodiefetzen ausreichen, um Musik als neoromantisch zu betiteln, dann kommt mir das irgendwie lächerlich vor. Sicher, ich bin wohl ein „romantischer“ Mensch, wenn „Romantik“ eben diese Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, Transzendenten meint, aber warum dann „neo“? Ist denn Sehnsucht bloβ die Empfindung einer Stilepoche? Ganz sicher nicht! Vielmehr ist dieses Gefühl ja etwas von dem, was den Menschen überhaupt ausmacht. Und das, was den Menschen ausmacht – das ist ja doch ewiges Thema jedwelcher Kunst. Romantik als menschlichen Ausdruck hat es immer gegeben, und wird es immer geben, weil die Sehnsucht immer da ist. Der Zeitgeist bestimmt eigentlich nur, auf welche Weise sich dieses Sehnen ausdrückt… ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Musik auch über
Ursula Petrik: Die Leiden der Neuen Musik
ausserdem im GLAREAN zum Thema Musik-Romantik über die Sinfonie von
Antonin Dvorak: Aus der Neuen Welt (Rubrik „Heute vor … Jahren“)