Claus Eurich: Radikale Liebe (Albert Schweitzer)

Herzensbildung als Menschheitsethik

von Heiner Brückner

Der emeritierte Hochschullehrer für Kommunikationswissenschaften und Ethik Prof. Dr. Claus Eurich betätigt sich weiterhin als Kontemplationslehrer und Buchautor. Sein neuestes, ambitiöses Werk ist „Radikale Liebe – Die Lebensethik Albert Schweitzers – Hoffnung für Mensch und Erde“. Anspruch und Inhalt dieser Schweitzer-Monographie klaffen allerdings weit auseinander.

Der Verlagstext verheisst einen „leuchtenden Hoffnungsstrahl für die Zukunft der Erde“ und behauptet, dass Albert Schweitzer „alles, was er sagte, selber lebte“. Auf Einzelheiten geht die Laudatio nicht näher ein. Der Autor verspricht im zweiten Teil seines Buches die propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ in die Gegenwart zu holen und „uns den wohl einzigen Weg der Rettung“ zu zeigen.
Um es vorweg zu nehmen: Ermahnend ist Claus Eurichs Lobpreis auf den „Urwalddoktor von Lambarene“ zweifellos, überzeugend oder ermutigend ist der wortreiche Text keineswegs und schon gar nicht optimistisch gegenwartstauglich.

Claus Eurich - Radikale Liebe - Albert Schweitzer Monographie - Cover Via Nova Verlag - Rezension Glarean MagazinEs sei fünf nach zwölf, meint Autor Eurich und sieht in seiner Neuerscheinung „Radikale Liebe“ die Lebensethik des Friedensnobelpreisträgers von 1952, Albert Schweitzer, als den Erlösungsweg. Doch Eurich entwirft ein desaströses, destruktives Zeitszenario: „Und so steuert die Titanic mit dem Namen ,Homo sapiens‘ unbeirrt auf den Eisberg zu.“ Als Rettung bietet er die Theorien Albert Schweitzers mit dem Primat des Geistigen, der nur durch „unsere Vorstellung einer universalen Ethik“ seinen Sinn erhalte. Das kommt mir vor wie eine Geister-Scheinung, die bei mir aber keine Geist-Erscheinung, sondern Widerspruch und Unmut über die Allgemeinplätze und Paraphrasen hervorruft. Denn kurz darauf zitiert der Autor: „So, im Mitfühlen mit allen Geschöpfen und der entsprechenden ethischen Tat, verdient der Mensch erst den Namen Mensch.“

Gefesselt und geblendet von der Theorie

Albert Schweitzer beim Bach-Spiel an der Orgel - Original Columbia Masterworks 1952 - Glarean Magazin
Schweitzer beim Bach-Spielen an der Orgel – (Original Columbia Masterworks 1952)

Ich bezichtige ihn nicht der Sentimentalität, er scheint vielmehr gefesselt und geblendet von der Theorie, die er verficht, und nicht mehr in der Lage nachvollziehbar zu strukturieren, sondern landet immer wieder in den kurzschlüssigen Konklusionen seines selbstverliebten immanenten Denkschemas. Aufrüttelnd oder anrührend ist sein Gesinnungs-Hilferuf schon, aber nicht innovativ. Denn wer oder was ist der Rettungsengel, die Umkehr-Rettung?
Das intensiv gelobte und gehuldigte Übergenie Albert Schweitzer, der sich in nahezu allen wichtigen Lebensbereichen als Professor generalis gerierte, nämlich Theologe und Pfarrer, Musikwissenschaftler, Bach-Biograph, Orgelexperte, Konzertorganist, Mediziner, Kämpfer gegen Atomwaffen, Friedensnobelpreisträger, Philosoph, Ethiker, Kosmopolit, „schlichter Mensch und Diener der Mitgeschöpflichkeit“, war zu Lebzeiten auch ein Meister der Selbstinszenierung, hat sein Hospital nicht modernisiert, mit der Begründung von Tierliebe unhygienische Zustände zugelassen und einen kolonialen Führungsstil gepflegt.
Aus dem Elfenbeinturm einer Zitatenmühle antiquiert-nostalgischer Alma-Mater-Mentalität doziert Eurich in schwelgerischer Vorlesungsmanier und reiht die Widersprüchlichkeiten süffisant aneinander: „Dieses Fach in der Lebensschule trägt den Namen: Bildung des Herzens.“

Konkrete Lebensanhaltungspunkte vermieden

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Mit vagen Statements wie „Die Ethik der Ehrfurcht […] mischt sich in alles ein […] , wo dies notwendig ist“ vermeidet er konkrete Lebensanhaltspunkte überwiegend. Meine Geduld weiterzulesen war spätestens hier zu Ende, doch aus „Ehrfurcht“ vor dem Autor kämpfte ich mich auch durch die zweite Hälfte, denn da sollte es pragmatischer werden. Er verspricht die propagierte „Ehrfurcht vor dem Leben“ in die Gegenwart zu holen und „uns den wohl einzigen Weg der Rettung“ zu zeigen. Gelegentlich hält der Autor inne, um nicht falsch verstanden zu werden: „Menschheit als Schönheit in Entwicklung“, dann sofort aber hätten „wir das Gleichgewicht des Lebens so massiv gestört“ – “ […] dass das letztendlich im Suizid enden muss“. Und die Klage über den „schändlichen Umgang mit unseren nächsten Verwandten, den Tieren“, das Versagen der alten Ethik (sprich europäischen – ausser Albert Schweitzer – anthroposophischen Nische). Schweitzer stellt er als „Pate der modernen Tierschutzbewegung“ heraus.

Flugschrift für die Renaissance eines Humanisten

Claus Eurich - Glarean Magazin
Autor Claus Eurich (geb. 1950)

Die kämpferische Flugschrift für die Renaissance eines verdienten Humanisten, allerdings in einer Art und Weise, die jenseits von wissenschaftlicher Sachlichkeit liegt, liest sich wie das Skript zu einem kontemplativen Entspannungs- und Vertiefungsseminar im „Kampf“ gegen das „Desaströse“ ohne akademischen Diskurs. Bezeichnend auch die persönliche Anrede an den Leser im Stil gewisser Ratgeber-Literatur: du („Fang an, … Lebe schon jetzt deinen Traum und dein Ideal, unbeirrt, dem Leben dienend.“).
Zwar wird vorwiegend auf die Predigt von Albert Schweitzer „Ehrfurcht vor dem Leben“ Februar 1919 rekurriert und aus dessen Ethik-Philosophie zitiert, aber durch die Auswahl und die verwirrende Aneinanderreihung ergeben sich Gegensätze, Widersprüche und gehäufte Wiederholungen, die mehr über den Geschmack oder die Vorliebe des Autor aussagen, als dass sie Schweitzers Theorie schlüssig erhellen. Wenn Eurich am Schluss als Resümee an Franz von Assisi erinnert, dessen Armut Albert Schweitzer in ein „neuzeitliches Gewand“ gekleidet habe, dann erhebt er ihn zum Heiligen oder schwächt sein beabsichtigtes Hofieren des Urwalddoktors ab.
Da möchte ich ihn an sein Zitat aus der Kulturphilosophie Schweitzers verweisen: „Wahre Ethik fängt an, wo der Gebrauch der Worte aufhört“ – und dann das Buch zuklappen… ♦

Claus Eurich: Radikale Liebe – Die Lebensethik Albert Schweizers – Hoffnung für Mensch und Erde, Sachbuch, 120 Seiten, ViaNova Verlag, ISBN 978-3-866-16473-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Kulturgeschichte auch über den Essay von Georg Cavallar: Gescheiterte Aufklärung?

Weitere Internet-Beiträge über Albert Schweitzer

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Peter Biro: Raus aus der Klimafalle! (Satire)

Raus aus der Klimafalle!

Peter Biro

Die täglich eintreffende Nachrichtenflut über die sich anbahnende Klimakatastrophe ist selbst für habituelle Warmduscher wie mich beunruhigend. Natürlich freue ich mich über die Erwärmung der Meere und das Abschmelzen der Polkappen, denn dann werden die vorher vereisten Landstriche auch für die Liebhaber der tropischen Breitengarde verfügbar. Das erschliesst einem neue Orte für sonnenverwöhntes Strandleben und anverwandte Freizeitaktivitäten.
Aber so einfach ist die Sache auch wieder nicht. Einerseits könnten bereits jetzt heisse Gegenden völlig unbewohnbar werden. Was aber andererseits noch viel schlimmer wäre, ist dass durch das Ansteigen des Meeresspiegels selbst in Bergdörfern die Keller überflutet würden, und die dort gelagerten Kartoffeln entweder vollends verderben oder zumindest zu ungeniessbaren Salzkartoffeln aufweichen. Das wiederum ist gastronomisch betrachtet absolut untragbar.

Erderwärmung - Klimakatastrophe - Polabschmelzung - Eisbär - Eisschmelze - Glarean Magazin
„Grillwettbewerb kosmischen Ausmasses“

Doch wie alle globalen Entwicklungen sind auch die Klimaveränderungen von unzähligen Co-Faktoren beeinflusst, die nur schwer quantifizierbar sind und sich gegenseitig verstärken oder aufheben – je nach vorherrschender Glaubensrichtung. Die einen glauben, dass die Klimaerwärmung menschenverursacht ist, die anderen vertreten die Ansicht, dass das an Aliens liegt, die an einem Grillwettbewerb kosmischen Ausmasses teilnehmen, und uns arme Würstchen sachte durchzubraten versuchen.
Die Sachlage ist in Wahrheit allerdings weit komplizierter. So wurde einstmals berichtet, dass selbst der leichte Flügelschlag eines Schmetterlings im fernen Amazonien über eine komplexe Kette von Zwischenschritten zu einer vielzitierten Veröffentlichung in angesehenen Fachzeitschriften führen kann. Das ist besonders bemerkenswert, wenn wir bedenken, dass sogar aufsehenerregendere Phänomene es nicht schaffen, in die Spalten der Fachzeitschriften zu gelangen – es sei denn, der Autor ist mit dem Herausgeber verwandt oder verschwägert. Ebenso ist in diesem Zusammenhang der jüngst bekanntgewordene Umstand in Betracht zu ziehen, dass der enorme Fleischverbrauch der wachsenden Weltbevölkerung eine intensive Massentierhaltung erfordert, die ihrerseits zu einer gewaltigen Freisetzung von klimaschädlichen Darmgasen führt. Nebst der unangenehmen Geräuschentwicklung, welche zwischen den Bergweiden der Alpentäler erschallt, verstärkt dies vor allem den Treibhauseffekt in der Atmosphäre. Damit konkurrenziert das die Auswirkung von Haar- und Deo-Sprays, deren Gebrauch stark eingeschränkt werden musste, um die gestiegenen tierischen Ausdünstungen auszugleichen. Dieser Umstand hat hinwiederum zu drastischen Kürzungen in der Friseurbranche und im Kosmetiksektor geführt. „So kann es jedenfalls nicht weitergehen“, sagte jüngst sehr zutreffend Herr Waldemar Obersteubl, der Vizepräsident der „Westfälischen Interessensgemeinschaft der Coiffeure und Lizenzierten Schamhaarzupfer“, in einem dramatischen Appell vor den Kameras des WDR.

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Die von austro-kanadischen Agrarflautologen vorgeschlagene Lösung des Darmgasproblems bei Kühen (und nebenbei bei übergewichtigen Sopranistinnen ebenso) könnte in der Verfütterung von grossen Mengen Knoblauch und Meerrettich liegen. Bei Meerrettich sind die Grenzen der Anbaumöglichkeiten leider bereits erreicht, und noch mehr Rettich kann nur noch aus dem Meer beschafft werden. Der benötigte massive Ausbau der Knoblauchproduktion hinwiederum erfordert enorm viel tierischen Dung, was bei den Primärerzeugern derselben mit noch mehr Gasausstoss einhergehen würde. Das ist ein klassisches circulus vitiosus, wie wir, die wenigen wirklich humanistisch gebildeten Klimaschützer, das untereinander zu sagen pflegen. Dies wird einem dann vor allem klar vor Augen geführt, wenn wir zusehen, wie eine uns persönlich bekannte Hauskatze damit beginnt, in ihren eigenen Schwanz zu beissen.
Ich hoffe, Sie konnten bis hierher meinen Ausführungen noch folgen, denn ab hier wird’s komplizierter. Wenn nicht, widmen Sie sich besser weniger anspruchsvollem Lesestoff.

Tiere im Regenwald - Abholzung - Brandrodung - Glarean Magazin
„Holz-Brandrodung für die vitale Billardtisch-Herstellung“

Die drohende globale Klimakatastrophe veranlasst viele Regierungen teils zu unüberlegten und übereilten Massnahmen. Dem sich abzeichnenden Landverlust durch den erwarteten Anstieg des Meeresspiegels versuchen beispielsweise die brasilianischen Behörden durch verstärkte Rodung und Abholzung des Regenwaldes entgegenzuwirken. Damit soll erreicht werden, dass ein Teil der landlos gewordenen Bevölkerung aus den überfluteten Randgebieten weiter ins Inland umgesiedelt werden kann. Die Frage allerdings bleibt offen, ob die Landgewinnung im Landesinnern durch Abholzung mit dem Landverlust durch den Anstieg des Meeresspiegels Schritt halten kann. Die internationalen Holzverarbeitungskonzerne, die dankenswerterweise den Auftrag zur Baulandgewinnung angenommen haben, arbeiten bereits an der Obergrenze ihrer Kapazität und roden was die Kettensägen hergeben. Aber mehr und schneller geht es kaum, und das obwohl diese Konzerne aus der Vermarktung des geschlagenen Holzes auch noch Profit schlagen. Ein nicht unerheblicher Teil des geschlagenen Holzes wird dabei aus der vitalen Billardtisch-Herstellung für monegassische Rennfahrer abgezweigt, um für den Bau der Flösse verwendet zu werden, die für den Transport der ins Inland strömenden Neusiedler nötig sind.
Selbstverständlich wehren sich die Ureinwohner des Amazonasurwalds gegen die fortschreitende Abholzung, und es soll mehr als einmal beobachtet worden sein, dass Indios die riesigen Bagger und Planierraupen mit Holzspeeren und vor allem mit buntem Federschmuck aufzuhalten versuchten. Davon unabhängig bemüht sich die am Rand der Rodungsflächen verbliebene, tropische Vegetation, verlorenes Terrain zurückzugewinnen, indem sie kurzfristig unbewachtes, kahles Gelände sofort mit schnellwachsenden Ranken überzieht. Daraufhin erobern Kakao- und Nescafé-Bäume die zurückgewonnenen Flächen als Kulturfolger. Als nächstes lassen sich bunte Aras auf deren Ästen nieder, sehr zur Freude von ratlosen Kreuzworträtsel-Lösern, die dringend den Namen eines bunten Papageienvogels für „Senkrecht mit drei Buchstaben, beginnend und endend mit A“ suchen.
Um diesem schleichenden Landraub entgegenzusteuern, bemüht sich die einschlägige Industrie, den frisch gerodeten Waldboden mit Mikroplastik anzureichern, was der Unkrautwucherung wenigstens für eine begrenzte Zeit entgegenwirkt. Versäumt man es allerdings, nach dem Fällen der Bäume und der Entfernung des Mutterbodens rechtzeitig einige massiv energieverbrauchende Industrieanlagen hinzustellen – oder wenn’s nicht anders geht, zumindest genügend Sondermüll weitläufig zu verstreuen – dann entsteht dort ruck-zuck neuer Urwald, in welchem kurze Zeit später sich jede Menge giftiges Ungeziefer breitmacht und menschliche Neuansiedlung buchstäblich verunmöglicht.

Plastikmüll - Meer - Ozeane - Umweltkatastrophen - Glarean Magazin
„Plastikmüll auch auf der maritimen Seite vorantreiben“

Die landbasierte Ausbringung von Mikroplastik muss selbstverständlich auch auf der maritimen Seite ebenfalls vorangetrieben werden. Das ungehemmte Algenwachstum in den Ozeanen führt zur unkontrollierten Vermehrung von Plankton, und das wiederum zum Überhandnehmen der Wale, die mit ihren gewaltigen, tranigen Leibern den Schiffsverkehr behindern. So manches Containerschiff, welches lebenswichtigen Giftmüll transportierte, musste sinnlos herumalbernden Meeressäugern ausweichen und deshalb kostspielige Routenänderungen vornehmen. Mit Sorge müssen wir ausserdem feststellen, dass – trotz intensivierter Hochseefischerei mit langen Schleppnetzen – die Verminderung des ozeanischen Gewusels und Gekrabbels durch allerlei nutzlose Kreaturen noch sehr zu wünschen übriglässt.
Gerade aus dieser Sorge heraus haben einige internationale grosskonzerne, die sich der Erhaltung unseres Planeten widmen, eine raffinierte Kampagne gestartet und schicken die „kleine, pausbäckige Berta“ mit einem ganzen Tross von Betreuern, Kleinkinderzieherinnen und Cateringangestellten um die Welt, um den gedankenlosen Konsumfeinden und Fleischverschmähern die Leviten zu lesen.
Besagte kleine, pausbäckige Berta ist ein herziges Kleinkind von bereits über 5 Jahren, das sehr reif für sein Alter und bestens vertraut ist mit dem Vokabular der Klimabewegung. In mehrwöchigen Leistungskursen wurden ihr die wichtigsten Axiome und Argumente der globalen Klimaverbesserung eingetrichtert. Sie kann nun wie auf Knopfdruck bis zu vier Litaneien nacheinander abspulen und damit die Zuhörerschaft in den Bann schlagen. Ihr eindringlich genuschelter Vortrag in einer international verständlichen Babysprache lässt keinen Zuhörer unbeeindruckt, und ganze Veganer-Vereinigungen sind zu überzeugten Fleischkonsumenten geworden, noch bevor sie ihre Ansprache beendet hatte.

Greta Thunberg - Glarean Magazin
„Kleine, pausbäckige Berta“

Ein solcher Auftritt vor tausenden Umweltschützern läuft meist so ab, dass die kleine, pausbäckige Berta, hübsch angezogen und frisch gekämmt, an das Rednerpult gestellt wird, dann wartet man bis alle Film- und Fernsehkameras auf sie ausgerichtet sind und zu surren und blinken beginnen. Wenn daraufhin das Blitzlichtgewitter verebbt und endlich ergriffene Stille im Stadion herrscht, gibt die stets nah bei ihr stehende Dompteurin und oberste Ideologiechefin ein vorher vereinbartes Zeichen, und die kleine, pausbäckige Berta reisst sich entschlossen den Schnuller aus dem Mund und fängt an ins bereitstehende Mikrophon zu sprechen. Sie beginnt stets mit derjenigen ihrer 16 vorgefertigten Heilsbotschaften, die ihre plötzliche Bekehrung von der frühkindlichen veganen Lebensweise zur besorgten Steakliebhaberin zum Inhalt hat. Sie erklärt, wie sie sich plötzlich, von einem Tag auf den anderen geweigert hatte, die milchige Griespampe zu essen und stattdessen von ihren verblüfften Eltern ein T-Bone-Steak medium rare verlangte. Daraufhin erkannten ihre Eltern, dass die kleine, pausbäckige Berta zu Höherem berufen ist, als nur ihre Windeln vollzumachen. Mit ihren beeindruckenden Monologen bekommt die kleine, pausbäckige Berta die Aufmerksamkeit nicht nur der ganzen Welt, sondern auch spezieller Personal-Trainer, die sofort einspringen, wenn sie mit ihrem Redefluss ins Stocken gerät. Dann wedeln sie vor ihren Augen mit einem an einem Faden aufgehängten Gummibärchen, was ihr meist sehr gut über inhaltlich schwierigere Passagen hinweghilft, oder über solche, die eine deutliche Artikulation benötigen.

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Die kleine, pausbäckige Berta hat seit den Anfangserfolgen ihrer Auftritte – ohne ihre Eltern vorher zu konsultieren – den Besuch der Kinderkrippe abgebrochen. Dabei kündigte sie einen unbefristeten Krippenstreik ihrer solidarischen Altersgenossen für alle Werktage von Montag bis Freitag an, was sie demnächst auch im Parlament politisch durchsetzen möchte. Aufgrund der Bewegungsfreiheit, die sie sich durch die Abwesenheit von ihrer Kinderkrippe erkämpft hat, stattet sie zwischen ihren stadionfüllenden Ansprachen den wichtigsten Staatsoberhäuptern ihre Besuche ab und klärt sie über die desolate Lage des Weltklimas auf. Bei diesen hochkarätigen Begegnungen schreibt sie ihren andächtig lauschenden und unterwürfigen Gesprächspartnern gerne vor, was man dagegen machen soll. Denn die kleine, pausbäckige Berta drückt sich da ganz klar aus: Es geht um die junge Generation, und diese möchte noch zu Lebzeiten alle Fleischsorten und -sossen ausprobieren können. Es geht sogar die Kunde, dass die kleine, pausbäckige Berta demnächst auch dem Heiligen Vater eine Audienz gewähren wird, vorausgesetzt, dass dieser seine Enzyklika den Forderungen der Krippenverweigerer-Bewegung anpasst. Derweil hat ihre jüngere, dreijährige und noch pausbäckigere Schwester Myrta bereits mit dem Training angefangen und soll nach dem Plan ihrer Betreuer in die Fusstapfen ihrer grossen Schwester treten, sobald diese mit 10 Jahren viel zu alt für wirkungsvolle Auftritte in der Öffentlichkeit sein wird. ♦


Prof. Dr. med. Peter Biro

Prof. Dr. Peter Biro - Arzt und Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1956 in Grosswardein (Rumänien), 1970 Emigration nach Deutschland, Medizinstudium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anästhesist am Universitätsspital Zürich und Dozent für Anästhesiologie, schreibt kulturhistorische Essays und humoristische Kurzprosa, lebt in Feldmeilen/CH


Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Medizin-Satire von Peter Biro:
Die Liebe zu den drei Organen – oder Wie es Herz-Terz, Leber-Kleber und Milz-Pilz im Spital erging

… sowie die Satire von Rainer Wedler: Ein Mann muss einen Bart haben

SAID: Magdalena und ihre Frage (Erzählung)

magdalena und ihre frage

SAID

niemand wusste, wovon der kerl lebte. er hatte eine vergangenheit, aber niemand erzählte davon. als hätten alle angst, er schlüge dann noch einmal zu.
er trug zu jeder jahreszeit einen mantel, schmutziggelb. wer weiss, was er darunter verbarg. immer eine schwarze wollmütze. stets die hände in den taschen, er grüsste niemanden, beantwortete keinen gruss und streifte herum. er wusste, was er suchte –  mich.
ich durfte sogar erfahren, dass er mich beschützt; als hätte er mich längst für sich reserviert.
man tuschelte bereits von uns, bis ich das nicht mehr aushielt. ich liess ihn wissen, dass ich zu einem gespräch bereit sei. dabei hat er mich nie darum gebeten.
ich richtete mich für das treffen her. ein kleid mit schmalen trägern, rückenfrei und kurz, ohne bh. meine brüste sollten ihre freiheit geniessen.
ich sass da, die beine übereinandergeschlagen, trank meinen campari und berührte immer wieder meine lippen.
natürlich liess er mich warten. als wüsste er, dass ich nicht ungern zapple.
ein hallo, und er sass mir gegenüber, ich versuchte die füsse still zu halten. der kerl schwieg, bis ich unruhig wurde. ich setzte mich um, schlug die beine erneut übereinander, wippte mit einem fuss und schaute ihm in die augen. kann meine haut die wut aufnehmen, die diesen kerl bedrängt? vor der antwort grauste es mir.
endlich machte er den mund auf.
– vor deiner tür heulen wohl nachts wölfe.
– aber echte wölfe haben mehr anstand.
er grinste und zeigte die gelben zähne.
dann wurde er deutlich.
– ich will dich, finde dich damit ab.
ich wippte wieder mit dem fuss und fuhr mit der zunge über die lippen. soll ich mich je seinem mund überlassen und diesen zähnen? ich wusste bereits eine lösung für mich.
erst will ich ein paar küsse. dann entscheide ich, ob der kerl hässlich ist.
er bestellte noch einen campari für mich und starrte mich an.
– was haben sie für ein gesicht, voller furchen.
– dir gefällt wohl meine visage nicht.
– das ist ansichtssache.
und schon versuchte ich, alles wieder gutzumachen.
– ich meine, man kann in diesem gesicht viel entdecken.
er beugte sich vor.
– und was entdeckst du darin?
ich öffnete leicht die beine unter dem tisch.
– ich versuche, sie und die welt zu verstehen.
er griff in meine beine.
– ich auch.
da wusste ich, dass ich besiegt bin. erleichterung ging durch meinen körper.
die frage, die mir herausrutschte, war eher rhetorischer natur.
– habe ich eine wahl?
er schüttelte den kopf.
meine haut wollte sofort ja sagen, aber ich machte wieder den mund auf.
– aber vielleicht eine frist?
– geh zu dem gefesselten christus.
– und dann?
– frage ihn nach seinem rat.
er stand auf, stupste auf meine nase und ging.

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ich schaute ihm nach, er bewegte sich wie ein tier. er hatte etwas von der jungenhaften rauheit, die mich an männern reizt.
ich steckte zwei finger in den mund und beruhigte meine zunge.
– jetzt muss ich auch seine beziehung zum christus begreifen.
ich trank noch einen schluck und versuchte mir vorzustellen, wie der kerl mich anfasst.
widersprechende gefühle bestürmten mich. ich vertrieb sie und beschloss, morgen zu seinem christus zu pilgern.
mit meinem christus spreche ich oft. er braucht auch nicht zu antworten. es genügt, wenn er zuhört. aber warum ist sein christus gefesselt? hat dieser kerl vielleicht einen anderen gott?
am tag darauf zog ich mich sorgfältig an, züchtig wie mein geschmack es zuliess.
meinen mund aber habe ich geschminkt.
ich blieb vor diesem christus stehen und trug mein anliegen vor –
er schwieg.
wie ich da stand und wartete wie eine bettlerin, fiel mir augustinus ein. eigentlich habe ich sympathien für ihn, er war nie bieder. einmal beendete er seine predigt mit dem satz:
„am ende wird es nur noch christus geben, der sich selbst liebt!“
so viel eitelkeit für einen, der sich gott nennt?
heutzutage ist alles möglich. die welt steht kopf und produziert angst. die angst wird alle zähmen, selbst die ratten. auch die, die noch nicht zu ratten mutiert sind.
sein christus schwieg weiter. er hat mir nicht einmal etwas verboten. ist ihm gleichgültig, was der mann mit mir macht?
ich ging einen schritt näher und fragte, ob das begehren eine sünde ist?
auch da schwieg er.
doch dieses schweigen kannte ich nicht. hat der christus vielleicht zwei arten des schweigens? eine für mich und eine für meinen galan?
ich verliess die kirche, vernahm den widerhall meiner stöckelschuhe im raum und den gedanken, der mich bedrängte. sollte ich vielleicht einen anderen gott suchen, wenn dieser nicht antwortet?
draussen blieb ich stehen und stellte mir vor, wie ich mich ausnehme neben diesem kerl. ein plaid um die schulter, er lehnt sich seitlich an mich, die hände in den taschen und schaut in die stadt – als wolle er seinen neuen besitz vorführen.
jetzt fiel mir ein, ich kannte nicht einmal seinen klarnamen. wer kennt ihn schon? alle nannten ihn mit dem aliasnamen. er verlangte respekt ab, aber mir gefiel er nicht. möge mir sein christus tausend zungen schenken, auf dass ich dem kerl einen gebührenden namen verpasse.
ob ich bereits gefühle für ihn hatte?
ach, wo! aber er macht mir angst. die patrouillen am rande meines herzens wackelten schon.
dann musste ich an seine augen denken. ich werde wohl willfährig unter diesem blick. er wird sicher versuchen, mich abhängig zu machen – auf seine weise. und eben vor der art fürchtete ich mich.
seine fingernägel, so dreckig. ob er mit diesen fingern in meinen mund greift? aber man kann diese maniküren, darauf verstehe ich mich.
ich werde morgen noch einmal den gefesselten fragen, vielleicht antwortet er dann. auch ein gott hat seine launen, man muss ihm zeit lassen. froh über meine weisheit, stöckelte ich nach hause. vor meiner tür kam mir noch eine weisheit.
– ich werde auch meinen christus fragen, er kennt mich besser.
irgendwann wirft mich dieser ganove wie ein schlachtvieh hin und bedient sich.
und, wenn ich ihn das erste mal besuche, was mache ich, wenn eine andere frau da ist, nackt und erregt? renne ich hinaus, suche trost bei einer mauer, lege den kopf darauf und schluchze wie eine heulsuse, ich?
was, wenn er unerwartet von hinten heranpirscht und die pranke auf meine nackte schulter legt? er weiss ja, wie gerne ich schulterfrei herumstolziere. dann wäre ich ja ganz geliefert.
nein. die initiative für die erste berührung muss von mir ausgehen. ob der christus etwas dagegen hat? meiner bestimmt nicht.
wenn ich am ersten tag zu ihm gehe, nehme ich blumen mit?
rosen langweilen ihn sicher – ich gehe brennesseln pflücken für den herrn.

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in der nacht dachte ich an wachteln. sie lassen eindringlinge sehr nahe an sich herankommen, fliegen dann plötzlich auf und lassen sich schnell wieder in eine deckung fallen. oh ja, dieser herr muss eine weile zappeln, bis ich mich fallen lasse. er kennt nicht alle meine waffen.
jedenfalls will ich nicht eine der damen sein, die sich mit einem hundeblick ergeben.
was er über mich denkt, kann ich mir vorstellen.
magdalena wartet schon länger. sie braucht einen mann, der sie richtig anfasst.
wehe ihm, wenn er mich magda nennt.
der kerl kommt auf mich zu wie ein nahendes gewitter. ich sage nein, bestimmt. selbst, wenn berittene polizisten mich am strick abführen würden. als hätte ich je angst vor männern. ihr zorn amüsiert mich nur.
der mann versucht nicht einmal geschickt zu sein, und mir gefällt das gerade. und dann dieser blick, der mich immer weiter und weiter raten lässt, bis ich alles von mir erzähle.
kümmert er sich auch um meinen blick, wenn ich verlegen bin und nicht weiss, wohin damit?
ich werde den kerl schon zähmen mit meinem fleisch und seinem salz.
wir werden einander anblicken, ohne zu verraten, was jeder für sich bewacht. er seine gefährlichkeit ohne gesinnung. und ich? bewache ich da noch meine begierde, die mich triefend heimsucht bei seinem anblick?
für das erste treffen habe ich bereits ein szenario im kopf. ein kleid, ganz züchtig, schwarz. stöckelschuhe in rot als kontrast. und dazu ein kopftuch. er soll etwas zum enthüllen haben.
meine handtasche hänge ich über die türklinke. ich setze mich auf die couch – hoffentlich besitzt dieser barfüssige eine. ich schlage die beine übereinander, meine kräftigen schenkel für seine augen. und ich verdecke das gesicht mit beiden händen. ganz die unschuld vom lande. diese hände muss er schon mit nachdruck zurückdrängen. so einen griff beherrscht er gewiss. dann schaue ich ihm direkt in die augen. reagiert er immer noch nicht, öffne ich den mund. sagen muss ich ja nichts. der mund verrät alles, wenn ich erregt bin. wenn er dann nicht reagiert, dann hat er mich nicht verdient – aber er wird schon angreifen.
versteht er etwas von komplimenten? begreift er, dass ich komplimente nur dann ertrage, wenn sie frivol sind oder zumindest fragwürdig? soll ich ihm das verraten, damit er nicht daneben greift? ach was. er soll sein, wie er ist. einen schosshund kann ich nicht gebrauchen.
was auch kommt, ich halte fest an meinem christus und erzähle ihm alles.
er kennt mich ja so lange und auch meine begierde. er wird auf meiner seite bleiben.
zu beschützen braucht er mich nicht, das ist das vorrecht meines liebhabers.
mein christus wartet im hintergrund und gibt mir das gefühl der geborgenheit –
wie er es oft getan hat.
dann kehrt die heitere ruhe wieder in meinen körper ein. ♦


S A I D (Pseudonym)

SAID - Exil-Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1947 in Teheran geboren, 1965 Übersiedlung als Student in die BRD, 1979 Rückkehr in den Iran, jedoch bald darauf und seither aus politischen Gründen wieder im deutschen Exil lebend; zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Träger verschiedener internationaler Literatur- und Kultur-Preise; 2000 bis 2002 Präsident des PEN-Zentrums Deutschland; lebt in München

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Ausserdem zum Thema Liebe über die Gedichte von Lili Reinhart: Swimming Lessons (Freischwimmen)

Simone Frieling: Peter Handke (Scherenschnitt)

Literatur-Nobelpreis 2019 an
Peter Handke

von Simone Frieling

Peter Handke

Dichter der Nähe,
der einen Stein aufhebt und ihn wie ein Kind
an sein Ohr hält, um der Stille zu lauschen,
der seinen Weg mit Muscheln säumt,
der einen Fuss vor den anderen setzt,
um die Welt zu erkunden und sich dabei
manchmal verirrt.

Simone Frieling - Peter Handke - Scherenschnitt - Karikaturen - Glarean Magazin
„Literatur ist nichts Künstliches, sie ist die Mitte der Welt.“ (Peter Handke)

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Simone Frieling: Der Kopf des Monats

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… und sehen Sie zum Thema Karikaturen von
Christian Born: Mensch und Computer (Cartoons)

Viola Sanden: Playground Chess (Schach-Roman)

Schach auf amourösen Pfaden

von Ralf Binnewirtz

Der Debütroman der Wuppertaler Autorin Viola Sanden (alias Manuela Sanne) „Playground Chess“ ist dem noch jungen New Adult-Genre zuzurechnen: In diesem Fall ein Liebesroman, der die Altersgruppe der etwa 18- bis 30-Jährigen im Visier hat. Das Ungewöhnliche an dieser Lovestory ist zweifellos deren allmähliche virtuelle Anbahnung auf einem Schachserver, wo schnelle Partien zwischen gemeinhin anonymen Kontrahenten ausgetragen werden.
Das in zarter Rosatönung gehaltene Buchcover ist durch ein attraktives Design marketingwirksam gestaltet und legt dem Betrachter nahe, dass eine vornehmlich weibliche Leserschaft angesprochen werden soll. Werfen wir einen kurzen Blick auf den Verlauf seiner Story.

Online Chess mit Nickname Caissa

Playground Chess - Berührt Geführt - Liebesroman Viola Sanden - Piper Verlag - Glarean MagazinCatrin (Cati), 28, studierte Ökotrophologin (also Ernährungswissenschaftlerin) aus Düsseldorf, ist seit einiger Zeit solo, nachdem sie sich von Daniel getrennt hat – der ihr nichtsdestotrotz ein Freund und Helfer in allen Lebenslagen geblieben ist und im Buch eine substanzielle Nebenrolle spielt. Letzteres gilt auch für Catrins beste Freundin Anett, die ihr Privatleben – weniger zurückhaltend und besonnen als Cati – mit häufigen kurzlebigen Affären anreichert.
Catrin spielt in ihrer Freizeit vorzugsweise Schach auf der Onlineplattform „Playground Chess“ (unter ihrem Nickname „Caissa“ – die Nymphe/Göttin des Schachs) und trifft dort auf den ihr schachlich weit überlegenen „Magnus“ (wem kommt da nicht sofort der amtierende norwegische Schachweltmeister in den Sinn?), der mit bürgerlichem Namen Jon heisst und als Lehrer für Englisch und Mathematik in Bonn lebt. Beide sind offenbar direkt voneinander angetan, Neugier und Faszination wachsen sukzessive im Verlauf einiger Wochen, katalysiert durch einen zunehmenden E-Mail-Austausch und durch begleitende Online-Chats. Aber die derart voneinander erlangten Eindrücke und Kenntnisse bleiben naturgemäss unvollständig oder unsicher, woran auch ein von Jon initiiertes „Game“, ein auf Ehrlichkeit beruhendes Frage-und-Antwort-Spiel zwecks gegenseitigen besseren Kennenlernens, nichts grundlegend ändert.

Virtuality vs Reality

Schach Liebe Sex - Chess Love - Glarean Magazin
Liebesnacht via Online-Schach: Virtuality oder Reality?

In diesem ersten Teil des Buchs, überschrieben mit Virtuality, wird somit ein merklicher Spannungsbogen erzeugt: Die Frage und die sich steigernde Erwartung, ob, wann, wo und wie den Wort-Spielereien im ausschliesslich virtuellen Raum letztlich ein Nachspiel in der realen Welt folgt, harrt der Auflösung. Diese wird in Teil 2 des Romans – Reality – gegeben. Anhänger des Problemschachs mögen in diesem Kontext eine Schachkomposition assoziieren, bei der das virtuelle Spiel (Verführungen, Probespiele) zum reellen Spiel (eigentliche Lösung) hinführt, aber diese formale Analogie soll hier nicht überstrapaziert werden. Im Buch verabreden sich Catrin und Jon zu einem unverbindlichen Date in einem Kölner Hotel, und es kommt, wie es kommen muss: Das Treffen kulminiert in einer leidenschaftlichen Liebesnacht.

Viola Sanden - Manuela Sanne - Schriftstellerin - Playground Chess - Glarean Magazin
Unterhaltsam schreibend und intelligent konzipierend: Debüt-Romancière Viola Sanden (©Wynn Photodesign)

Aber alsbald ziehen dunkle Wolken am Horizont auf, Jon versetzt Catrin bei einem anschliessenden Date, und (mehr soll hier nicht verraten werden) letztlich bleibt es offen, ob die Beziehung langfristig Bestand haben kann. Wer ein Happy End à la Rosamunde Pilcher erwartet haben sollte, wird daher mehr oder weniger enttäuscht sein. Indes ist es aus Sicht des Rezensenten positiv zu werten, dass die Autorin keinen solch trivialen Schlusspunkt gesetzt hat. Zudem erhält sie sich die Option, in einem Folgeband die Geschichte von Catrin und Jon weiterzuspinnen, was sich natürlich anbietet, sofern sich dieser erste Band auch als kommerzieller Erfolg erweisen sollte.

Romanhandlung ohne Konflikte

FAZIT: „Playground Chess“ ist ein ungewöhnlicher Liebesroman, in dem sich das Online-Schach als Vehikel für eine Liebesaffäre entpuppt. Für die anfangs erwähnte Zielgruppe und diejenigen, die diese Art von Literatur mögen, verdient der unterhaltsame, gut geschriebene und intelligent konzipierte Roman sicherlich eine nachdrückliche Empfehlung. Und wer weiss, vielleicht wird die eine oder der andere durch die Lektüre angeregt, sich etwas näher mit dem königlichen Spiel zu befassen?

Die wesentlichen Figuren des Romans sind generell positiv gezeichnet und können als Sympathieträger gelten. Keinen Platz gibt es für den klassischen Bösewicht, der als Gegenspieler bedrohlich dazwischenfunkt und Unheil anrichten will. Ernste Konflikte sind in der Romanhandlung nicht vorgesehen. Die im Buch aufgebaute Spannung hält sich damit in gewissen Grenzen, wer atemberaubenden Thrill sucht, sollte zu anderen Büchern greifen.
Der Schreibstil der Autorin ist durchweg flüssig und leicht verständlich, der Satzbau übersichtlich, so dass das Lesepublikum ihren Gedankengängen mühelos folgen kann. Bei diversen Kapiteln wechselt die Erzählperspektive von der Ich-Erzählerin Catrin auf andere Protagonisten (Jon, Anett, Daniel), ein dramaturgisch geschickt eingesetztes Mittel, das uns die Sichtweise der anderen beteiligten Personen auf das Geschehen nahebringt. Da diese Kapitel jeweils durch den Namen des Erzählers in der Überschrift kenntlich gemacht sind, sollte dies keine Irritationen bei der Lektüre auslösen.

Schachwissen unnötig

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Ausgesprochen gefallen hat mir, dass die Autorin sämtlichen Kapiteln ein beziehungsreiches Zitat bzw. eine Weisheit von mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten vorangestellt hat, wofür sie offenbar nicht nur die Schachliteratur durchforsten musste. Als Auftakt zu ihrem Werk hat sie zudem ein Schachsonett von Christian Morgenstern reproduziert. Der insgesamt positive Eindruck wird noch durch den Befund gestützt, dass im Text bemerkenswert wenige Tippfehler verblieben sind. Erwähnt sei lediglich, dass der niederländische Schach-GM J. van der Wiel durch einen Buchstabendreher etwas unglücklich zu „van der Weil“ mutiert ist (S. 120 oben) – vielleicht eine Auswirkung der unseligen automatischen Rechtschreibkorrektur….

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Was die schachlichen Inhalte des Romans betrifft, so dürfen Schachfreunde nicht allzu viel Tiefgang erwarten. Dies ist offenbar der unausgesprochenen Forderung geschuldet, die Mehrheit einer schachunkundigen Leserschaft nicht durch übermässiges Expertenwissen zu vergraulen. Playground Chess ist daher auch ohne spezifische Schachkenntnisse gut lesbar. Ansonsten scheint die Autorin in ihrem Schachwissen gefestigt, im Text sind ihr keine fundamentalen s(ch)achlichen Fehler unterlaufen. Dies ist erfreulich angesichts der bereits bestehenden schachbelletristischen Literatur, in der sich teils eklatante Fehler versammelt haben. ♦

Viola Sanden: Playground Chess – Berührt. Geführt, Roman, 212 Seiten, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-50264-1

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Literatur und Schach auch über Ariel Magnus: Die Schachspieler von Buenos Aires (Schachroman)

… sowie zum Thema Online-Dating in der Romanliteratur über Anke Behrend: Fake Off!

Gedicht des Tages von Georg Trakl: Im Winter

Schilfrohr im Winteracker - Georg Trakl - Lyrik - Glarean Magazin

Im Winter

Der Acker leuchtet weiss und kalt.
Der Himmel ist einsam und ungeheuer.
Dohlen kreisen über dem Weiher
Und Jäger steigen nieder vom Wald.

Ein Schweigen in schwarzen Wipfeln wohnt.
Ein Feuerschein huscht aus den Hütten.
Bisweilen schellt sehr fern ein Schlitten
Und langsam steigt der graue Mond.

Ein Wild verblutet sanft am Rain
Und Raben plätschern in blutigen Gossen.
Das Rohr bebt gelb und aufgeschossen.
Frost, Rauch, ein Schritt im leeren Hain.


Georg Trakl - Glarean MagazinGeorg Trakl

Lesen Sie im Glarean Magazin auch das Gedicht des Tages von Wolfgang Reus: Liebesgedicht

… sowie das Gedicht des Tages von Walter Gross: Dezembermorgen

 

Mathias Ninck: Mordslügen (Roman)

Gutes Handwerk – mit Luft nach oben

von Bernd Giehl

„Medien“ können heutzutage fast alles. Sie können eine 16-jährige Schülerin, die freitags vor ihrer Schule sass und für das Klima „streikte“, zu einem Star machen, den jeder in Europa kennt, und deren Nachnamen nicht einmal genannt werden muss („Greta“). Und umgekehrt können sie mächtige Männer wie den Filmproduzenten Harvey Weinstein oder Regisseure wie Woody Allen ins Nichts oder gar ins Gefängnis schicken (#MeToo).

Mathias Ninck - Mordslügen - Roman-Krimi-Literatur - Cover - Glarean MagazinAber natürlich sind das nicht mehr dieselben Medien, die wir Älteren noch aus unseren frühen Zeiten kennen, also Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen; das Internet ist hinzugekommen – und mit ihm das, was wir heute „soziale Medien“ nennen. Alles ist mittlerweile miteinander „vernetzt“. Grenzen, die es früher einmal gab, existieren nicht mehr. Auch jene Menschen, die früher keinen Einfluss hatten, sondern sich allenfalls per Leserbrief äussern konnten, vermögen heutzutage eine Lawine loszutreten, können sich Gehör verschaffen und notfalls sogar eine Kanzlerin stürzen. Sie müssen nur laut genug brüllen und genug andere finden, die mitbrüllen.

„Das wahre Leben“

Man kann das gut finden. Man kann sagen, endlich kämen auch jene zu Wort, die früher nur ohnmächtig die Faust in der Tasche ballen konnten. Man kann aber auch argumentieren, die Medien, die eigentlich nur den Auftrag hatten, über das zu berichten, was gerade passiert, würden nun selbst aktiv eingreifen und das Geschehen mit beeinflussen. Was stimmt? Vermutlich beides.

Mathias Ninck - Schriftsteller - Glarean Magazin
Debüt-Romanautor Mathias Ninck

Der Roman-Krimi „Mordslügen“ von Mathias Ninck beschäftigt sich mit dieser Welt. Seine Hauptfigur Simon Busche steckt da mitten drin. Busche ist ein sympathischer Mensch, Reporter bei einem halbseidenen Internet-Magazin mit dem Titel „Das wahre Leben“, zuständig für die „weichen Themen“ – was bedeutet, über weltbewegende Geschichten zu schreiben wie z.B. über einen Lehrling, der beim Pinkeln aus dem Bus fällt. Hauptsache, die Story generiert Klicks.
Busche könnte sich ein anderes Leben vorstellen, aber er ist mittlerweile 42, davon 17 Jahre beim „Wahren Leben“. In einem Facebook-Eintrag eines pensionierten Kollegen hat er den Satz gelesen, ein Journalist brauche „eine Haltung“; den Facebook-Eintrag hat er mit „Gefällt mir“ bewertet. Aber er weiss auch, dass es bei seinem Arbeitgeber auf vieles ankommt, aber ganz bestimmt nicht auf Haltung. Diese muss man sich erst einmal leisten können. Schliesslich muss jeder Miete zahlen, sich ein Essen kochen und abends einmal in die Kneipe gehen und ein Bier trinken können.

Drei Morde gestanden, aber nicht begangen?

Dies alles kann sich aber von einem Moment auf den anderen ändern, wie schon der alte Heraklit wusste. Busche wird von der Psychiaterin Olivia Pfeiffer kontaktiert, die behauptet, dass eine Frau namens Sandra Dubach seit 25 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt, weil sie drei Morde gestanden, aber nicht begangen habe. Die Psychiaterin glaubt den wahren Mörder zu kennen. Er sei einer ihrer Patienten, ein Manuel Schindler (genannt Manu), der gewalttätig sei, schon mehrere Male vor Gericht gestanden habe, dessen Freundin sich gerade von ihm getrennt habe, und der ihr nun von seinen Mordphantasien erzählte.
Zwei Tage später wird die Leiche einer Frau vor dem Haus gefunden, in dem Manus Ex-Freundin wohnt. Es handelt sich zwar nicht um die Ex-Freundin, aber dennoch ist die Psychiaterin davon überzeugt, dass ihr Patient den Mord begangen hat. Schliesslich ist er schon einmal verdächtigt worden, seine Freundin getötet zu haben. Damals war er 14 Jahre alt gewesen und hatte mithilfe seines Vaters für lange Zeit nach Südamerika verschwinden können. 12 Jahre später taucht er mit neuem Namen wieder in der Stadt auf und begibt sich in Olivia Pfeiffers Behandlung.
Die Psychiaterin hat Zweifel, ob sie mit ihrem Verdacht zur Polizei gehen soll. Es gibt schliesslich das Arztgeheimnis, und obendrein könnte sie das nächste Opfer des vermutlichen Mörders werden. Schliesslich gibt sie der Polizei verdeckt einen Tipp, und Manu landet auf der Liste der Verdächtigen. Aber dann, als Sandra Dubach die drei Morde gesteht, verschwindet er wieder von dieser Liste…

Das Imperium schlägt zurück

Viele Jahre später stürzt Olivia Pfeiffer in einen Gully, hat Todesangst, wird gerettet; Simon Busche schreibt einen Bericht im „Wahren Leben“ über den Unfall, so dramatisch wie sonst nur die „Bildzeitung“ das kann – inklusive Ratten, die schon an ihr nagen -, und so kommt die Handlung in Schwung. Busche übernimmt (nach anfänglichen Zweifeln) die Recherche, besucht Sandra Dubach im Hochsicherheitstrakt, nimmt sich eine Auszeit vom „Wahren Leben“ und ist schliesslich davon überzeugt, dass Dubachs Geständnis tatsächlich falsch ist.
Dubach ist Borderliner; sie fühlte sich in der Gesellschaft anderer nicht wohl; im Gefängnis, das sie schon von früheren Aufenthalten kannte, hatte sie ihre Ruhe. Sie hat einen Zerstörungstrieb in sich, mit dem sie nur schwer umgehen kann. Jedenfalls passt für Busche alles zusammen: Dubach hat die Morde nicht begangen, für die sie seit zwanzig Jahren sitzt.
Busche kann zwar seine Geschichte am Ende nicht im „Wahren Leben“ veröffentlichen, aber es gibt ja noch die Zeitungen auf Papier, in seinem Falle die „Neue Tageszeitung“. Diese veröffentlicht Busches Artikel, danach ist Busche für ein paar Tage berühmt – bis das Imperium zurückschlägt…

Handwerklich einwandfrei, aber…

Die Handlung ist gut erzählt. Matthias Ninck versteht sein Handwerk. Dennoch haben sich mir beim Lesen ein paar Zweifel im Kopf festgesetzt. Dass eine dreifache Mörderin im Hochsicherheitstrakt einsitzt, isoliert von allen anderen Gefangenen, leuchtet nicht ein. Vielleicht liegt es daran, dass ich als Deutscher beim Thema Hochsicherheitstrakt an Stuttgart-Stammheim denke und an die RAF-Mitglieder Baader, Raspe und Ensslin, die nach der Entführung und Befreiung der Lufthansa Maschine in Mogadischu 1977 in einer Nacht gemeinsam Selbstmord begingen, obwohl sie doch – zumindest offiziell – keinen Kontakt zueinander aufnehmen konnten. (Oder die vielleicht auch ermordet wurden, was aber bis heute nicht geklärt ist). Also, bei allem Respekt: das waren andere Kaliber.
Und dann wäre da auch noch der Titel: „Mordslügen“. Eine Headline, wie sie die „Bildzeitung“ nicht besser erfinden könnte. In Verbindung mit dem Thema Medien denkt man gleich an die AFD und ihre Pauschalbehauptung von der „Lügenpresse“, mit der all jene gemeint sind, die sich kritisch über die AFD und die Rechten äussern.

… am Grundthema vorbei

Weiter: Das Thema, wie wir alle von den Medien manipuliert werden, weil etwas künstlich aufgeblasen wird und alle Welt darüber in eine Riesenerregung verfällt, das wird im Buch nicht aufgenommen. Als Beispiel sei Friedrich Merz genannt, bis 2002 Vorsitzender der CDU-Fraktion im Bundestag, der damals von Angela Merkel abgesägt wurde und im letzten Jahr Parteivorsitzender der CDU werden wollte, aber gegen Annegret Kramp-Karrenbauer unterlag, und der neulich von den „Nebelbänken“ sprach, die die Kanzlerin erzeuge und von der „grottenschlechten“ Arbeit der Regierung. Und dann wird dieser völlig überzogene Kommentar eines Privatmanns, der selbst gern Kanzler werden würde, nicht etwa unter der Rubrik „Vermischtes“ vermeldet, sondern er wird in allen Talkshows der Republik diskutiert. Wundert es jemanden, dass hernach die Hälfte der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass die Arbeit der Regierung „grottenschlecht“ ist?

Das ist der eigentliche Skandal. Zeitungen und Fernsehen eifern den „sozialen Medien“ nach, erzeugen Riesenwellen, und wenn die Aufregung immer grösser wird, fragen sie, wer daran schuld sei.
Womöglich ist es ungerecht, von einem Autor zu erwarten, der doch nur einen Krimi aus dem Bereich des Internetjournalismus schreiben wollte, dass er das Thema in dieser Dimension bearbeite. Das ist, zugegeben, schon ziemlich anspruchsvoll. Aber wenn man die Welle reiten will und dann die Erwartungen, die man geweckt hat, nicht bedienen kann, muss man sich eine solche Kritik gefallen lassen. ♦

Mathias Ninck: Mordslügen – Roman, 232 Seiten, Edition 8 Verlag, ISBN 978-3859903814

Lesen Sie zum Thema Krimi auch über Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)

… sowie über den neuen Thriller von Jean-Christophe Grangé: Die Fesseln des Bösen

Anton „ViscaBarca“ Rinas: Realtalk (Rezension)

Psycho-Striptease eines Gaming-Influencers

von Heiner Brückner

Der YouTube-Fame als greller Schein. Ist das Kunst oder ehrgeizige Individualinszenierung? Nein, es ist für den einen oder anderen tragische Realität. Aber diese Offenbarung, die „ViscaBarca“ zum eigenen Whistleblower macht oder zum Seelenstripper, wie Anton Rinas selbst sagt, ist heilsam – für ihn selbst, und hoffentlich für viele Follower.
Sicherlich ist mit Kulturarbeit und Kunst kein Staat zu machen, aber es handelt sich dabei um konkretes Leben und nicht um eine virtuelle Scheinwelt, selbst wenn sie Visionäres und Fantastisches projiziert und prolongiert.

Viscabarca - Anton Rinas - Realtalk - Mein Leben als Influencer - Cover - Rezension Glarean MagazinAnton Rinas alias ViscaBarca konnte sich den Lebenstraum vieler junger Menschen erfüllen. „Als erfolgreicher YouTuber und Social Medias Performer begeistert er über eine Million Abonnenten, verdient mit 17 bereits fünfstellige Summen im Monat“, kündigt der Verlag das Werk über „Trug, Schein und Schulden“ eines Gamers an. Dann kam der Absturz des digitalen Modephänomens als Influencer. Ich lese die Bekennergeschichte mehr als diagonal, weil mich das Thema reizt, weil ich den Herkunftsort des Autors kenne, und weil ich auf die Verlockungen der Verlagsanpreisung hereingefallen bin. Bin ich der Influenz erlegen? Noch will ich mich erwehren durch das Lesen der veröffentlichten Fakten.

Wer füttert den Beeinflusser?

Fussball-Fans FC Barcelona - Glarean Magazin
„Es lebe Barca, die tolle spanische Fussballmannschaft“: Das Massen-Game als Social-Multiplikator

Wer füttert den Beeinflusser, von wem lässt er sich beeinflussen? Wen hat er im Visier, auf wen oder was zielt er ab? Das sind Hintergrundfragen, die entscheidend sind, weil sie den Schein hinter allem aufdecken. Freimütig zählt Rinas seine Fake-Accounts genauso auf wie seine millionenfachen Likes. Sein Aka-Name ViscaBarca ist Programm und eigentliche Lebenssehnsucht, die er sich wegen körperlichen Handicaps nicht mehr erfüllen kann: Es lebe Barca, die tolle spanische Fussballmannschaft.
Wessen entledigt er sich also bei seinem öffentlich gemachten Höllentrip durch eine Influencer-Biografie unter dem Titel „Realtalk“?

Down To Earth und Back To Life

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Das erste Kapitel fasst zusammen, wie der Offenbarungseid in ein 15-minütiges Realtalk-Video als „Balsam für meine Seele“ gepackt werden sollte. Das letzte schilderte, wie er nach dem Absturz wieder „down to earth“ kommen konnte. Dazwischen wird die Chronologie seines Auf- und Abstiegs ausgebreitet: die chaotischen Zustände in Familie, Erfolg und Misserfolg in Gaming-WGs, und wie die geliebte Schwester und ihr Mann, sein Schwager, ihn finanziell bis in den Ruin auspumpen. Dreimal stellt er eine Liste der Ausgaben von 4000 bis auf 205’000 Euro Schulden auf. Nach dem Absturz findet er in München „mit Disziplin und Fleiss“ wieder „back to life“, wird wegen des „Schwester-Videos“ als „InzestBarca“ beschimpft und erleidet wirtschaftlich den nächsten Rückschlag wegen einer undurchsichtigen Steuerberaterin.

Den „ganzen Scheiss“ hinausgekotzt

Viscabarca - Anton Rinas - Ich durfte beim Barca-Spiel auf dem Rasen stehen - Glarean Magazin
„Ich durfte beim Barca-Spiel auf dem Rasen stehen“: FC-Barcelona-Fan Viscabarca alias Anton Rinas

Reden wir Klartext („Realtalk“) und nicht lange um die 271 Seiten herum, so wie es das Elaborat auch tut: verzweifelter Seelenstrip, Digga, literarisch bescheiden, moralisch als abschreckendes Exempel einsetzbar, aus der katastrophalen finanziellen Notlage geboren.
ViscaBarca lamentiert in seinem Schriftstück nicht gefühlsduselig, will auch nicht „rumheulen“, er kotzt den „ganzen Scheiss“ offensichtlich ungeschminkt heraus. Der seelische Auswurf ist ein notgedrungenes, eigentlich nicht druckreifes Drauflos-Quasseln in der lässigen YouTube-Sprechweise bzw. Social Medias Plattformen. Häufige Wiederholungen, teils Widersprüche, chaotisches Hin- und Her-Springen entlarven die ganze Summe der Entscheidungsflexibilität eines unschlüssigen jungen Mannes, der am Ende seiner eigenen Hilfswerk-Biografie zu einem allgemein hinreichend bekannten Fazit gelangt. Nämlich, dass sein süchtiger Spielkonsum nur eine Flucht vor der eigenen Leere gewesen sei.

Nie wieder Fake Shit

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Rinas ringt sich zum Einsichtsvorsatz durch: „… ich würde nie wieder fake shit machen, um etwas vorzuleben, das nichts mit mir und meinem Herzen zu tun hat.“ Und er hat Ratschläge parat: „Lass dich nicht von anderen abhalten, deine Träume zu verwirklichen. […] Das Leben wird noch hart genug, auch wenn wir nicht aufeinander rumhacken.“
Genusslesen war das nicht, weder inhaltlich noch sprachlich (z. B. „Ich kam nicht mehr auf mein Leben klar!“ – „Auf die Situation kam ich echt nicht klar.“) noch vom Erkenntnisgewinn her betrachtet. Abschreckend ist wohl der einzige positive Aspekt an diesem „Teil“ (Zitat Rinas), das ohne die mitschreibende Hilfe seines Bekannten Josip Radovic „niemals so cool“ geworden wäre.

An erster Stelle dankt er den Zuschauern und YouTube-Kollegen für ihre Treue. Nach Mitleid heischt er nicht, der Leser muss nicht in wehleidiges Mitklagen verfallen. Vielmehr darf er sich über die schnelle Vergesslichkeit der YouTube-Follower beim Neubeginn des Influencers wundern. Es ist frappierend, was da abging und worauf man leicht hereinfallen kann.
Kurzum: „Realtalk“ ist die öffentlich gemachte private Bekennerstory des Influencers Anton Rina aka ViscaBarca in 22 Kapiteln über einen ganz persönlichen Psychoterror als Gaming-Zocker mit Computerspielen in flapsigem YouTube-Speech. ♦

Anton Rinas „ViscaBarca“: Realtalk – Trug, Schein und Schulden / Mein Leben als Influencer, 272 Seiten, Community Editions, ISBN 978-3960961055

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Digitale Welt 2.0 auch das „Zitat der Woche“ von
Felix Stalder: Kultur der Digitalität

ausserdem zum Thema Sprachzerfall den Essay von
Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben.

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Musik-Kalender 2020 – „Beethoven und ich“

53 Bekenntnisse zu Beethoven

von Walter Eigenmann

Im kommenden Jahr 2020 begeht die Musikwelt einmal mehr ein Jubiläum der Superlative, nämlich das 250. Geburtsjahr von Ludwig van Beethoven. Die Musikforscher werden sich überschlagen mit neuen Analysen der Werke des „Titanen“, die Labels werden ihre alt-verstaubten Gesamtaufnahmen seiner Sonaten und Sinfonien aus ihren Vinyl-Gräbern schaufeln, die Mono- und Biographen zum x-sten Male die Entstehungsgeschichte von „Für Elise“ aufkochen, die Merchandise-Industrie ihre T-Shirts mit „Ode an die Freude“ oder „Eroica“ drauf in die Kleiderläden bugsieren, und es wunderte nicht, wenn auch die Film-Regisseure den einen oder anderen neuen Beethoven-Streifen ins Kino hievten.

Der Musik-Kalender 2020 - Beethoven und ich - Cover - Glarean MagazinKein Zweifel besteht jedenfalls darüber, dass die Konzertsäle bald weltweit überquellen werden vor lauter Beethoven. Denn für den Kult um solche ausholenden, extrem dominanten Jahrhundert-Genies wie Beethoven ist unsere 2.0-Welt wie geschaffen. Ob heutzutage derartige Jubiläen einer solch singulären Erscheinung wie Beethoven allerdings auch nur ansatzweise gerecht werden können, oder ob’s bei den üblichen pietätvollen Häppchen in den Social Medias bleibt, muss je am Einzelergebnis solcher „Erinnerungsarbeit“ festgemacht werden. Immerhin sind allenthalben regelrechte Monster-Zyklen angekündigt im Beethoven-Jahr 2020, wie beispielsweise bei der deutschen Beethoven-Jubiläums-GmbH (BTHVN 2020).

Zitaten-Schatz der Zeitgenossen

Eine Möglichkeit, zumindest skizzenhaft den Einfluss Beethovens seinerzeit und heute zu umreissen, ist jene, die der Verlag „Edition-Momente“ beschritt mit seinem neuen Musik-Kalender 2020 unter dem Titel „Beethoven und ich“, nämlich jene Leute zu Worte kommen zu lassen, die professionell und unvermittelt mit dem Menschen Beethoven und seinem Werk befasst waren oder sind: Seine (komponierenden oder interpretierenden) Zeitgenossen, seine heutigen Realisierenden in den Orchestern und Kammerensembles, kurzum jene Musik-Verständigen, die an ihm in den Konzertsälen, Plattenstudios und Bücherstuben unmöglich vorbeikamen und noch immer nicht vorbeikommen.

Hymnen und Erinnerungen im Wochentakt

Probeseite aus Musik-Kalender 2020 - Beethoven und ich - Edition Momente - Glarean Magazin
Probeseite aus dem „Musik-Kalender 2020“ mit einem Statement von Luigi Nono

Beginnend mit dem ersten Januar-Blatt und dem legendären Beethoven-Konzert, das der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli 1942 in Rom gab, bis hin zur letzten Dezember-Woche bzw. zum Zitat des Cellisten Pablo Casals, das Beethovens 9. Sinfonie als „Wunder“ verherrlicht, bindet der Kalender auf 53 Wochenblättern einen eindrucksvollen Strauss von Erinnerungen, Gesprächen, Bekenntnissen, Zitaten, Bildern, Fotos, Zeichnungen, Notizen und Anekdoten von Claudio Arrau und Leonard Bernstein oder Johannes Brahms über Sergiu Celibidache oder Clara Haskil bis hin zu Gustav Mahler, Gioacchino Rossini oder Günter Wand.

Ob Komponisten oder Dirigenten oder Instrumentalisten – sie alle zollen einem ganz grossen der menschlichen Kulturgeschichte ihren Respekt, und nicht immer ist endgültig klar, ob die Verehrung einem Künstler oder nicht doch eher einem Gott gilt… Womit wir wieder glücklich im Musik-Olymp und bei den Podesten gelandet sind, auf die solche Exemplarischen halt – erst recht aus so grosser Zeitdistanz – immer noch gerne gestellt werden.

Beeindruckendes Puzzle über einen Giganten

Ungeachtet aller Glorifizierung verdichtet diese facettenreiche Kalender-Sammlung aber durchaus zahlreiche Puzzle-Stücke zu einer eindrücklichen Gesamtschau, die sich dem Menschen Beethoven und seinem Werk unterhaltsam, reichhaltig, vielseitig, ja schillernd, und teilweise beeindruckend nähert.

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Der Kalender kommt layouterisch sehr ästhetisch daher, mit intelligent ausgewählten Bezügen, seien diese direkt-musikalischer oder „nur“ biographischer Natur, und mit sehr ansprechendem, teils unbekanntem Bild-Material. ausserdem fällt verdienstvoll ins Auge: Die 60-blättrige Anthologie versammelt nicht nur männliche Beethoven-Adepten, sondern auch zahlreiche Frauen mit ihren bedeutungsvollsten Beiträgen, musikalischen Bezügen, und ja: menschlichen Beziehungen über und zu Beethoven. Namentlich seien nur Fanny Hensel (Komponistin), Jenny Lind (Sopranistin) oder Myra Hess (Pianistin) hervorgehoben.

Informativer und ästhetischer Tour d’Horizon

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Ein jeder der Kalender-Tage 2020 ist über den je ganzseitigen Fokus hinaus mit den entspr. Geburts- bzw. Todeszahlen von hunderten weiterer Musik-Berühmtheiten aus vergangener und jüngster Zeit garniert.
Alles in allem ein Musik-Kalender, der weniger als hübscher Memory-Wandschmuck taugen will denn als ästhetischer und informativer Tour d’Horizon über einen Komponisten, der Musikgeschichte geschrieben hat wie kein zweiter – und seit 250 Jahren ausstrahlt bis in unsere Tage hinein. ♦

Edition Momente: Der Musik-Kalender 2020 – Beethoven und ich, 60 Blätter, ISBN 978-3-0360-3020-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema auch über
Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien

… sowie als grafische Ehrerbietung den neuen künstlerischen Scherenschnitt von Simone Frieling: Ludwig van Beethoven

Weitere Beiträge über Beethoven im Internet:

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Lothar Becker: Das Erzgebirge, die Stasi und ich (Satire)

Das Erzgebirge, der Wald, die Stasi und ich

Lothar Becker

Ich war ein Idiot. Und was für einer! Im Oktober 89 habe ich angefangen, für die Stasi zu arbeiten. Im Oktober 89. Wie kann man nur so blöd sein, werdet ihr fragen. Im Oktober 89 ist doch mit der DDR schon alles vorbei gewesen. Ich weiss, ich weiss. Rückblickend bin ich ja derselben Ansicht.
Aber ich schwöre, damals habe ich nichts geahnt. Wirklich. Ich dachte, das geht immer so weiter mit der Zone und mit den Ostmächten und mit den Westmächten und mit dem Eisernen Vorhang und alledem. Die Betonköpfe sind nicht reformierbar, habe ich gedacht. Die kleben an ihrer Macht. An den Verhältnissen wird sich in den nächsten fünfhundert Jahren nichts ändern. Warum ich das gedacht habe, weiss ich bis heute nicht. Vielleicht habe ich mich etwas zu oft im Wald aufgehalten und deswegen das eine oder andere nicht mitbekommen.
Ich bin eben ein Erzgebirgler wie er im Buche steht. Naturverbunden, heimatliebend. Im Wald war die DDR noch stabil. Da war es wie immer. Im Wald gab es keine politischen Eruptionen. Im Wald gab es keinen Gorbatschow und kein Neues Forum. Manchmal kam einer vorbei, der sah aus wie Rainer Eppelmann. Aber er war es dann doch nicht. Ich muss sagen, im Wald habe ich mich nicht eingesperrt gefühlt.
Aber sonst immer. Eingesperrt und beobachtet. Und belauscht. Vor allem belauscht. Weil ich Musik gemacht habe, Songs geschrieben und so. Protestsongs. In erzgebirgischem Dialekt. Denn ich wollte Freiheit, die Umwälzung, den Kapitalismus. Natürlich, was denn sonst. Das wollten ja alle damals. Aber ich hatte keine Ahnung, dass im Oktober 89 politisch schon einiges im Gange gewesen ist. Die Perestroika hatte ich irgendwie verpasst. Im Wald sind die Verhältnisse wie all die Jahre davor gewesen, und ich habe mit meinen Liedern gegen diese Waldverhältnisse angekämpft. Auf erzgebirgisch. Ich war ein Mundart-Dissident.

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Aber warum bist du dann zum Stasi gegangen, werdet ihr fragen? Das ist kompliziert. So kompliziert wie alles damals. Ich will versuchen, es euch zu erklären. Damals musste man um die Ecke denken, wenn man die Machthaber austricksen wollte, man musste für etwas sein, wenn man gegen es sein wollte, und umgekehrt musste man gegen etwas sein, wenn man dafür sein wollte. Versteht ihr? Also wenn man so tat, als wäre man für die bestehenden Verhältnisse, konnte man leichter gegen sie sein, und genau das habe ich gemacht.
Im Klartext: Zur Stasi bin ich gegangen, weil ich in den Westen wollte. Natürlich nur zu Besuch. Mit einem Visum. Ich wollte auf jeden Fall wieder zurückkommen. Ohne mein Erzgebirge wäre ich ja zu Grunde gegangen. Trotzdem musste ich mal rüber. Aus künstlerischen Gründen. Ich hatte von Gundermann gehört, der aus demselben Grund mit der Stasi zusammengearbeitet hatte. Gerhard Gundermann, der singende Baggerfahrer. Gundermann wollte im Westen auftreten und berühmt werden. Das wollte ich auch. Im Westen konnte man Karriere machen. Wer es im Westen schaffte, war der Held. Und der wäre ich gern gewesen.
Also habe ich mich in Annaberg als IM bei der Stasi beworben. Mein Führungsoffizier hiess Ralf und trug zwei Parteiabzeichen, um seine unverbrüchliche Treue zum Arbeiter- und Bauernstaat zu zeigen. „Ich zahle auch zwei Mal die Mitgliedsbeiträge“, sagte er, „die Partei ist mein Ein und Alles.“ Ralfs Deckname war Rolf. Ich musste ihn Rolf nennen, damit seine Identität nicht aufflog.
„Warum willst du innoffizieller Informant werden?“, fragte Rolf.
„Wegen Dings, na hier Sieg des Sozialismus und so“, sagte ich.
„Dufte“, sagte Rolf, „und wie willst uns helfen?“
„Als Spitzel“, sagte ich, „indem ich den Klassenfeind denunziere!“
„Jemand bestimmtes?“, erkundigte sich Rolf.
„Nee, generell“, sagte ich.
„Namen“, sagte Rolf, „wir brauchen Namen.“
„Hm“, sagte ich und überlegte. Ich kannte nur Sven. Sven hatte zusammen mit Vojtech, einem Bekannten aus Teplice begonnen, T-Shirts aus sudanesischen Textilabfällen herzustellen. Weitere Stoffreste erhielten sie vom afghanischen Militär und einer albanischen Fabrik für protestantische Herrenunterwäsche. Sven und Vojtech schrieben „Schwerter zu Pflugscharen“ oder „Lieber tot als rot“ auf die Stoffe, und drei tschechische Näherinnen sassen Tag und Nacht an ihren Nähmaschinen, denn die Nachfrage nach T-Shirts war in Ostdeutschland überwältigend. Sven und Voijtech befanden sich auf dem besten Weg, mit ihren Produkten reich zu werden. Dass sie damit der Volkswirtschaft und dem Ansehen der Republik und allem schadeten, war ihnen egal.

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Zufälligerweise wusste ich, dass Sven am 28. Oktober eine neue Lieferung über den Grenzübergang Oberwiesenthal geplant hatte. Ich wusste es deswegen, weil ich mir bei ihm ein T-Shirt mit der Aufschrift „Stasi in den Tagebau“ bestellt hatte, und es noch am selben Abend in Crottendorf abholen wollte.
Rolf freute sich. „Dafür stellen wir einige Genossen ab!“, bestimmte er, „wenn die Sache funktioniert, dann können wir auch was für dich tun!“ Na, das lief doch prima!
Tatsächlich hatte sich Sven dann am 28. Oktober mit seinen drei Näherinnen, Olga, Larissa und Jana in einem bis unter die Decke mit T-Shirts vollgepackten Tatra von Teplice zum Grenzübergang Oberwiesenthal auf den Weg gemacht. Nun weiss ich nicht, wer von euch schon einen Tatra gesehen hat, aber allen, die das Fahrzeug nicht kennen, kann ich versichern, es war der schwerste PKW seiner Zeit. Ein russisches Produkt, das gemacht wurde, um sich durch den sibirischen Schnee zu fräsen, und nebenher alles von der Fahrbahn zu schleudern, was dort nicht hingehörte: kraftstrotzende Wildrinder, Elche oder Bären zum Beispiel, wirklich alles.
Dummerweise war Sven während des steilen Anstieges zum Zollgebäude der Sprit ausgegangen. Das mag am zusätzlichen Gewicht der viertausend, ins Wageninnere gepressten T-Shirts gelegen haben, aber auch an Olga, die nicht ganz so dürr wie Larissa und Jana gewesen ist. „Scheisse!“, hatte Sven gerufen, „Olga, Larissa, Jana! Aussteigen und schieben!“ Olga, Larissa und Jana stiegen aus und begannen, den Skoda die steil ansteigende Strasse von Bozi Dar zum Grenzübergang nach oben zu schieben. Sven sass hinter dem Steuer und lenkte, und nur, wenn Larissa, Olga und Jana zu schnell waren, bremste er ein wenig.
Die Zollbeamten kriegten sich kaum ein vor Lachen, als Olga, Larissa und Jana das Auto vor ihnen abstellten, aber dann winkten sie Sven zur Seite, und nahmen den Wagen gründlich auseinander. „Zoll?“, fragte einer der tschechischen Beamten.
„Nix Zoll!“, erboste sich Sven, „Eigenbedarf. Das ziehe ich alles selber an!“
„Ha, ha!“, sagten die Zollbeamten und konfiszierten den gesamten Wageninhalt. Dann sperrten sie Sven, Larissa, Olga und Jana zwei Stunden lang ein, telefonierten mit ihren Vorgesetzten und liessen sie schliesslich wieder gehen. Ohne die T-Shirts versteht sich. Da schüttelte Sven resigniert den Kopf, setzte sich hinters Steuer und liess sich von Olga, Larissa und Jana zurück nach Teplice schieben.

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Unten in Crottendorf warteten ich und die anderen Genossen der Stasi bis zum Morgengrauen auf Sven und die T-Shirts, aber als abzusehen war, dass er nicht mehr auftauchen würde, blies Rolf den Einsatz ab. „Na, das war ja wohl nichts!“, konstatierte er, „ich hoffe, wir haben keinen Verräter in unseren Reihen!“ Damit war ich gemeint. Da habe ich „Ach, so ist das!“ gerufen, und bin gegangen. Wenn eine Tür da gewesen wäre, hätte ich sie zugeknallt. War aber nicht.
Ein paar Wochen später fiel die Mauer. Nach der Wende interessierte sich kein Mensch mehr für singende Mundart-Dissidenten. Weder im Osten noch im Westen. Fragt Gundermann! Wie so viele andere auch musste ich mich im Arbeitsamt in Annaberg melden. Und nun stellt euch einmal vor, wer mir da als Sachbearbeiter gegenübersass: Es war Rolf!
„Mensch Rolf!“, rief ich, „das ist ja vielleicht eine Überraschung!“
„Tut mir leid, hier gibt es keinen Rolf!“, sagte Rolf, „ich heisse Ralf!“
„Alles klar, Ralf!“, sagte ich, „ich brauche einen Job, hörst du?“
„Schwierig, schwierig“, murmelte Rolf, „mit deiner Vergangenheit! Du warst doch bei der Stasi, oder?“
„Andere doch auch!“, sagte ich.
„So? Wer denn?“, ereiferte sich Rolf.
„Das weisst du doch ganz genau!“, sagte ich.
„Ich?“, brüllte Rolf, „Ich soll was wissen? Das ist doch wohl die Höhe! Mein ganzes Leben lang habe ich gegen das Regime gekämpft, niemand war aktiver im Untergrund als ich! Das fehlte noch, dass ich von einem Stasi-Spitzel als Stasi-Spitzel denunziert werde! Ausgerechnet ich, eine Säule des Widerstandes. Und ich soll dir einen Job versorgen? Das kannst du ein für alle Mal vergessen. Und jetzt raus hier, aber dalli!“
Da habe ich mich wortlos umgedreht, die Tür hinter mir zugeschlagen, und bin wieder in den Wald gegangen. Im Wald waren die Verhältnisse wie immer. Im Wald war es noch wie im Osten. Manchmal kam einer vorbei, der sah aus wie Ibrahim Böhme. Aber er war es dann doch nicht. ♦


Lothar Becker - Schriftsteller Publizist - Glarean MagazinLothar Becker

Geb. 1959 in Limbach-Oberfrohna/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Veröffentlichungen von Musical- und Theater-Stücken, lebt als Jugend-Sozialpädagoge, Musical-Komponist und Band-Musiker in Lembach/D

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema DDR-Mauerfall auch über den Roman von
Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel: Frei

ausserdem zum Thema Politik und Gesellschaft eine weitere Satire von
Lothar Becker: Hitler in der U-Bahn

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Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)

„Ein Leben, schlimmer als der Tod“

von Isabelle Klein

Es wird eng für Harry Hole, den berühmten Hauptkommisar des norwegischen Kult-Krimi-Autors Jo Nesbo, ganz eng – in seinem Fall Nummer 12: „Messer“.
Das Dutzend ist also voll, und es muss (so das Gesetz der Serie, vgl. unten) ein Paukenschlag her. Für den, der (wie ich) getrost den Klappentext hat Klappentext sein lassen und sich völlig blank ins Lese-Schmankerl gestürzt hat, bietet dieser 12. Band eine völlig unerwartete Entwicklung im Harry-Hole-Universum, die für künftige Bände einiges erahnen lässt.

Jo Nesbo - Messer - Ullstein Verlag Cover - Krimi-Literatur-RezensionenRakel ist tot. Ermordet, brutal erstochen. Diese Hiobsbotschaft ereilt Harry am absoluten Tiefpunkt seines wechselhaften Lebens: Job an der Hochschule weg, Frau weg (sie hatte ihm Monate vorher die Koffer vor die Tür gestellt).
Klar, was Harry macht – das, was er nach Serienmörder fangen am besten kann: Saufen (sorry, aber jedes andere Wort wäre unzutreffend).
Seinen Alkoholkonsum finanziert er mit einer einfachen Polizistentätigkeit, als Partner von Truls Berntsen; Selbst für Alkohol ist nicht genügend Geld da. Trost findet er bei der Forensikerin Alexandra und später auch bei der uns bekannten Kaja Solness, die hier mal wieder kurz in der Heimat weilt. Harry beschliesst also, sich erst mal mit seinem Freund Alkohol zu betäuben, so dass Schmerz und Leere ausgeblendet werden – der Rausch als Hilfsmittel.

„Harry fucking Hole“

Erste Verdächtige zeigen sich am Horizont, Harry ermittelt! Haben Gesetz und Ordnung Harry schon jemals von etwas abgehalten? Zusammen mit Kaja, Alexandra und Bjorn nimmt er den Kampf gegen den Mörder der geliebten Frau auf. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

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Und getreu dem Motto ist „Harry fucking Hole, oder der ‚demolition man'“ (S. 49). In diesem 12. Harry-Hole-Fall bleibt nichts dem Zufall überlassen, alles ist perfekt inszeniert, manchmal vielleicht sogar ein klein wenig überkonstruiert. Harry durchlebt Leiden epischen Ausmasses, die Auflösung kommt einer griechischen Tragödie gleich.
Uns bleibt aber auch nichts erspart, mag der eine denken, oder: JN zieht zwar weite Kreise, aber einmal mehr ist ihm ein geniales Werk des Harry-Hole-Zyklus gelungen, in dem er uns, wie eigentlich in jedem Werk seit „Koma“, atemlos im Ungewissen lässt. Zumindest ist diesmal eines sicher: Harry lebt…

Billy Wilder (Drehbuchautor für viele exzellente Screwballs der 30er und 40er Jahre) sagte einmal ungefähr, dass die Kunst darin bestehe, die Zuschauer glauben zu lassen, dass er einen Wissensvorsprung habe, was jedoch durch die Autoren intendiert ist und eben durch unvorhergesehene twists and turns wieder genommen wird. Selbiges betreibt Nesbø. Er nimmt Anlauf, obwohl er uns durch die durchzechte Nacht, Blackouts, blutige Kleidung und ein verstecktes Messer usw. Böses erahnen lässt, und zieht einen weiten Bogen, bis er zum allesklärenden Ausgangspunkt zurückkehrt.

Grausame Realität des Lebens

So stellt sich Harry, zumindest vorläufig, der grausamen Realität eines Lebens ohne Rakel. Wer anders könnte es sein als seine Nemesis, der der Autor in „Durst“ viel Raum gewidmet hat.
Svein Finne, der Rache an dem Tod seines Nachkommens nehmen will: Wie könnte er Harry besser treffen, als ihm das Wertvollste zu nehmen? Doch als der Serienvergewaltiger ein Alibi hat, wird es eng, und Harrys Augenmerk richtet sich auf den undurschaubaren Chef Rakels, Roar Bohr, ein posttraumatisch belastungsgestörter Kriegsveteran.

Jo Nesbo - Krimi-Autor von Harry Hole - Filmszene Der Leopard - Glarean Magazin.png
„Smarter killt keiner“ – Film-Szene aus „Der Leopard“ von Jo Nesbo

Hat er ein Motiv? Durch ihn und Kaja teilt Nesbø die Schrecken der Afghanistan-Einsätze. Und schliesslich – es scheint, als wären auch hier aller guten Dinge drei – materialisiert sich ein weiterer Verdächtiger: Harrys Nachfolger als Kneipenbesitzer.

Die Themen sind breit gefächert, und wie so oft heissen sie Abhängigkeit, Gewalt, Krieg, Suff, Untreue. Gemeinhin die Fehler der Vergangenheit, die einen bzw. einen jeden in diesem Buch, der Schuld auf sich geladen hat, einholen.

Entwicklung in weiten Kreisen

Der Aufbau ist ausufernd, falsche Fährten und Nebenschauplätze nehmen viel Raum ein. Man mag bemängeln, dass dies alles im Endeffekt zu künstlich sei, dass der rote Faden fehle. Als (mittlerweile) grosser Hole-Fan kann ich dies durchaus verstehen. Trotzdem: Genau das ist die nesbøsche Kunst und zeichnet das hohe Niveau der Serie auch nach 12 Teilen aus. Er versteht es, den Leser bei der Stange zu halten. Genau das beherrschen viele Autoren nicht…
Und letztlich fügt alles sich durchaus harmonisch zusammen – das fasziniert und macht betroffen zugleich. Nesbø ist einfach die Drama-Queen der aktuellen Thrillerwelt, er wirft die Angel aus, und schon wird eine Entwicklung in Gang gesetzt, die weite Kreise zieht, auch wenn sie mitunter übers Ziel hinausschiesst. Das macht in sich Sinn und generiert den ganz besonderen Reiz des HH-Kosmos‘.

Zu gewaltverherrlichend, zu sexlastig?

Jo Nesbo - Schriftsteller - Krimi-Autor von Harry Hole - Glarean Magazin
Krimi-Bestseller-Autor und Harry Hole-Erfinder Jo Nesbo (geb. 1960)

Die Kritik liegt sicherlich im Detail: Zu gewaltverherrlichend, zu sexlastig. Wie kann Harry, gleich Inspektor Lynley, so kurz nach Rakels Tod bzw. der Trennung in fremde Betten hüpfen? Wie kann Harry sich gottgleich aufschwingen, dabei jedes Rechtsempfinden hinter sich lassen? Oder auch: zu ausschweifend (Schilderung der Gräuel der Blauhelmeinsätze) – usw. All das mag durchaus seine Berechtigung haben, und doch empfinde ich „Messer“ keineswegs als Reinfall, sondern als ausgemachtes Meisterwerk.
Betrachtet man allein die mögliche Entwicklung Harry Holes für die folgenden Fälle (die es dann doch hoffentlich geben wird), hat man ungeahnte Optionen. Denn Harry ist eine Schlange, die sich häutet. Er lässt sich nicht in Kategorien einteilen, er ist schillernd und unberechenbar und dadurch doch fast wieder berechenbar. Und sind wir mal ehrlich: Nordische Krimis waren schon immer „mehr von allem“: Mehr von detaillierter Gewalt, von häufigem und beiläufigem Sex, ausufernd in Länge und Motivationslagen – das wissen wir spätestens seit Stieg Larsson und Adler Olsen, um nur mal zwei zu nennen.

Regeneration einer ganzen Roman-Serie

FAZIT: Der neueste Krimi von Jo Nesbø: Messer ist ein grosser Wurf und dürfte die Geschicke des Nesbo-Protagonisten Harry Hole in ganz neue Gefilde lenken. In diesem 12. Band passiert die spannende Regeneration einer ganzen kultigen Roman-Serie. Empfehlung!

Meines Erachtens ist Rakels Tod ein Befreiungsschlag. Bereits vor vielen Jahren hat Patricia Cornwell ihrer Scarpetta etwas Ähnliches angetan (und Benton dann doch wieder auferstehen lassen). Elizabeth George war da konsequenter und fast noch tragischer, denn sie liess die hochschwangere Gattin Lynleys vor dessen Augen Opfer eines sinnlosen Anschlags werden.
Serien müssen sich, zumindest nach einer gewissen Laufdauer, regenerieren. Was ist dazu einfacher, als das Leben des Helden von Grund auf zu erschüttern? Während die anderen den Fehler begangen haben, diese Chance nicht für ihre Figuren und Geschichten zu nutzen – beispielsweise sind die Autoren George und Cornwell für mich inzwischen leider unlesbar geworden -, bin ich mir recht sicher, dass Nesbø die Chance nutzen wird und wie Phoenix aus der Asche ersteht. Die Karten stehen gut, denn der Polizist, der Profiler, sie sind erst mal passé, der Vater und ..?. werden dem weiteren Verlauf mitunter eine völlig andere Wendung geben. Ein besserer, ein wie Phoenix der Asche entsteigender Harry Hole ist zu erwarten.

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Eines bleibt sicher: „Messer“ ist ein Buch, das polarisiert. Sollten Sie Neueinsteiger im HH-Universum sein, vielleicht gerade erst einen oder zwei der HH-Krimis gelesen haben, sollten Sie es sich gut überlegen. Aber für den, der offen ist für Entwicklungen und den nordischen Krimi mit Raum für Anderes zu schätzen weiss: Kaufen, lesen geniessen. Nesbø ist so gut wie eh und je, für mein Empfinden sogar noch besser. Einfach eine Klasse für sich.

Eine Erkenntnis, die ich aus dieser äusserst anregenden Linie für mich persönlich mitnehme: Jeder, tatsächlich jeder kann plötzlich eine rote Linie überschreiten. Ein Thriller der Extraklasse, der die Harry-Hole-Reihe vollkommen neu justiert. Eine glatte 10 von 10. ♦

Jo Nesbø: Messer (Harry Hole Krimi Bd. 12), Rowohlt Verlag, 574 Seiten, ISBN 9783550081736

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Moderne Romane auch über
Roland Herr: Fucking Friends

… sowie über den Thriller von
Claudia Praxmeier: Bienkönigin

 

Peter Biro: Die Liebe zu den drei Organen (Satire)

Die Liebe zu den drei Organen

oder

Wie es Herz-Terz, Leber-Kleber und Milz-Pilz im Spital erging

Peter Biro

Sorgfältig tupfte Schwester Thekla die hohe Denkerstirn des unermüdlich im Dauereinsatz stehenden Chirurgen Dr. Sweren-Nöthen, der diese komplexe, dreifache Organtransplantation auf sich genommen hatte, obwohl ihm alle davon abzuraten versucht hatten – vergebens natürlich.
„Das kann nicht gutgehen, Wilhelm“, hatte ihm tags zuvor seine treue Ehefrau, Dr. Elfriede Nöthen, die Sache auszureden versucht, ihrerseits als erfahrene Proktologin mit den operativen Schwierigkeiten einer Trippel-Transplantation vertraut. Sie wusste nur zu gut, was damit für ihren Mann auf dem Spiel stand. Aber sie kannte ihn zur Genüge um zu wissen, dass sie ihn nicht aufhalten konnte, wenn er schon mal einen derart schwerwiegenden Entschluss gefasst hatte. Wenn es jemanden gab, der das Ungemachte machen, das Ungewagte wagen und das Ungeheuerliche geheuern würde, dann käme nur einer dafür in Frage: ihr couragierter Gatte, der bewunderte und umstrittene, neue Starchirurg des Universitätsspitals Zürich.
„Tun Sie es lieber nicht“, waren die letzten Worte seines Chefs, des Professors Prokofiew, bevor dieser in seinen improvisierten Karibikurlaub aufbrach, nachdem er davon erfahren hatte, dass ein besonders risikoreicher Eingriff geplant war. Er wollte lieber nicht zugegen sein, wenn das Vorhaben nicht gut ausging, und erst recht nicht, wenn die Presse über den gescheiterten Mitarbeiter seiner blamierten Abteilung herfallen und die riskante Aktion in Frage stellen würde.

An jenem schicksalhaften Tag, als Dr. med. Dr. h.c. Wilhelm Sweren-Nöthen die einsame Entscheidung traf, den noch nie durchgeführten Eingriff der gleichzeitigen, dreifachen Organtransplantation, nämlich von Herz, Leber und Milz in einer voraussichtlich 33-stündigen Operation am offenen Fenster des Operationssaals Nr. 3 durchzuführen, war das Entsetzen in seinem Umkreis riesengross. Seine Sekretärin und heimliche Geliebte, Fräulein Kniebel, von deren Doppelrolle alle ausser Elfriede Bescheid wussten, flehte ihn buchstäblich auf Knien an, es nicht zu tun.
„Du gehst ein zu grosses Wagnis ein, Willi“, sagte sie eindringlich, nachdem sie sich aus seiner kräftigen Umarmung gelöst hatte. „Nach deinem Rauswurf aus der Schwarzwaldklinik riskierst du nun dasselbe hier nochmal“, jammerte das „kecke Knieblein“, wie er sie manchmal zärtlich nannte.
Sie bestürmte ihn mit nicht nachlassendem Eifer: „Bedenke nur, mein Liebster, wenn es zu einer fatalen Transplantatabstossung kommt und dich das Unispital in Schande entlässt, dann kannst du deine Karriere endgültig begraben. Und unsere sorgfältig geplante Kongressreise zu zweit im Nachtzug nach Buxtehude können wir auch vergessen“.

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Willi wollte auf die kritischen Stimmen nicht hören, weder auf die seiner Frau, noch auf die seiner Geliebten, die beide in dieser Sache ausnahmsweise der gleichen Meinung waren. Er fühlte einen starken inneren Drang, die Grenzen der Schulmedizin eigenhändig zu sprengen und das bis dahin Ungewagte zu wagen: Die drei durch Alkohol, Zigarettenrauch und Nougatcréme schwer geschädigten Organe zu ersetzen, welche dem Leben des Patienten W.J. aus Z. bald ein Ende setzen würden, wenn nichts Radikales unternommen wird.
Nein, Dr. Sweren-Nöthen konnte gar nicht anders. Er glaubte an die schicksalhafte Fügung, die sich durch einen Zufall ergeben hatte: Auf der einen Seite ein Patient, der an der unheilbaren „Schwedischen Papageiengrippe“ erkrankt war, und andererseits die zeitgleiche Einlieferung von drei hirntoten Bergwanderern, die viel zu eng angeseilt, gemeinsam in eine Gletscherspalte gestürzt waren und ausgerechnet die passenden Organe vorrätig hatten. Obendrein bewahrte die Kälte des Gletschereises die Spenderorgane in bestem Zustand. Das alles war auf einmal da – und Sweren-Nöthen war am richtigen Ort zur richtigen Zeit, um es zum ersten Mal zu versuchen. Er musste diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen und die bis dahin als undurchführbar geltende Trippel-Transplantation wagen.

„Wenn das kein Wink des Himmels war?“, räsonierte Schwester Thekla, während sie dem konzentriert arbeitenden Chirurgen folgsam die bestellten Instrumente vorbereitete. Normalerweise pflegte sie an der Seite des Starchirurgen einen eher harmlosen Smalltalk zu führen und immer wieder drauflos zu plappern. Diesmal war ihm jedoch überhaupt nicht nach den üblichen Wortwechseln über Ferienreisen, Sonderangebote und dem obligaten Kliniktratsch zumute. Zu sehr war er in seine Gedanken vertieft, die unentwegt um seine innig geliebten drei Organe kreisten. Drei offene Körperhöhlen gleichzeitig bedeuteten drei voneinander unabhängige Risiken, die sich gegenseitig verstärkten. Konnte das gutgehen?
Er ballte seine behandschuhten Hände zu blutleeren, weissen Fäusten und richtete die alles entscheidenden Worte an seine treue Instrumentierschwester und frühere Gespielin aus den alten Schwarzwälder Zeiten (noch lange vor dem kecken Knieblein):
„Sind Sie parat, Schwester Thekla, können wir den Instrumentencheck durchführen?“, wobei er sorgfältig darauf achtete, die früher so nah vertraute Mitarbeiterin zu siezen, wenn andere zuhören konnten.
„Jawoll, mein Doktor. Alles ist vorbereitet“, versicherte die Angesprochene mit einem leichten Anflug von vorgetäuschter Sicherheit in der Stimme.
„Na dann wollen wir mal“, legte er los und begann mit der standardisierten Aufzählung der essenziellen Instrumente, die für den Aus- und Einbau der drei Organe erforderlich waren:
„Sind Herz-Terz, Leber-Kleber und Milz-Pilz einsatzbereit, geladen und geschmiert?“, fragte er, ohne aus den hallenden Tiefen des offenen Brustkorbs von W.J. aus Z. aufzublicken. Thekla beeilte sich, ihm die Bereitstellung des Gewünschten zu versichern, wobei ebenfalls kleine Schweissperlen auf ihrer ähnlich hohen Stirn auftauchten. Nur war niemand da, die ihren abzutupfen.
Er begann die Punkte der Checkliste einzeln durchzunehmen: „Die Herz-Terz?“
„Herz-Terz – randvoll gefüllt und im Trilobit-Retraktor mit je drei Gefässklammern geladen. Die Klapunzelspalte ist offen und schliesst reibungslos“ verkündete sie mit einem gewissen Übereifer.
„Leber-Kleber?“
„Leber-Kleber steht parat. Drei Patronen sind prall gefüllt und die Zähigkeit des Materials ist auf den aktuellen Barometerdruck und die Luftfeuchtigkeit abgestimmt. Wir haben 313 Öchslegrade im Reservoir“, beeilte sie sich zu versichern.
„In Ordnung“, brummte Sweren-Nöthen zufrieden, „und als Letztes der neuartige Milz-Pilz?“
„Nagelneuer Milz-Pilz ist soeben aus Karlsruhe eingetroffen und frisch aus der Packung entnommen. Die Repunzierschraube wurde bereits herstellerseits auf Null gestellt und erlaubt Auswuchtung in alle drei Ebenen. Sie können jederzeit anfangen“, schloss Schwester Thekla den Check erleichtert ab.

Sweren-Nöthens Gesichtszüge entspannten sich ein wenig, und er begann mit der Auswuchtung des kaum noch sichtbar schlagenden Herzens. Es war nun wirklich höchste Zeit.
„Tupfer!“, raunte er ihr nach einer Weile zu, während er eine spritzende Blutung mit seiner Nasenspitze abdrückte. „Noch einen Tupfer“, näselte er diesmal lauter, „und schnell noch einen, bitte, Schwester Thekla, drei Stück wie immer wenn’s kritisch wird, Heiligedreieinigkeit!“, erschallte es diesmal etwas energischer und gereizter als sonst. „Wenn’s spritzt, müssen’s immer drei sein. Das wissen Sie doch!“ In solchen Fällen konnte es ihm nicht rasch genug gehen. Seine beiden Operationsassistenten erwarteten nun weitere Wutausbrüche.
„Herr Truffaldino, den Rippenspreizer mehr anspannen – bitte!“, schnauzte er seinen ersten Assistenten an, während der zweite, der italienische Gastarzt Dr. Farfarello unaufgefordert den Leberhaken kräftig zu sich zog. Ein kurzer, dankbarer Blick seitens Dr. Sweren-Nöthers bestätigte dem besorgten Neapolitaner die Richtigkeit seiner Massnahme.
„Und jetzt bitte den Milz-Pilz, mit entsicherter Repunzierschraube“, schleuderte er seiner Instrumentalistin entgegen, die verzweifelt den geforderten Zusatzteil in ihrem Sterilisiersieb suchte. Unter lautem Geschirrgeklapper fand sie schliesslich das Gesuchte und reichte es erleichtert dem ungeduldig seine drei Finger spreizenden Operateur.

Wieso drei Finger, mag man sich fragen? Nun, hier ein kleiner Abstecher in die Vergangenheit: Sweren-Nöthen hatte den Daumen und den kleinen Finger seiner rechten Hand eingebüsst, als er als junger Assistenzarzt in der Orthopädie arbeitete und einen kleinen Unfall mit einer dreitaktigen Knochensäge hatte (er hatte irrtümlich nur zwei Takte angenommen). Damals dachten er und seine Frau, dass seine Chirurgenkarriere damit abrupt enden müsste. Aber es kam anders; mit nur drei verbliebenen Fingern der rechten Hand erwies sich der noch junge Assistenzchirurg als allen anderen Kollegen überlegen. Mit der viel schmäleren Hand konnte er weiter und tiefer in die hintersten der verwinkelten Körperhöhlen der leidenden Menschen vordringen und dort wahre medizinische Wunder vollbringen. Weit besser als jeder andere seiner zahlreichen Konkurrenten – mit intakten Händen.

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„Das muss Dir mal einer nachmachen“, sagte damals Elfriede zu ihm, nachdem er bereits bei seinem ersten Versuch drei eingeklemmte Gallensteine aus einem übergewichtigen Metzgermeister herausgeholt hatte. Durch dessen Schlund wohlgemerkt, ohne diesen aufschneiden zu müssen. Denn aufgeschnittene Metzgermeister heilen bekanntlich sehr schlecht. Jene operative grosstat begründete seinen legendären Ruf als Ausnahmechirurg, welcher schlussendlich zu seiner Berufung nach Zürich geführt hatte. Dort pflegte man nämlich nur die Besten der Besten anzustellen.
Doch in der Limmatstadt musste er sich zunächst bewähren, so wie das von allen neu eingestellten, deutschen Ärzten erwartet wird. Erst musste Sweren-Nöthen für drei Monate Fettschürzen straffen und Hämorrhoidalknoten entwirren, bevor er an die drei wichtigsten Organe herangelassen wurde: An Milz, Leber und (als Königsdisziplin) ans Herz. Doch er meisterte alle Hürden mit Umsicht und Bravour, er bestand alle Prüfungen, die ihm auferlegt wurden, und auch das obligate Begrüssungs-Mobbing durch die einheimischen Kollegen konnte ihm nichts anhaben.
Denn er kannte sich mit den drei Organen weit besser aus als alle anderen, einschliesslich seines Chefs, des feisten Professors Prokofiew, der ihm absichtlich die schwierigsten Fälle zuschob. Zuerst liess er ihn die komplexesten Milzoperationen durchführen und die Handhabung des neuartigen Milz-Pilzes studieren. Dann musste er sich mit den schwierigsten Lebereingriffen auseinandersetzen. Doch auch das bewältigte er mit Erfolg, nachdem er die Tücken des Leber-Klebers beherrschen gelernt hatte.
Nur mit der Herz-Terz konnte er sich lange nicht anfreunden. Das kleine, dreiteilige Gerät zur elektromechanischen Entkopplung des Reizleitungssystems liess sich von ihm nicht gleich gefügig machen. Aber mit seiner dreimalig geschickten, dreifingrigen Hand schaffte er es dann doch. Und zwar mit einem Trick, den er sich bei der Hämorrhoidalentwirrung zugelegt hatte: er steckte dabei den Ringfinger in die offene, linke Herzkammer, den Zeigefinger in die Klapunzelspalte, so dass er die Herz-Terz mit dem verbleibenden Mittelfinger elegant in die Perikardhöhle vorwärts bugsieren konnte. Mit diesem Manöver erwarb er sich sehr schnell den Ruf, einer der besten Herzchirurgen zu sein.

„Kein Zweifel, mein lieber Doktor…“, raunte ihm Schwester Thekla zu, während sie mit einer Tridentklemme die Klapunzelspalte aufdehnte, um seinem Mittelfinger Platz zu machen, „kein Zweifel, dass Sie einer der besten Milz-, Leber- und Herzchirurgen nördlich der Alpen bis zum Dreiländereck bei Basel sind. Aber alle drei Organe auf einmal transplantieren, das ist wirklich gewagt. Wenn das mal nur gut geht…“.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Instrumentierschwester Thekla“, erwiderte er süffisant, „meine Liebe zu den drei Organen lässt mich jede Schwierigkeit überwinden. Das beflügelt mich nicht nur, das führt meine schlanke, dreifingrige Hand sicher zum Erfolg. Nur dürfen die Spenderorgane nicht zu früh warm werden, zu viel Sauerstoff verbrauchen und sich dadurch vor der Implantation erschöpfen“.
„Und was ist mit Prokofiew?“, warf sie besorgt ein.
„Was soll schon sein? Wenn er aus der Karibik zurückkommt und die Spitalleitung die Medien zur Pressekonferenz lädt, dann wird er gerne wieder dabei sein, um seinen Anteil am Erfolg einzuheimsen. Das war immer schon so: bei Gefahr abtauchen, bei Erfolgsmeldungen nach vorne drängeln“.

Der Gastarzt Dr. Farfarello nutzte während der Transplantatpräparation die etwas entspanntere Atmosphäre, um eine wichtige Frage an sein Vorbild zu richten:
„Dottore Sweren, wie können Sie so sicher sein, dass diese dreifache Organtransplantation gelingen wird, wenn sie sonst noch nirgendwo, von niemandem erfolgreich durchgeführt wurde?“
„Sehen Sie, Luigi“, antwortete der Angefragte selbstsicher, „alles muss ein erstes Mal versucht werden, und jetzt hat sich die einmalige Chance ergeben, dass ich es bin, der diesen ersten Schritt wagt“.
„Aber wird es nicht eine sehr heftige, kaum beherrschbare Abstossungsreaktion geben? Immerhin bei drei eingepflanzten Fremdorganen?“, wandte der vordem gerüffelte und deshalb bis dahin betreten schweigende Dr. Truffaldino ein.
„Auf diese Frage habe ich gewartet, mein lieber Kollege“, erwiderte der selbstsichere Starchirurg, „auch dieses Problem ist lösbar. Ich werde nicht nur drei gesunde Transplantate einsetzen. Der Trick dabei ist, dass ich auch deren Positionierung vertauschen werde.“
Alle Anwesenden, einschliesslich der bis dahin sich unauffällig im Hintergrund haltenden Anästhesistin, Dr. Fatima Morgana, spitzten die Ohren ob des noch nie Gehörten. Mit unverhohlener Überraschung blickten alle in die Augen des triumphierenden Skalpellkünstlers. Nach einer angemessenen Pause, um die ohnehin schon gespannte Atmosphäre weiter aufzuladen, lieferte dieser die verblüffende Erklärung:
„Der Platztausch der drei Organe, nämlich der Einbau der Milz ins Mediastinum, der Leber in die Milzloge und des Herzens in das Leberbett wird das Immunsystem des Empfängers derart verwirren, dass es gar nicht dazu kommt, eine Abstossungsreaktion anzufangen. Es versucht sich über die ungewohnte Organanordnung klarzuwerden, aber in Ermangelung eines eigenen Denkvermögens wird es dabei zwangsläufig scheitern und andernorts nach Fremdgewebe suchen. Eine bessere und nebenwirkungsärmere Immunsuppression kann es gar nicht geben. Das, meine Lieben, ist das Geheimnis hinter meinem scheinbar hochriskanten Wagnis.“
Dann wandte er sich zur sichtlich beeindruckten Schwester Thekla, die sehr entzückt ob so viel Einfallsreichtum war, und sagte zu ihr im beruhigenden Tonfall eines sich seiner selbst absolut sicheren Mannes, der weiss, was er tut: „Lassen Sie uns die Tücher zählen. Eins…, zwei… und hier kommt schon die Nummer drei“. ♦


Prof. Dr. med. Peter Biro

Prof. Dr. Peter Biro - Arzt und Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1956 in Grosswardein (Rumänien), 1970 Emigration nach Deutschland, Medizinstudium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anästhesist am Universitätsspital Zürich und Dozent für Anästhesiologie, schreibt kulturhistorische Essays und humoristische Kurzprosa, lebt in Feldmeilen/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Satire von
Angela Mund: Schlaf gut, mein Freund Hektor

… sowie zum Thema Medizin über den Roman von
Michael Kleeberg: Das amerikanische Hospital

ausserdem im Glarean Magazin zum Thema Krankheit und Spital:
Eric Baumann: Einen Sommer noch (Autobiographie)

Mario Andreotti: „Eine Kultur schafft sich ab“ (Rezension)

Wider den Zeitgeist

von Alexander Meier

„Eine Kultur schafft sich ab“ – so der hellhörig machende Titel des neuesten Buches von Prof. Dr. Mario Andreotti, dem ehemaligen Kantonsschullehrer und Lehrbeauftragten für Sprache- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und dem Dozenten für Neuere deutsche Literatur an zwei Pädagogischen Hochschulen. Der Band vereinigt in chronologischer Reihenfolge 52 Kolumnen, die der Autor von 2012 bis 2019 im St. Galler Tagblatt und dessen Partnerzeitungen in den CH Media verfasst hat.

Auch wenn es bisweilen inhaltliche Überschneidungen gibt – die Kolumnen waren ursprünglich nicht zur Publikation in der Form einer Anthologie vorgesehen –, vermag das Buch den Leser von Anfang an zu interessieren, zum Weiterlesen zu animieren. Das liegt nicht nur an den Themen, sondern zu einem grossen Teil auch an der unprätentiösen, klar auf die Sache fokussierte Sprache. Der Autor verfügt mühelos über ein umfassendes Wissen und über profunde Sachkenntnisse. Er wird dennoch nie geschwätzig.

Bildung und Hochschulzugang

Mario Andreotti Eine Kultur schafft sich ab - Beiträge zu Bildung und Sprache - Literatur-Cover Format-Ost - Glarean MagazinWorum geht es Autor Andreotti? Was gibt ihm in der Schweizer Bildungslandschaft zur Besorgnis Anlass?
Zunächst zur Situation an den Gymnasien und das Bologna-System im universitären Bereich: Es ist eine Tatsache, dass der Besuch des Gymnasiums nicht mehr als sogenannter Königsweg zur Hochschule gilt, und dass seine Position mit den Jahren geschwächt worden ist. Mit dem Numerus Clausus an der medizinischen Fakultät wurde das Maturazeugnis fraglos abgewertet. Es verlor zudem an Bedeutung, insofern vor allem in der Westschweiz Studienanwärter über eine rein fachspezifische Aufnahmeprüfung an einer Universität aufgenommen werden können. Unklar ist auch mehr und mehr, was „gymnasiale Bildung“ überhaupt ist. Die Nähe der vage formulierten Allgemeinbildung am Gymnasium zu jener in den Diplom- und Berufsmittelschulen ist unbefriedigend. Mario Andreotti fordert deswegen vom Gymnasium einen wohl definierten, unabdingbaren Bildungskanon, um die Studierfähigkeit seiner Absolventen zu erreichen. Der VSMP (Verein Schweizerischer Mathematiker- und Physiklehrkräfte) hat hier mit einer Projektgruppe bereits Pionierarbeit geleistet und gleichzeitig Fachwissen gegenüber der Pädagogik und Didaktik prioritär behandelt. Ob die Lehrkräfte gefunden werden können, welche diesem Anforderungsprofil genügen, ist freilich eine andere Sache.

Lehren die Gymnasien das Falsche?

Einen unabdingbaren Kanon festzulegen ist das eine. Wer indessen das Niveau der Maturitätsschulen erhöhen möchte, muss sich überlegen, wie wünschenswert es ist, eine möglichst hohe Maturitätsquote im jeweiligen Kanton anzustreben. Mario Andreotti plädiert in diesem Fall für Mut zur Elite. Die Bildung einer Elite sei für den Staat und die Gesellschaft ebenso wichtig wie die Förderung der Schwachen. Das bedeutet einen Abschied von der Idee eines Massengymnasiums, der Rekrutierung von Bildungsreserven, wie es seinerzeit nach dem Sputnik Schock verlangt worden ist.

Schule - Klassenzimmer - Gymnasium für alle - Schweizer Bildungslandschaft - Sprachkultur - Glarean Magazin
Wird an den (Schweizer) Gymnasien das Falsche unterrichtet?

Wird an Gymnasien das Falsche unterrichtet? Nach einhelliger Meinung von Bildungsexperten ist dem so. Der vermittelte Stoff sei zum Teil veraltet, zum Teil sogar mangelhaft. In den Lehrplänen figurierten Vorstellungen, die als Grundlage für ein Hochschulstudium nichts taugten. Mario Andreotti lehnt die Vorwürfe nicht rundweg ab. Zumal das Fächerangebot sei angesichts einer sich rasch wandelnden Gesellschaft mit ständig neuen Aufgaben an den Einzelnen immer wieder zu überprüfen. Doch marginalisierte Fächer wie etwa Geschichte, politische Bildung und Philosophie, aber auch Latein, müssten eine Aufwertung erfahren. Ihnen müsse mehr Raum gewährt werden. Bildung und Ausbildung ist eben nicht dasselbe. Bei der Ausbildung geht es um beruflich direkt Verwertbares und abfragbares Wissen, bei der Bildung hingegen um ein ganzheitliches Wissen, das der humanistischen Bildungsidee verpflichtet ist. Ein rein pragmatisches Denken darf den gymnasialen Fächerkanon nicht zunehmend bestimmen.

„Bulimisches Lernen“

1999 verpflichteten sich 29 europäische Nationen, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen, das Bologna System einzuführen. Als Signatarstaat der ersten Stunde setzte die Schweiz die Reform zügig um. Als Ziel wurde die Förderung der Mobilität und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Europa anvisiert. Wichtige Eckpfeiler: das dreistufige Studiensystem mit Bachelor, Master und Doktorat sowie das Leistungspunkteprogramm ETCS (European Credits Transfer System). Wohin hat uns Bologna geführt?

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Mario Andreotti kann der Reform wenig Positives abgewinnen. Zwar ist die Mobilität der Studierenden etwas grösser geworden, aber ansonsten bleibt der Bologna Prozess aus seiner Sicht, pointiert ausgedrückt, „eine trübe Baustelle“. Das Sammeln von Kreditpunkten – es scheint besonders stark amerikanischen Universitäten abgeschaut worden zu sein – ist geradezu „leicht grotesk“. Die Studierenden werden offensichtlich als eine Art „Fabrikarbeiter“ definiert, die ihre Präsenz womöglich bald einmal mit einer Stempeluhr registrieren lassen müssen. Zu einer Studienzeitverkürzung ist es dank der erwähnten neu eingeführten Diplome nicht gekommen. Und der wohl gravierendste Punkt: es gibt viel zu wenig Nachhaltigkeit im Lernprozess. Das ECTS- Punkte Sammeln erfordert an jedem Semesterende das Bestehen einer Prüfung, was die Studierenden fast unzumutbar belastet. Zu Recht diagnostiziert Mario Andreotti angesichts dieses Befundes ein „bulimisches“ Lernen: Der Lernstoff wird schnell aufgenommen, um ihn dann ebenso schnell wieder zu vergessen.

Nüchterne Aufklärung im Fokus

Liest man die Kolumne über den Bologna-Prozess, könnte der Eindruck entstehen, der Autor habe sich bisweilen unbewusst von der Formel „prodesse et delectare“ inspirieren lassen, die von der Ars Poetica des Horaz abgeleitet werden kann. Der unterhaltende Aspekt („delectare“) stellt sich indessen primär nur ein, wenn der Gegenstand der Untersuchung plötzlich quasi wie von selbst in einem grotesken oder skurrilen Licht auftaucht. Zur Hauptsache geht es dem Autor ums „prodesse“ (nützen), genauer, um sachliche, nüchterne Aufklärung. Übrigens ohne jegliche Häme. Sein typisches Vorgehen, verkürzt, folgt dem Muster: Observation, Befund, Analyse, Erfragen der Hintergründe, Überlegungen zu möglichen Folgen und – implizit oder explizit – Forderungen.
Nach diesem Prinzip wird auch die Lage an der Volksschule thematisiert. Das Resultat: Die Einführung von Frühfremdsprachen, von neuen Unterrichtsformen und der Lehrplan 21 trüben das Bild beträchtlich ein.

Problematik der Frühfremdsprachen

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Frühfremdsprachen in der Schule: „Ein nicht kindgerechter pädagogischer Irrweg“?

Wenn der Name des Autors Andreotti bei Anglisten erwähnt wird, dann fällt das Echo oft nicht durchwegs positiv aus: “ We are not amused“. Sie sind der Ansicht, das sei doch der Spielverderber, der gegen das Englisch sei. Das grenzt indessen an eine üble Verdrehung der ganzen Wahrheit. Dem Autor geht es vorerst grundsätzlich um die Problematik der Frühfremdsprachen Englisch und Französisch. Deutliche Worte fallen hier. Der Fremdsprachunterricht in der Primarschule ist ein kostspieliger und „nicht kindgerechter pädagogischer Irrweg“. Beweise fehlen, welche belegen könnten, dass die Langzeitwirkung von Frühenglisch und Frühfranzösisch einmal positiv bilanziert werden könnte. Nach den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind die Sprache zusehends analytischer, nicht mehr ganzheitlich. Zentral sind dabei das Auswendiglernen von Vokabeln und das Erlernen von Grammatikregeln. Das funktioniert aber erfahrungsgemäss nicht vor dem 10. bis 12. Altersjahr, bis zu einem Zeitpunkt, wo das Kind fähig ist, abstrakter zu denken.

Dringend: Ausbau der Sprachkompetenz

Was müsste geschehen? Mario Andreotti befürwortet in vielen seiner Kolumnen mit Vehemenz und zu Recht einen Ausbau der deutschen Sprachkompetenz unserer Jugendlichen. Und so verwundert es nicht, wenn er fordert, die Stundendotation für den Frühfremdsprachenunterricht müsste dem Deutschunterricht zugesprochen werden. Besonders in der Deutschschweiz. Hier gilt es ja vorerst richtig Hochdeutsch zu lernen. Eine subtile Argumentation, die noch durch eine weitere, durchaus nachvollziehbare Überlegung ergänzt wird. Bei diesem angedachten Szenario könnte in Übereinstimmung mit der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger in Sachen Fremdsprachenerwerb durchaus später begonnen werden. Nach dem Grundsatz: besser spät und intensiv als früh und halbbatzig.

Neues ist nicht immer besser

Mario Andreotti - Literatur-Autor - Glarean Magazin
Kultur-Rufer und Sprach-Warner: Mario Andreotti

Moderne Unterrichtsformen und die Diskreditierung des guten Frontalunterrichts, in den sich ja durchaus phasenweise andere soziale Lernformen integrieren lassen, führen nach Mario Andreotti in eine Sackgasse. Selbstorganisiertes Lernen, SOL, auf der Primarstufe ist in der Tat schlichtweg eine Überforderung des Kindes. Hier folgt der Autor nachvollziehbar dem Kinder- und Jugendpsychologen Allan Guggenbühl. Die Kinder sind gar nicht in der Lage Lernprozesse selbst zu steuern und fühlen sich gestresst, allein gelassen. Dies zumal auch, da die Lehrkraft lediglich diskret als Coach, als Lernbegleiter ihre Rolle wahrnehmen darf. Wie der Lehrplan 21, Mario Andreotti nennt ihn aus guten Gründen einen „Blindenführer“, mit diesem Konzept kompatibel sein soll, ist recht rätselhaft. Einerseits wollen Bildungsexperten Kindern möglichst viel Freiheit zugestehen, andererseits sollen deren Kompetenzen mit äusserst elaborierten Rastern beurteilt werden.

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Wiederholt realisiert der Leser bei der Lektüre der Kolumnen, dass das Neue nicht immer das Bessere ist. Das gilt schliesslich in besonderem Masse für das Thema Digitalisierung und Schule. Mario Andreotti glaubt nicht, dass die digitalen Möglichkeiten eine erfolgreiche schulische Zukunft in die Wege leiten werden. Es ist schon fragwürdig, dass die Schule mit dem Kauf der neuen Gerätschaften in den Sog des Marktes gelangt und Gefahr läuft, sich an Modellen des unternehmerischen Wirtschaftens zu orientieren und so pragmatisch denkende Menschen heranbilden kann. Er glaubt nicht, dass die Begeisterung für die digitalen Medien die Lernleistung entscheidend erhöhen wird. Untersuchungen geben ihm Recht. Ein Mehrwert auf Grund des Einsatzes dieser Medien ist bis heute nicht nachgewiesen. Doch die Illusion bleibt, nämlich dass das Lernen dank Mausklicks ohne Anstrengung erfolgen kann und die Schüler sich im Grunde alles selbst beibringen können.
Studien der letzten Jahre – man darf wohl auch an die Hattie Studie denken – geben ihm Recht. Erfolgreiches Lernen hängt stark zusammen mit Lehrerpersönlichkeiten, die den Mut haben zu erziehen. Eine Kuschelpädagogik, die den Schülern alles vermeintlich Unangenehme, zu dem übrigens auch Hausaufgaben gehören mögen, abnehmen will, ist nicht zielführend.

Kein Requiem, sondern ein Appell

„Eine Kultur schafft sich ab“ – der Titel des neuen Buches von Mario Andreotti ist nicht als Requiem, als Abgesang auf eine alte Kultur zu verstehen. Es geht vielmehr um einen dringenden Appell, Neues zu überdenken. Viel steht auf dem Spiel. Adressaten sind vor allem die Akteure, welche den neuen Lehrkonzepten zum Durchbruch verholfen haben. Bildungsforscher, Bildungsexperten, Bildungspolitiker. Es richtet sich aber auch an die Öffentlichkeit. Dem hervorragenden Buch ist eine möglichst grosse Verbreitung zu wünschen. ♦

Mario Andreotti: Eine Kultur schafft sich ab – Beiträge zu Bildung und Sprache, 120 Seiten, FormatOst Verlag, ISBN 978-3-03895-013-4


Alexander Meier

Alexander Meier - Anglist - Rezensent Glarean MagazinGeb. 1946 in Basel, Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich, anschliessend Kantonsschullehrer und Anglist sowie Bezirksschulinspektor und Praktikumslehrer für Englisch, nach der Pensionierung Organisation von Englisch-Weiterbildungskursen und Examinator an Maturitätsschulen, seit 2017 Leiter von Workshops für Englischlehrer in Tanzania (Montessori School), lebt in Oftringen/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin von Mario Andreotti auch den Essay: Sprachwandel oder Sprachzerfall? Wie Jugendliche heute schreiben

… sowie zum Thema Medien und Literatur den Essay: Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs

ausserdem im Glarean Magazin zum Thema Internet und Sprachkultur: Anton Rinas „ViscaBarca“: Realtalk – Mein Leben als Influencer

Weitere interessante Internet-Beiträge zum Thema Schule und Bildung:

Hauptlernform Projektlernen – Wie geht das? (shift – Schulblog)
Schulvorbereitung – Schuleintritt (Rebecca Finck)

 

 

Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung

„Sprache ist ein komplexer biokultureller Hybrid“

von Walter Eigenmann

gemäss klassischer Neurobiologie der Sprache weist unsere linke Gehirnhälfte zwei grosse Sprachräume auf: Der Broca-Bereich im Frontallappen verantwortet die Produktion von Sprache (= Sprechen und Schreiben), während das Wernicke-Areal im Temporallappen das Verstehen von Sprache unterstützt (= Hören und Lesen). Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung weisen nun darauf hin, das dies eine zu undifferenzierte Sichtweise ist.

Science Magazine - Language and the brain - Glarean MagazinEine neue Untersuchung „Die Neurobiologie der Sprache jenseits der Einzelwortverarbeitung“ des niederländischen Psycholinguistikers und Neurobiologen Peter Hagoort vom Max-Planck-Institut in Nijmegen, vor einigen Tagen publiziert in dem Wissenschaftsmagazin Science, widerspricht nun dieser verhältnismässig „primitiven“ Darstellung der menschlichen Sprachkompetenz: „Die klassische Sichtweise ist weitgehend falsch. […] Sprache ist unendlich komplexer als das Sprechen oder Verstehen einzelner Wörter, worauf das klassische Modell basiert.“

Unabdingbar fürs Verstehen: Der Kontext

Denn während Wörter zu den elementaren Bausteinen der Sprache gehören, brauchen wir auch Gehirnoperationen, um Wörter zu strukturierten Sätzen zu kombinieren. Hagoort bringt das Beispiel: „Der Herausgeber der Zeitung liebte den Artikel“. Um eine solche Äusserung adäquat zu interpretieren, reiche es nicht aus, die Sprachlaute (oder Buchstaben) sowie die Bedeutung der einzelnen Wörter zu kennen: „Wir brauchen auch Informationen über den Kontext (Wer ist der Sprecher?), die Intonation (ist der Ton zynisch?) und das Wissen über die Welt (was macht ein Redakteur?)“

Peter Hoogart - Neurobiologe - Glarean Magazin
Peter Hagoort

Peter Hagoorts Forschungen zeigen noch darüber hinausgehende Befunde. So deckten neuroanatomische Studien auf, dass die bereits erwähnten Gehirn-Sprachregionen Broca und Wernicke ihrerseits nicht nur weitere Sprachgebiete aufweisen, sondern dass sich ihre Sprachaktivitäten bis hin zum Parietal-Lappen erstrecken; vormals hinsichtlich Sprache unterschätzte Hirnareale wie die rechte Hemisphäre und das Kleinhirn setzen deutlich mehr Verbindungen als angenommen ein.

Prozessbeschleunigung durch aktive Voraussage

Hagoort weiter: „Unser Gehirn verarbeitet Sprache mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit in einem dynamischen Netzwerk von interagierenden Hirnarealen. Alle relevanten Informationen werden sofort verfügbar, wenn wir beginnen, die Bedeutungen einzelner Wörter zu kombinieren und die verschiedenen Informationsquellen zu vereinen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, sagt unser Gehirn aktiv voraus, was als nächstes kommt.“

MRI Magnetresonanztomographie - Gehirn-Bildgebende Verfahren - Glarean Magazin
Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanz-Tomographie MRI erlauben neurobiologische Forschungen wie z.B. das Neuroimaging

Doch damit nicht genug: Die Sprache ist oft „indirekt“. Hagoort führt aus, dass Zuhörer die Absicht eines Sprechers ableiten müssen, um zu verstehen, was der Sprecher meint. Beispielsweise könnte „Es ist heiss hier“ auch als Aufforderung zum Fensteröffnen verstanden werden und nicht als Aussage über die Temperatur. Hagoort: „Neuroimaging-Studien zeigen, dass solche pragmatischen Schlussfolgerungen von Hirnarealen abhängen, die an der ‚Theorie des Geistes‘ beteiligt sind, oder vom Denken über die Überzeugungen, Emotionen und Wünsche anderer Menschen“.
Da die meisten zwischenmenschlichen Äusserungen Teil eines Gesprächs sind, werden einige Informationen in der Regel bereits zwischen dem Sprecher und dem Zuhörer ausgetauscht. Die Redner stellen sicher, dass sie „neue Informationen“ markieren, indem sie die Reihenfolge der Wörter oder Tonhöhen verwenden, um die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu bündeln.

Sprache als multiples Brain-Network

 Die Geburt des Bewusstseins - Über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns - Hugo Lagercrantz Springer-Verlag
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Sprache sei ein „komplexer biokultureller Hybrid“, fasst Hagoort seine Studien zusammen. „Aber was ist die Essenz der menschlichen Sprache? Ist es eine Syntax, die im Broca-Bereich zu finden ist?“ Hagoort stellt diese alte Vorstellung in Frage: „Es hilft nicht, das Gesamtbild der menschlichen Sprachkenntnisse zu erfassen, wenn man zwischen wesentlichen und unwesentlichen Aspekten von Sprechen und Sprache unterscheiden will“. Stattdessen plädiert der Neurowissenschaftler für eine „multiple Brain-Network-Ansicht von Sprache, in der einige Operationen gut mit anderen kognitiven Bereichen wie Musik und Arithmetik geteilt werden könnten“. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neurobiologie auch über Lutz Jäncke: Macht Musik schlau?

… sowie zum Thema Sprachpsychologie über Esther Kinsky: Fremdsprechen – Das Übersetzen


English Translation

„Language is a complex biocultural hybrid“

by Walter Eigenmann

According to the classical neurobiology of language, our left brain has two large language areas: The Broca area in the frontal lobe is responsible for the production of speech (= speaking and writing), while the Wernicke area in the temporal lobe supports the understanding of speech (= hearing and reading).

A new study „The Neurobiology of Language Beyond Single Word Processing“ by Dutch psycholinguist and neurobiologist Peter Hagoort of the Max Planck Institute in Nijmegen, published a few days ago in the scientific journal Science, now contradicts this relatively „primitive“ representation of human language competence: „The classical view is largely wrong. […] Language is infinitely more complex than speaking or understanding individual words, on which the classical model is based.“

Indispensable for understanding: The context

While words belong to the elementary building blocks of language, we also need brain operations to combine words into structured sentences. Hagoort gives the example: „The editor of the newspaper loved the article“. In order to interpret such an expression adequately, it is not enough to know the speech sounds (or letters) and the meaning of the individual words: „We also need information about the context (who is the speaker?), the intonation (is the tone cynical?) and the knowledge of the world (what does an editor do?)“.

Picture: Peter Hagoort

Peter Hagoort’s research shows further findings. For example, neuroanatomical studies revealed that the brain language regions Broca and Wernicke, which have already been mentioned, not only have other language regions, but that their language activities extend as far as the parietal lobe; previously underestimated brain areas such as the right hemisphere and the cerebellum use significantly more connections than assumed.

Process acceleration through active prediction

Hogaart continues: „Our brain processes speech with amazing speed and immediacy in a dynamic network of interacting brain areas. All relevant information becomes immediately available as we begin to combine the meanings of individual words and unite the different sources of information. To accelerate this process, our brain actively predicts what comes next.“

Picture: Imaging methods such as magnetic resonance imaging (MRI) allow neurobiological research such as neuroimaging.

But that’s not all: the language is often „indirect“. Hagoort explains that listeners must derive the intention of a speaker in order to understand what the speaker means. For example, „It’s hot here“ could be understood as an invitation to open a window rather than a statement about the temperature. Hagoort: „Neuroimaging studies show that such pragmatic conclusions depend on brain areas involved in the ‚theory of mind‘ or on thinking about other people’s beliefs, emotions and desires.
Since most interpersonal expressions are part of a conversation, some information is usually already exchanged between the speaker and the listener. Speakers ensure that they mark „new information“ by using the order of words or pitches to focus the listener’s attention.

Language as a multiple brain network

Language is a „complex biocultural hybrid“, Hagoort summarises his studies. „But what is the essence of human language? Is it a syntax that can be found in the Broca area? Hagoort questions this old notion: „It doesn’t help to grasp the whole picture of human language skills if you want to distinguish between essential and insignificant aspects of speech and language. Instead, the neuroscientist argues for a „multiple brain network view of language in which some operations could well be shared with other cognitive domains such as music and arithmetic. ♦

Wolfgang Reus: So was und wie (Gedichte)

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Poesie und Sprachraffinesse

Wolfgang Reus: So was und wie – Gedichte (1992)

Wolfgang Reus - So was und wie - Gedichte 1992 - Scriptum Verlag - Glarean MagazinDer deutsche Satiriker Wolfgang J. Reus hat sich schon Mitte der 1980er Jahre insbesondere durch seine humorvoll-maliziöse Kurzprosa im legendären Schweizer „Nebelspalter“ sowie in grossen Zeitungen wie der „Frankfurter Rundschau“, der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Sächsischen Zeitung“ u.v.a. einen Namen geschaffen.
1992 legte er im ehemaligen SCRIPTUM Verlag, eingeladen von dessen damaligem Herausgeber Walter Eigenmann, unter dem Titel „So was und wie“ erstmals eine grössere Auswahl auch seines lyrischen Schaffens vor.

Den Gedichten von Wolfgang Reus eignet dabei in hohem Masse, was schon seine satirischen Arbeiten bekanntgemacht hatte: Sprachliche Raffinesse, formales Kalkül, geschliffener Wortwitz – und eine dichterisch ganz originale Sichtweise voller Engagement, ja teils Emotionalität, doch immer ohne alle Larmoyanz.

Wolfgang Reus - Glarean MagazinTragischerweise fand dieser Dichter, Satiriker und Menschenfreund einen viel zu frühen Tod. Sein Gedichtband „So was und wie“ sollte seine erste und zugleich letzte eigene Buchpublikation gewesen sein.

Aufgrund eines grösseren Restbestandes können wir hier exklusiv diesen (im regulären Buchhandel vergriffenen) Lyrik-Band zu einem stark reduzierten Vorzugspreis nochmals anbieten!

Wolfgang Reus: So was und wie – Gedichte, Scriptum Verlag 1992, 56 Seiten
SFR 8.- (inkl. Versand) ♦ Euro 10.- (inkl. Versand) ♦ Nur gegen Vorkasse

Bestellungen an:
glarean.magazin@gmail.com