Interview mit Beat Hüppin (Antium Literatur-Verlag)

„Das qualitätsvolle Buch hat Zukunft“

Interview: Walter Eigenmann

Der Schweizer Schriftsteller Beat Hüppin, geboren 1976 mit finnischen Wurzeln mütterlicherseits im schwyzerischen Wangen, studierte in Zürich lateinische und deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft und unterrichtet an der Kantonsschule Ausserschwyz Latein und Deutsch. 2016 brachte er beim Berner Zytglogge Verlag seinen ersten Roman „Talwasser“ heraus.
Vor einigen Monaten gründete Hüppin nun mit drei Mitstreiterinnen den Antium Verlag, der sich vorwiegend belletristischer, auch finnischer und italienischer Literatur widmen will. Der Neuverleger über seinen frischgebackenen Antium: „Der Verlag ist grundsätzlich offen für Texte verschiedener inhaltlicher Ausrichtung, mit dem Anspruch, dass die Bücher unterhaltsam und intelligent zugleich sein sollten.“
Das Glarean Magazin fragte Beat Hüppin nach den Zielsetzungen dieses heutzutage mutigen Schrittes einer Verlagsgründung.

Glarean Magazin: Im Frühling dieses Jahres starteten Sie Ihren neuen Antium Verlag – ist alles wunschgemäss angelaufen?

Beat Hüppin - Antium Verlag - Interview im Glarean Magazin 2018Beat Hüppin: Ja, wir konnten alle vorbereitenden Arbeiten bis zur ersten Veröffentlichung termingerecht abschliessen. Es war sicherlich die richtige Entscheidung, sich zunächst auf eine einzige Buchpublikation zu konzentrieren, so dass wir alle damit zusammenhängenden Prozesse einmal kennenlernen konnten. Daneben konnten wir auch für das neue Jahr 2019 schon zahlreiche interessante Kontakte knüpfen, die es uns ermöglichen, ein reichhaltiges und spannendes Programm zu präsentieren. Unser Kickoff-Apéro zeugte von einem regen Interesse an unserem Verlag. Ob sich dies auch in genügend Buchverkäufe ummünzen lässt, ist nun natürlich die nächste spannende Frage.

GM: Wir leben in immer stärker global bestimmten Literaturmärkten; das Self-Publishing grassiert; die Book-on-Demand-Services verzeichnen hohe Wachstumsraten; Youtube und Literatur sind längst sich ergänzende Begriffe; die Social Medias sind randvoll mit „offizieller“ und „privater“ Literatur; die internationalen Buchverlage verhökern ihre Bestseller wie Tomatenverkäufer – ist da ein Regionalverlag wie der Antium Verlag nicht ein komplettes Auslaufmodell?

BH: Wir sind überzeugt, dass ein Kleinverlag, der relativ wenige, sorgfältig ausgewählte Bücher publiziert, weiterhin seine Daseinsberechtigung hat. Bei Self-Publishing und BoD fehlt eine Selektion und Qualitätskontrolle, was man – so leid es mir tut – immer wieder bemerkt. Seit ich selber als Autor unter anderem beim Zytglogge Verlag publizieren durfte, weiss ich, was ein hochstehendes Lektorat ausmacht, auch die genau auf das Buch abgestimmte Grafik und der professionelle Satz. Genau diesen Rundum-Service wollen wir unseren Autoren auch bieten. Bei den Übersetzungen können und wollen wir nicht mit „internationalen Bestsellern“ konkurrieren, sondern einfach nur Bücher bringen, die uns selber begeistern und Facetten der fremdsprachigen Kultur aufzeigen, die der Bestseller-Leser nicht mitkriegt. ausserdem ist angedacht, in Ergänzung zu den althergebrachten durchaus auch neuere Marketingwege zu beschreiten – mit Social Media, Youtube usw.

GM: Neben Übersetzungen aus dem Finnischen und Italienischen will der Antium Verlag erklärtermassen Schweizer Literatur fördern. An welche literarischen Sparten ist vor allem gedacht?

BH: Wir denken primär schon an belletristische Romane. Thematisch soll aber vieles möglich sein, auch Krimis, historische Themen und anderes. Bereiche wie Fantasy oder Science-Fiction überlassen wir anderen, aber sonst sind wir für vieles offen.

GM: Haben auch regionale Themata und/oder junge Autoren im Antium Verlag eine Chance?

Mitarbeiter - Antium Verlag - Rahel Schmidig - Elisa Grandi - Ladina Poik - Glarean Magazin
Junge Mitarbeiterin eines jungen Verlages: Rahel Schmidig (Lektorat & Übersetzungen), Elisa Grandi (Marketing & Vertrieb), Ladina Poik (Lektorat & Grafik)

BH: Auf jeden Fall. Wir würden sehr gerne junge Autoren unterstützen und aufbauen. Wir sind ja selber auch ein junges Team: Meine drei „Mitstreiterinnen“ sind alle noch in ihren Zwanzigern. Ein regionales Thema ist grundsätzlich immer möglich, solange der Text überzeugend gestaltet ist und auch eine Relevanz unter einem grösseren Blickwinkel gegeben ist.

GM: Die zwei anderen Landessprachen können nicht auch noch berücksichtigt werden, oder?

BH: Wir mussten nur schon aus personellen Gründen eine Limitierung vorsehen. Persönlich fände ich zum Beispiel rätoromanische Literatur sehr interessant, aber bei den Übersetzungen gehen wir davon aus, dass wir diese selbst machen werden. Falls wir jemals in Erwägung ziehen sollten, rätoromanische Werke zu bringen, müssten wir ein zusätzliches Teammitglied finden, das sich darauf spezialisieren würde. Das Französische würden wir zur Not noch selber hinkriegen, aber auch das ist im Moment kein Thema.

GM: Ist der Antium Verlag vielleicht bereits im Gespräch mit bekannteren Autoren, sind entspr. geplante Namen schon spruchreif?

Bald mit deutscher Übersetzung im Antium Verlag vertreten? Der bedeutende finnische Autor Antti Tuuri (Geb. 1944) - Glarean Magazin
Bald mit deutscher Übersetzung im Antium Verlag vertreten? Der bedeutende finnische Autor Antti Tuuri (Geb. 1944)

BH: Es stehen schon diverse interessante Sachen auf der Liste, die aber noch nicht alle spruchreif sind. Eine kleinere Sensation ist, dass wir die Rechte an der deutschen Übersetzung des Romans „Ikitie“ des Finnen Antti Tuuri erwerben konnten. Er ist einer der produktivsten und erfolgreichsten Autoren Finnlands und wurde schon in etliche Sprachen übersetzt, aber merkwürdigerweise findet er in deutscher Sprache praktisch nicht statt. Das möchte ich mit meiner Übersetzung gerne ändern!

GM: Ein Problem für zumal neue Verlage ist bekanntlich die angemessene Präsenz in den Buchhandlungen; die Bücher der grossen Player sind hier prominent, die Kleinverlage allenfalls im Nischenregal rechts unten vor Ort, wenn überhaupt. Wird sich der Antium Verlag auf der „klassischen“ Buchhandel-Schiene oder doch eher im Web bewegen mit seinen Titeln?

BH: Beides, da wir, wie bereits erwähnt, althergebrachte mit moderneren Marketingwegen verbinden möchten. Wir sprechen über unsere Vertriebspartner durchaus auch den herkömmlichen Buchhandel an. Ob es aber gelingt, dass die Bücher am Ende tatsächlich in vielen Buchhandlungen aufliegen, wird sich noch zeigen. Für den Anfang, mit einem einzigen lieferbaren Titel, ist das wohl unrealistisch, aber wir arbeiten daran.

GM: Was bewog den Schriftsteller und Neuverleger Beat Hüppin persönlich, sich diesem finanziellen Wagnis einer Innerschweizer Verlagsgründung auszusetzen?

BH: Der ausschlaggebende Punkt für mich war einzig und allein, dass ich zusätzlich zu meinen eigenen Romanen gerne Übersetzungen aus dem Finnischen machen wollte. Dann fügte sich eines zum anderen.

GM: Wird der Innerschweizer Antium Verlag völlig autonom arbeiten, oder strebt er finanzielle und personelle Zusammenarbeiten mit den Schriftstellerverbänden oder mit nationalen Kulturinstitutionen an?

Lesetour Jaakko Melentjeff - Antium Verlag
Der Antium-Verlag macht Ernst mit seiner Protegierung von interessanter neuer Literatur aus Finnland: Der Debüt-Krimi „Die Ertrunkenen“ des Schriftstellers Jaakko Melentjeff geht auf Schweizer Lesetour, hier finden sich die Termine der (2-sprachig abgehaltenen) Autoren-Lesungen.

BH: Finanzielle Kooperationen etwa mit Pro Helvetia, den kantonalen Kulturämtern etc. sind in gewissem Rahmen schlicht notwendig, um die hohen Produktionskosten (wir drucken in der Schweiz) wenigstens ein bisschen abzufedern. Hingegen bei der Programmgestaltung, also der konkreten Auswahl der einzelnen Titel, wollen wir vollkommen autonom arbeiten. Wie weitere Kooperationsmöglichkeiten etwa mit den Schriftstellerverbänden aussehen könnten, wird sich im Laufe der Zeit noch zeigen.

GM: Welchen Stellenwert heute messen Sie dem geschriebenen Wort bei gegenüber dem gesprochenen bzw. gegenüber dem Bild? Können „unterhaltsame und intelligente Bücher“ – ein Leitmotiv des Antium Verlags auf der eigenen Webseite – Einfluss nehmen auf unsere Gesellschaft, möglicherweise gar positiven?

BH: Das Buch wurde schon tausendmal totgesagt, aber wir sind überzeugt davon, dass es immer noch ein Publikum gibt, das für interessante, teilweise vielleicht etwas anspruchsvollere Bücher zu haben ist. Dass man damit kaum das ganz grosse Publikum ansprechen kann, ist uns egal. Ich kann nicht oft genug betonen, dass wir nur Bücher machen, die wir selbst auch toll finden. Insofern kann, soll der Name Antium auf dem Umschlag auch zu einem Qualitätssiegel werden. Den allgemeinen Trend zu Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit können wir mit unseren Büchern sicherlich nicht umkehren. Wir können aber mit etwas, von dem wir selbst überzeugt sind, bewusst einen Gegenpol setzen.

Lesen Sie im Glarean Magazin auch das Interview mit dem Schweizer Schriftsteller René Oberholzer

… sowie den Essay über die hiesige Literaturszene von Mario Andreotti: Tendenzen der Schweizer Literatur

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Michael Hofmeister: Alexander Ritter (Musiker-Biographie)

Wundervolle Geschichte zwischen uns allen

von Günter Nawe

Kennen Sie den Komponisten Alexander Ritter? Wenn nein, dann können Sie diesen nicht unbedeutenden Komponisten jetzt kennen lernen. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst von Michael Hofmeister, der sein Dissertationsthema diesem Musiker zwischen Richard Wagner und Richard Strauss gewidmet hat.

Michael Hofmeister Alexander Ritter – Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss - Rezension Glarean MagazinAlexander Ritter, 1833 in Narva geboren, 1896 in München gestorben, hat in Dresden schon sehr früh Richard Wagner kennen gelernt, stand später mit ihm im regen Briefkontakt. Er studierte in Leipzig Violine bei Ferdinand David, lernte bereits 1844 Franz Liszt kennen. Ritter gehörte zum Kreis von Peter Cornelius und Joachim Raff; er war Violinist in der Weimarer Hofkapelle. 1854 heiratete er Franziska Wagner, eine Nichte von Richard Wagner. Nach Engagements als Geiger und Dirigent in Stettin, Würzburg und Chemnitz wurde er 1882 unter Hans von Bülow Konzertmeister an der Meininger Hofkapelle. In Meiningen lernte er auch Richard Strauss kennen, der später in seinen Erinnerungen schreiben sollte, dass Ritter „entscheidenden Ausschlag für meine zukünftige Entwicklung“ haben sollte. 1886 finden wir Alexander Ritter in München, wie er sich um die Förderung junger Komponisten kümmerte.

Illustrer Komponisten-Freundeskreis

Michael Hofmeister widmet sich in seiner Dissertation, die nun als Buch unter dem Titel „Alexander Ritter – Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss“ (erschienen als „Wagner Kontexte“ Band 1 im Tectum Verlag) nicht nur ausführlich der Biographie des Komponisten. Er geht auch ebenso ausführlich auf die Beziehungen Ritters u. a. zu Richard Wagner ein.

Alexander Ritter (4. von rechts) im Freundeskreis seines Vorbildes Richard Wagner: u.a. Hans von Bülow, Friedrich Uhl, Richard Pohl, H. v. Rosti, A. de Gasperini, Adolf Jensen, Felix Draeseke, Leopold Damrosch, Heinrich Porges, Michael Moszonyi
Alexander Ritter (4. von rechts) im Freundeskreis seines Vorbildes Richard Wagner: u.a. Hans von Bülow, Friedrich Uhl, Richard Pohl, H. v. Rosti, A. de Gasperini, Adolf Jensen, Felix Draeseke, Leopold Damrosch, Heinrich Porges, Michael Moszonyi

In einem kleinen Exkurs „Eine wundervolle Geschichte zwischen uns allen“ beschreibt Hofmeister zum Beispiel die Beziehungen zwischen dem Exilanten Wagner und der Familie Ritter. Später wird er auch auf die engen Beziehungen zu Richard Strauss eingehen. Beziehungen, die nicht immer von Dauer sind. So wird sich Richard Strauss später von Ritter abwenden. Es wird „alte und neu Freunde“ im Leben des Alexander Ritter geben: Hans von Bülow und Peter Cornelius, Hermann Levi, Clara und Robert Schumann.

Ein Leben zwischen Erfolg und Resignation

Es war ein Leben zwischen Erfolg, Scheitern und Resignation, das uns Michael Hofmeister in seiner grossartigen Studie nahe bringt. Er schliesst eine Lücke in der Wagner- und Strauss-Forschung, indem er sich diesem Komponisten widmet, der als sich als Verfechter einer neudeutschen Musikrichtung zeigte. Womit wir beim Werk wären, das Hofmeister ausführlich beschreibt und deutet. Interessant ist dies um so mehr – und damit ein besonderes Verdienst dieser Dissertation – als wir sein Werk leider nicht hören können. Zitat Herbert Rosendorfer: „Die Qualität Ritterscher Werke kann heute nicht beurteilt werden, weil sie nie zu hören sind“. Es gibt keine Tonträger mit Kompositionen von Ritter. In Parenthese: Vielleicht findet sich aber jetzt ein Label, das sich des Werks dieses interessanten Komponisten annimmt.

Ritters musikgeschichtliche Stellung ergibt sich durch die Einflüsse von Wagner und Liszt auf seine Werke. Dazu Hofmeister: „Aus seinen Werken sprechen eine Ernsthaftigkeit und ein Gestaltungsdrang, mit denen er um eigenständige Lösungen ringt – und seien es eigenständige Formen der Adaption […] Klug suchte und schuf er sich daher bewältigbare Formen und fand etwa im Lied eine angemessene Ausdrucksmöglichkeit.“

FAZIT: Der Komponist Alexander Ritter – eine Entdeckung. Nicht nur gehört er als Person und Musiker in die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Er ist auch als Komponist zwischen Richard Wagner und Richard Strauss wahrzunehmen. Michael Hofmeisters opulentes Werk, seine Auswertung aller verfügbaren Quellen ermöglicht interessante Einblicke in ein völlig vergessenes Werk.

Entdeckungswürdiger Komponist

Es sind weitestgehend Klavierlieder, die Alexander Ritter komponierte – auf Texte von Heinrich Heine, Nikolaus Lenau, Joseph von Eichendorff und andere. Es gibt zwei Opern-Einakter von ihm: „Der faule Hanns“ (1878 nach einer Erzählung von Felix Dahn) und „Wem die Krone (1889). Und es gibt eine Reihe von Chorwerken und solistischen Vokalwerken. Michael Hofmeister liefert dazu ausreichend Material und Notenbeispiele. Auch zu den Orchesterwerken wie „Erotische Legende“ für grosses Orchester oder „Charfreitag und Frohnleichnam“ (Zwei Orchesterstücke für grosses Orchester). Werke, die noch ganz in der Tradition verwurzelt sind und sich doch nach und nach zur modernen sinfonischen Dichtung entwickelten.
So ist diese Dissertation, diese dickleibige Monographie des Michael Hofmeister ein durchwegs interessantes, zudem gut lesbares Buch. Und die Hauptfigur Alexander Ritter in der Tat eine Entdeckung. ♦

Michael Hofmeister: Alexander Ritter – Leben und Werk eines Komponisten zwischen Wagner und Strauss, 806 Seiten, Tectum Verlag, ISBN 978-3-82884138-3

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Arno Stocker: Der Klavierflüsterer

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Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip (Roman)

Feministisches Erweckungserlebnis

von Günter Nawe

Wer glaubt, nach der Lektüre dieses Buches zu wissen, was „das weibliche Prinzip“ sei: Fehlanzeige. Vielleicht gilt das aber nur für Männer, die den neuen Roman von Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip gelesen haben. Frauen wissen darüber sicher mehr.

Meg Wolitzer - Das weibliche Prinzip - Roman - Rezension im Glarean MagazinMeg Wolitzer weiss darüber auf jeden Fall eine ganze Menge. Als die berühmte amerikanische Autorin – sie hat unter anderem den grossartigen Roman Die Interessanten geschrieben, für den sie als „one of America’s most ingenious and important writers“ bezeichnet wurde – einmal gefragt wurde, worüber sie schreibe, lautete die Antwort: „von Ehe, Familien, Sex, Begehren, Eltern und Kindern“. Und über den Feminismus. Er ist die Blaupause für die Geschichte, besser: die Geschichten, die Meg Wolitzer in Das weibliche Prinzip erzählt.
Wolitzer erzählt also die Geschichte des Feminismus – allerdings in Form einer Rückblende, was darauf schliessen lässt, dass trotz augenblicklicher #MeToo-Debatten und des Trump’schen Machismo der Feminismus – der Roman endet im Jahre 2019 – erst einmal Geschichte zu sein scheint. Wie Feminismus allerdings geht, besser: wie er ging – Meg Wolitzer versucht es in ihrem dickleibigen Roman ausführlich zu beschreiben.

Klassische weibliche Entwicklungsgeschichte

Es ist ein fast klassische Entwicklungsgeschichte, die die junge Greer Kadetzky durchmacht. Als blausträhnige Studentin wird Greer von einem Kommilitonen blöd angemacht, indem er sie unerwartet an die Brust fast und sie auch noch, als sie sich dagegen wehrt, beschimpft: „Hier fickt dich keiner ausser mir, Blausträhnchen. Und wenn, nur aus Mitleid.“ Ein feministisches Erweckungserlebnis, das ihren weiteren Lebensweg massgeblich bestimmen wird.
Greer wird zur Feministin, zur Aktivistin unter Anleitung der älteren Faith Frank, einer Ikone des Feminismus, deren Buch Das weibliche Prinzip als eine Art Manifest gilt. Sie bringt sich in eine von Faith Frank gegründete Organisation ein, die sich ganz der Sache der Frauen widmet – in Form von Events, Vorträgen und Diskussionsrunden und von Fall zu Fall auch direkter Hilfe. Schnell wird Greer sozusagen zur rechten Hand der grossen Faith.

Meg Wolitzer (geb. 1959 in Long Island /NY) - Glarean Magazin
Meg Wolitzer (geb. 1959 in Long Island /NY)

Zu diesem engagierten Leben, das sich als eine Art Selbsterfahrungsprozess darstellt, zu diesem „Kampf“ für die Rechte der Frauen gehört auch das Leben mit ihrem Freund, mit dem sie partnerschaftlich-befriedigenden Sex hat; eine gute Freundin, die ihre Freundin trotz einer grossen Enttäuschung bleiben wird; zu diesem Leben gehört die Mutter, mit der sich irgendwann aussöhnen wird. Und natürlich ihre Mentorin, der sie treu ergeben ist. Soweit, so gut!
Faith Frank ist auf dem Höhepunkt ihrer feministischen Karriere. Ihr Buch hat Furore gemacht. Mit einer gross angelegten Stiftung will sie ihrer Arbeit die Krone aufsetzen. Dass sie sich dazu des Einflusses und des Geldes eines schwerreichen Mannes, mit dem sie einst einen One-Night-Stand hatte, bedient, macht sie allerdings angreifbar und korrumpierbar.

Wie Feminismus (nicht) geht

FAZIT: Die renommierte amerikanische Autorin Meg Wolitzer schwimmt mit ihrem Roman Das weibliche Prinzip etwas auf der Welle von #Me Too – und erzählt in einem gross angelegten Gesellschaftsplot die Geschichte des Feminismus. Mit den beiden Protagonistinnen Greer und Faith hat sie zwei eindringlichen Figuren geschaffen, die doch sehr unterschiedliche Facetten des Feminismus vertreten. Am Ende bleibt allerdings offen, was das weibliche Prinzip ist. Vor allem, wenn sich herausstellt dass Feminismus wie Machotum nach den gleichen Spielregeln geschieht – auf der Suche nach Macht und Erfolg. Männer und Frauen werden den Roman aus unterschiedlicher Perspektive lesen. Und das ist es, was diesen Roman so spannend und interessant macht.

Meg Wolitzer erzählt die beiden sehr unterschiedlichen Lebensentwürfe in einer Art und Weise, die wir es aus vielen amerikanischen Romanen grosser Autoren kennen, sozusagen als Great America Novel. Und sie macht es brillant, auch wenn sie oft weitschweifig wird, Umwege geht. Es gibt Szenen, die sich nur schwer in das Gesamtgefüge des Narrativen einordnen lassen, und Figuren, die plötzlich verschwinden, ohne dass ihre Bedeutung für die Geschichte erkennbar wird.
Schaut man hinter die Kulisse des zugegebenermassen süffig zu lesenden Romans, stellt man fest: Das weibliche Prinzip ist – wie jedes männliche Prinzip – Macht. Die Art und Weisen, wie zur Macht zu kommen, sind sich mehr als ähnlich. Dabei ist es absolut irrelevant, ob Frauen auf andere Weise Macht zu erreichen versuchen als Männer. Das gilt auch für die Sucht nach Erfolg. Feminismus bedeutet also, dass Frauen „ein faires und gutes Leben“ (Meg Wolitzer) wollen – wie immer es letztlich auch aussehen mag.
Und weil dem so ist, können wir herauslesen, dass Feminismus eigentlich nicht geht. Vielleicht ist das nur der männliche Blick, und Frauen mögen das anders sehen. Aber genau das ist das Schöne an diesem Roman. – diese verschiedenen Sichtweisen, die er zulässt. Und vielleicht ist das Ende des hier beschriebenen Feminismus der Beginn einer neuen Welle. ♦

Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip – Roman, 495 Seiten, DuMont Verlag, ISBN 978-3-8321-9898-5

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den neuen Roman von Donat Blum: Opoe

… sowie über die Novelle von Peter Reutterer: Siesta mit Magdalena

Ausserdem im Glarean Magazin zum Thema Feminismus über den Roman von Stuart Hood: Das Buch Judith

Donat Blum: Opoe (Roman)

In Teilen gelungen, im Ganzen gescheitert

von Isabelle Klein

Die hohen Erwartungen, die Donat Blum mit seinem Roman „Opoe“ durch den Verweis – Zitat im Vorwort – auf Herzogs Film „Fitzcarraldo“ und dessen Opernbau erweckt, nämlich die Grenzen des Erreichbaren zu sprengen, das Verrückte zu verwirklichen, alles zu wollen, diese Erwartungen erfüllt das beinahe lapidare Ende nicht. Damit ist hier das Buch von hinten aufgerollt, da diese Betrachtung am sinnvollsten erscheint. Ein Buch, eine Sinnsuche: Wider Banalitäten, Schwarzweissmalerei; gegen Dualität und verbundene Einordnungen – so das Anfangsversprechen.

Ein vergebliches Leben

Donat Blum - Opoe - Roman-Rezension - Ullstein Verlag - Glarean MagazinSehr gelungen beginnt der Autor seinen Erstling, in dem alles im Fluss scheint, in dem die schwer fassbare Suzanne, die niederländische Oma (Opoe), in ihrer Schweizer Wahlheimat sich jeder Kategorisierung entzieht. Eine introvertierte Frau, die die Oper liebt, genau wie sie Wien liebt, ohne jedoch jemals eines von erlebt zu haben. Ein sinnloses Leben, urteilt der Enkel. „Diese Trauerfeier war das Tüpfelchen auf dem i eines vergebenen Lebens. Der Deckel zum Töpfchen der Sinnlosigkeit“ (Seite 11). Mitten in die Geschichte geworfen, erwartet man durch Fitzcarraldo Famoses, ist in Bann gezogen. Karl Lagerfeld hat einmal gesagt, der Sinn des Lebens sei … ja, was?! Simpel die Antwort: Zu leben!
Insofern polarisiert Blums Anspruch, das Leben einer Frau, die er so gut wie nicht kennt, „aburteilen“ zu können. Acht Jahre sind seit dem Tag vergangen, als er vorübergehend zu Studienzeiten bei der Oma in Bern lebte. Sporadisch der Kontakt seitdem. Man kennt sich nicht wirklich, bleibt einander fremd.

Im Beziehungsgeflecht verflacht

Im Jetzt: die Beerdigung. Beziehungsgeflechte des Enkels, Sinn- und sexuelle Identitätssuche entfalten sich unvermittelt. Der Autor, der wohl zugleich Enkel und Protagonist ist, will Querverbindungen aufzeigen, hat das Gefühl, die Erforschung der Vergangenheit der Oma helfe ihm, sich selbst zu finden.
Deswegen begibt er sich vom Ursprung des Rheins an dessen Ende. Ein widersprüchliches und gerade deswegen gewinnbringendes Bild entfaltet sich vor dem Auge des Lesers, bis das Ganze m.E. in zu viel Beziehungssinnsuche des Enkels ausartet und dadurch verflacht, wobei leider auch Opoe auf der Strecke bleibt.

Perspektiven-Wechsel und Zeitsprünge

Perspektiven-Verschiebungen, Zeitsprünge, Dinge im Fluss, das alles macht das Lesen durchaus interessant. Aber kurze, abgehakte 1-2-Seiten-Kapitel bringen keine Dynamik in „OPOE“.
Blum übernimmt sich, läuft beim Seelenstriptease auf Sand und begeht den Fehler, dass er sich gegen Ende etwas zu sehr in Sex versteigt. Während das Feuilleton bei letzterem gerne über „Altherrensexphantasien“ ätzt, die so keiner braucht, bin ich diesbezüglich der Meinung, dass weniger mehr ist und explizite Erwähnungen einen gewissen Müdigkeitsfaktor erzeugen.
Harsche Worte? Vielleicht, aber nach einem überaus vielversprechenden Beginn, der geradezu kafkaesk anmutet in seiner elliptischen Erzählperspektive, mit Rückblenden und Perspektivwechseln sowie kurzen, sporadischen Episoden und Kapiteln hin und her springt und dem Leser einiges abverlangt, wird das Versprechen, dass eine besondere Beziehung zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Menschen bestünde, nicht gehalten.
Nach also exzellentem Beginn, in dem man voller Fragen ist und sich diese auch im Hinblick auf die eigene Erfahrung mit den Grosseltern, samt verpassten Chancen und Auswirkungen, zu stellen bereit ist, verflacht „Opoe“ im Mittelteil zusehends. Man nähert sich der wenig greifbaren Frau, die zu Beginn so gelungen charakterisiert wird, eben nicht weiter an. Oberflächliche Erzählung von Stationen ihres Lebens, Schilderungen fast schon banaler Gegebenheiten lassen Erwartetes zurücktreten. Stattdessen zu viel Sinnsuche in sexueller Erleichterung.

Identitätsfindung auf halbem Wege

Blum schafft es leider nicht ansatzweise, die geweckte Faszination dieser merkwürdigen Grossmutter, die so (wunderbar) schwer greifbar und fassbar erscheint, die ihren Enkel siezt und so wenig grossmütterlich wirkt, auszubauen. „Geweckte“ Erwartungen sollten auch in einem Erstlingswerk erfüllt werden. Der Klappentext: „[…] mit verblüffender Leichtigkeit erzählt Donat Blum in seinem Debüt […] von den grossen Fragen des Lebens.“ Wirklich?
Grosse Fragen beschränken sich eben nicht, dachte ich zumindest, weitestgehend auf Identitätsfindung durch Beziehungssuche bzw. auf die Frage, ob man mit einem Partner oder mehreren glücklich werden kann. Sondern sie betreffen alle Aspekte des Lebens. Aber vielleicht hat sich mir auch ganz einfach der Sinn von „Opoe“ nicht erschlossen, wer weiss…

Zwischen Bedeutsamkeit und Beliebigkeit

Kurz und bündig: Gerade im letzten Drittel weitet sich das, was sich schon im Mittelteil abzeichnet, ganz enorm aus. Begebenheiten werden gestreift, verkommen durch Kürze und mangelnde Tiefe in ihrer Bedeutsamkeit zur Beliebigkeit und lassen eines fehlen: Intensität und Sinn. Auch unter scheinbar Oberflächlichem lässt sich eben keine Tiefe und Bedeutsamkeit finden. Das Fluide, das Sein selbigens im Urlaub; mit wechselnden bzw. gleichzeitigen Partnern, im Sein der offenen Beziehung; im Austesten des Ertragbaren – dies alles führt eben nicht dorthin, wo es scheinbar soll, nämlich zu tieferem Sinn, zum Erkenntnisgewinn.

In Teilen gelungen, im Ganzen gescheitert

FAZIT: Das Roman-Debüt „Opoe“ von Donat Blum ist ein ambitionierter Versuch, in Teilen gelungen, im Grossen gescheitert. Nichtsdestotrotz ein bereicherndes Leseerlebnis, in dem viele Fragen geweckt werden, wenngleich Donat Blum die Erwartungen nicht ganz befriedigen kann

Warum ist beispielsweise diese vergangene Frau plötzlich so wichtig für ihn? Warum fühlt er sich ihr posthum so nah? Was ist davon die Quintessenz, ausser dieser: mit kleinen Dingen zufrieden sein? Und leider wird auch das Unzuordenbare ab der Mitte viel zu dual. Die einen sagen, Opoe sei eine Lebefrau, eine Verschwenderin gewesen, wohingegen sie doch auch an andere dachte, selbst Geld verdiente, sich aber nie emanzipierte. All das ist letztlich weit weg vom hehren Anspruch des Beginns, dass Unfassbare zu fassen, Grenzen zu sprengen, multikausal das Schubladendenken ad acta zu legen.

Das Roman-Debüt „Opoe“ von Donat Blum ist ein ambitionierter Versuch, in Teilen gelungen, im Grossen gescheitert. Nichtsdestotrotz ein bereicherndes Leseerlebnis, in dem viele Fragen geweckt werden, wenngleich Donat Blum meine Erwartungen nicht befriedigt hat. Zuviel Joel, Yuri und Levin (Männer im Leben des Enkels) gegen Roman-Ende lassen das Sujet leider blass aussehen. ♦

Donat Blum: Opoe – Roman, 176 Seiten, Ullstein Verlag, ISBN-139783961010127

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Roman-Rezension von
Simone Stölzel: Der Tod in Potenzen

Simone Stölzel: Der Tod in Potenzen (Roman)

Krimi mit philosophischem Tiefgang

von Karin Afshar

„Wenn ein Buch, das zu besprechen ich gebeten wurde, mich nach 40 Seiten nicht angesprochen hat … bespreche ich es nicht.“
Diesen Satz hatte ich mir vor beinahe mehr als 10 Jahren hinter die Ohren geschrieben. Mindestens 30 Bücher marschierten in dieser Zeit vor mir auf, um von mir gelesen und anschliessend wohlwollend besprochen zu werden. Unter ihnen ungefähr fünf „Verrisse“. Ich habe mich eben doch nicht immer an meinen Leitsatz gehalten…
An drei Verrisse kann ich mich ziemlich genau deshalb erinnern, weil es mir extrem unangenehm ist, einem Buch, dem Schreibstil oder der Behandlung eines Themas die Empfehlung an ein weiteres Lesepublikum nicht auszustellen. Doch sehe ich es als meine verdammte Pflicht, Etikettenschwindel, grosse Ankündigungen und schwache Umsetzungen aufzudecken. Zum aktuellen Buch: Auch der als „philosophischer Roman“ angekündigte Titel „Der Tod in Potenzen“ von Simone Stölzel ist bei mir durchgefallen.

Viel gewollt, wenig gekonnt

Simone Stölzel - Der Tod in Potenzen - Philosophischer Roman - Herder Verlag - Rezension Glarean MagazinIch entsinne mich des Buches einer Iranerin, die in Deutschland mit ihrer Lebens- und Leidensgeschichte gepuscht wurde [siehe die Rezension im Glarean Magazin über Ameneh Bahrami: Auge um Auge]. Abgesehen davon, dass der Text vermutlich von einem Ghostwriter (gar nicht mal von ihr selbst) verfasst war, wimmelte es nur so von emotionalen Klagereien – sowohl schlecht aus dem Persischen übersetzt, als auch mit interkulturellen Irrtümern behaftet. Anstatt zu einem solchen Buch rate ich dann doch lieber gleich zu einer Hedwig Courths-Mahler-Schmonzette. Wer sich auf dem Literatur-Markt auskennt, weiss, wie das Geschäft mit der modernen Betroffenheitsliteratur läuft. Dass hier unter dem Deckmantel der Aufklärung über sogenannte wahre Begebenheiten Klischees bedient werden, ist nicht ungefährlich.
Eine zweite Negativ-Besprechung erhielt das Werk einer Französin (vielleicht liegt es ja an misslungenen Übersetzungen, dass ich keinen Zugang zum Thema oder zum Protagonisten finde) – in diesem Fall war es die eindeutige Verhackstückung der Sprache, die mir gegen den Strich ging [siehe die Rezension im Glarean Magazin über Hélène Cixous: Manhattan]. Vorwerfen kann ich der Autorin ihren Dekonstruktivismus nicht, aber ich persönlich mag es nicht, wenn ich als Leserin für eine Mission eingespannt werde. (Das mögen natürlich andere Leser anders sehen, aber nun gut – auch Buchbesprecher sind Menschen.)
Ein drittes Buch – Gedichte! Also, Lyrik muss man im Blut haben. Lyrik heisst nicht zwangsläufig, dass es sich reimen muss – aabb oder abab oder abba (die noch raffinierteren anderen Reimformen lasse ich beiseite). Lyrik bedeutet vielmehr Rhythmus und Melodie. Und selbst wenn die „Auflösung“ derselben gedichtet wird, ist „Dichten“ eine hohe Kunst, die ich erst einmal beherrscht haben muss, um sie hinter mir zu lassen. Aber wenn da kein Gespür für das Wort ist, … ich masse mir an, dergleichen zu erkennen. In jenem Gedichteband sah ich sowohl mein Sprachempfinden als auch die Rhythmik der deutschen Sprache beleidigt.
Nahezu jedes Buch indes gewinnt mein Herz, wenn ich einen „Genius“ darin entdecke. Jenen Funken Wirklichkeit, den man nicht wollen kann, der ausserhalb unserer Absicht west. Und der steckt bereits in den ersten Seiten und strahlt! Glauben Sie mir.

Ein philosophischer Moloch

Der als „philosophischer Roman“ angekündigte Titel „Der Tod in Potenzen“ von Simone Stölzel ist bei mir durchgefallen. Bereits nach spätestens 40 Seiten. Ein philosophischer Moloch … viel gewollt, wenig gekonnt.
Doch zunächst: eine Inhaltsangabe. Um mir nicht die Finger wundzutippen, kopiere ich einfach aus der Verlags-Ankündigungsseite:

In „Der Tod in Potenzen“ sucht Privatdetektiv Walter Hertz nach dem Homöopathen Dr. Simon Geiger, der seit Wochen spurlos verschwunden ist, und stösst auf vielerlei Seltsamkeiten. Geiger begegnet ihm wiederholt in seinen Träumen, merkwürdige Gegenstände und Symbole tauchen auf, von einem Tag auf den anderen erhält er anonyme Drohanrufe. Hertz muss sich mit versponnenen Homöopathen und aggressiven Schulmedizinern, enttäuschten Frauen und immer wieder mit der Frage auseinandersetzen, was für abgründige Forschungen Geiger eigentlich betrieben hat. Dabei scheint alles um zwei Themen zu kreisen: Was ist eigentlich die Zeit? Und: Was geschieht mit uns, wenn wir auf vernünftige Fragen keine plausiblen Antworten erhalten? Hier geht es um ein hintersinniges Spiel mit verschiedenen Reflexions- und Bedeutungsebenen, um schwarzromantische Motive wie um philosophische Ideen, die mehr Fragen als Antworten aufwerfen. Und dabei dürfen die Leser dem Detektiv beim Denken stets über die Schulter schauen.

Homöopathisch in die Länge gezogen

Ich begann interessiert zu lesen, immerhin war der Hinweis auf die Homöopathie der Anlass gewesen, mich des Titels überhaupt anzunehmen. Ich war gespannt darauf, wie Simone Stölzel den Spagat hinbekäme. Sagt Ihnen „Arsenicum album“ etwas? Abgesehen davon, dass dieses Mittel eines der bekanntesten Konstitutionsmittel in Samuel Hahnemanns heilkundlichem System darstellt, ist es das Thema im ersten Kapitel. (Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt, dass jedes Kapitel den Namen eines Mittels trägt, und dieses im Text sehr deutlich und aufdringlich als Mittelbild dargestellt wird. Nachlesen kann der Leser die Mittelbilder zusammengefasst am Ende des Buches.)

Die deutliche Beschreibung, ja, die übergenau gezeichnete Arsenicum-album-Persönlichkeit mag für einen Homöopathie-Eleven faszinierend sein, für die Exposition eines Krimis ist sie tödlich. Die Arsenicum-Album-Persönlichkeit in ihrer unerlösten Form ist eher jemand, der Türen schliesst, statt sie zu öffnen. Das erste Kapitel zieht sich in die Länge.
Die Autorin schreibt wortverliebt und steckt ambitioniert auch in ihre weiteren Handlungsbeschreibungen viele Details hinein. Der Protagonist beginnt seine Ermittlung, etwas zwischen einem „stream of consciousness“ und körpersprachlichen Details ist das Ergebnis. Der Leser – in diesem Fall ich – vermag kaum mehr Luft zu bekommen, so dicht und voll ist der Raum zwischen den Zeilen.

Ein noch nicht spannender Krimi

Im zweiten Kapitel wird der Detektiv in die Wohnung des Verschwundenen geschickt; wiederrum wird detailreich jede Bewegung seinerseits geschildert. Nun wird es eine Mischung aus Schnitzeljagd, Erkenntnisweg und (noch nicht spannendem) Krimi.

FAZIT: Es hätte der Homöopathie gut getan, wenn Simone Stölzel in ihrem „Tod in Potenzen“ zu den ausgewählten homöopathischen Mitteln Kurzgeschichten verfasst hätte. Es hätte dem Kriminalfall gut getan, wenn die Autorin vielleicht allenfalls dem Protagonisten und dem Homöopathen ein Mittel zugewiesen und diese als „Gegenspieler“ oder Antidote gezeichnet hätte, subtiler aber bitte, nicht so derart augenfällig. Es hätte der Philosophie gut getan, wenn man sie ganz rausgelassen hätte, zumindest aus der Ankündigung und auf dem Bucheinband…

Was ist hier los? Dreierlei – schätze ich:
• Es haben sehr viele Leute mitgewirkt, gegengelesen, lektoriert (liest man in der „Danksagung“!) – und das ist vermutlich auch das Verderben. Keiner hat aber gemerkt, dass man kürzen, straffen müsste… Vor allen Dingen hätte es ein Fokus getan: Entweder über die Zeit philosophieren, oder über die Homöopathie schwätzen.
• Auch ich kenne den Wunsch, ein altes, wiedergefundenes Manuskript wieder zu beleben. Mensch, man war doch damals mit Herzblut dabei! Das Neuschreiben ist ein schwieriges Unterfangen und verlangt konzentrierte Selbstkenntnis. Es ist sehr schwer, von unreiferen Schreibgewohnheiten herunterzukommen. In diesem Fall ist es nicht gelungen. Die Autorin ist von ihrem früheren Stil (den ich nur erahne – z.B. hat sie schulaufsatzmässig zu viele Adjektive dort eingesetzt, wo diese eher stören als weiterbringen) nicht zu einer neuen, gewachsenen, erwachsenen Form gelangt. Entstanden ist eine fleissig gesammelte und „richtig“ recherchierte Arbeit – aber sie liest sich langweilig. Es fehlt der Geistesfunke.
• Ich weiss, wovon ich spreche – denn soooo habe ich auch mal geschrieben, vor 20 Jahren. Im Rausch der eigenen, subjektiven Begeisterung, einer Welterkenntnis und dem Wissen über ein interessantes, faszinierendes Randgebiet auf der Spur zu sein, habe ich viel zu viel gewollt, doziert und damit die Erzählung ermordet.

Bitte subtiler!

Kurz zusammengefasst: Es hätte der Homöopathie gut getan, wenn Simone Stölzel in ihrem „Tod in Potenzen“ zu den ausgewählten homöopathischen Mitteln Kurzgeschichten verfasst hätte. Es hätte dem Kriminalfall gut getan, wenn die Autorin vielleicht allenfalls dem Protagonisten und dem Homöopathen ein Mittel zugewiesen und diese als „Gegenspieler“ oder Antidote gezeichnet hätte, subtiler aber bitte, nicht so derart augenfällig. Es hätte der Philosophie gut getan, wenn man sie ganz rausgelassen hätte, zumindest aus der Ankündigung und auf dem Bucheinband. Die Leser kommen schon von selbst darauf. Si tacuisses, philosophus mansisses. ♦

Simone Stölzel: Der Tod in Potenzen – Philosophischer Roman, 320 Seiten, Herder Verlag, ISBN 978-3-495-48977-2


Karin Afshar

Karin Afshar - Glarean MagazinGeb. 1958 in der Eifel/D, Studium der Sprachwissenschaft, Finn-Ugristik und Psychologie, Promotion, zahlreiche belletristische und fachwissenschaftliche Publikationen, lebt in Bornheim/D

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Edgar Rai: Halbschwergewicht (Roman)

Vom Opfer zum Täter

von Christian Busch

„Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei. […] Der schreckliche Augenblick war gekommen (schrecklich, Franze, warum schrecklich?), die vier Jahre waren um. Die schwarzen, eisernen Torflügel, die er seit einem Jahr mit wachsendem Widerwillen betrachtet hatte [Widerwillen, warum Widerwillen?), waren hinter ihm geschlossen. Man setzte ihn wieder aus. […] Die Strafe beginnt…“

…und mit ihr die Geschichte des Franz Biberkopf in Alfred Döblins populärem, bahnbrechendem Roman „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahre 1927.

Knapp 90 Jahre später befindet sich der halbschwergewichtige Boxer Lucky alias Stefano Ferrante in der gleichen Situation, als er nach Verbüssung seiner dreieinhalbjährigen Haftstrafe wegen angeblicher Ermordung einer Edelprostituierten die Berliner Justizvollzugsanstalt – allerdings mit elektronischer Fussfessel – verlassen darf. Und so präsentiert sich der neue Roman „Halbschwergewicht“ von Edgar Rai, dem vielseitigen und immer für literarische Überraschungen guten, in Berlin lebenden Autors, zunächst als – allerdings lebendig und unterhaltsam gestaltete – Sozialstudie.

Nicht ohne Klischees, aber in sich stimmig

Edgar Rai - Halbschwergewicht - Roman - Cover - Piper Verlag - Rezension Glarean MagazinLuckys ein wenig klischeehaftes, aber stimmiges Schicksal ist das eines früh enttäuschten, vom Vater verlassenen und aus Arbeiterverhältnissen stammenden Jungen, der sein Aggressionspotential und sein Talent im Boxen entdeckt und trotz fürsorglicher Betreuung durch seinen Trainer Helmut in falsche Kreise und Milieus gerät. Als er sich in Yvonne verliebt, verliert er vollends die Übersicht, so dass seine kriminelle Umgebung in Gestalt von Nino und Marcello ihn aufs Kreuz legt, indem sie ihm Yvonne ausspannen und ihm einen Mord an der attraktiven, halbseidigen Djamila anhängen. Zu allem Unglück hatte er sich in seinem letzten Kampf eine auch noch abgesprochene Niederlage durch K.O. eingehandelt. So Lucky Loosers erster Weg zu Helmut, von dem er sich Hilfe und Aufklärung der Ereignisse von damals erhofft. Doch bevor es zum Gespräch kommt, liegt Helmut von einer Kugel getroffen tot auf dem Tisch – und steht Lucky mit seiner verbeulten Visage und stotterndem Wesen als dringend Tatverdächtiger schon wieder in äusserster Bedrängnis.

Zwischen Roman und Krimi

FAZIT: Der neue Roman von Edgar Rai: Halbschwergewicht knüpft nur im ersten Teil an Döblins epochalen Grossstadtroman und Sittengemälde an, dennoch gelingt ihm ein unterhaltsamer, fesselnder, verschiedene Genres gekonnt mischender Roman, der besonders aufgrund seiner cineastischen Visualität und menschlichen Nähe zu seinen Figuren überzeugt.

Doch wenn der personale Erzähler dann in die Rolle des 27-jährigen Kriminalassistenten Florian Seibold schlüpft, verwandelt sich der Roman in eine Kriminalgeschichte. Seibold und seine deutlich ältere, aber ungemein attraktive Chefin Frau von Engelbrecht beschäftigen sich nun mit der Fahndung nach Lucky und den in der Folge passierenden Ereignissen, deren Aufklärung sie auch – und das ist vielleicht das gelungenste am Roman – persönlich einander immer näher kommen lässt. Diese geschickte Doppelperspektive lässt den Leser nun immer schwanken zwischen der Sorge um das Schicksal des armen Preisboxers und dem Gefallen an den sympathischen, um die Lösung des mysteriösen Falles bemühten Kriminalbeamten.

Ein Hauch von Gaunerromantik

Autor Edgar Rai in einer öffentlichen Bücherlesung (Glarean Magazin)
Autor Edgar Rai in einer öffentlichen Bücherlesung

Es folgt Luckys turbulente und manche Überraschung bietende Grossstadtodyssee, die zunächst zum seelenverwandten Mauerblümchen Babsi, dann aber in Box- , Rotlicht- und Goldkettchen-Milieu führt. Luckys wundersame Wandlung vom passiven Opferlamm zum kühl kalkulierenden Akteur erlebt der Leser parallel zur holprigen, von gegenseitigen Anziehungskräften flankieren Untersuchungsarbeit des Kommissar-Duos. Das ist stets unterhaltsam und – wie man es vom Autor längst gewohnt ist – bestens in szenisch-visueller Manier aufbereitet, so dass man sich als Leser wie im Kino fühlt. Das Ganze kulminiert in der orgiastischen Szene, in welcher dem von Koks, Viagra und Alkohol vollgepumpten Marcello beim befohlenen Vögeln von Yvonne eine Kugel die Gehirnmasse aus dem Kopf quillen lässt. Längst ist aus dem als Sozialstudie beginnenden und als Krimi fortgesetzten Roman ein Action-Thriller geworden, dessen flott komponiertes Ende durchaus moralische Bedenken aufkommen lassen könnte.
Am Ende weht jedoch ein Hauch von Gaunerromantik über dem Roman, welcher den Leser die Grenzen seiner Freiheit ein Stück weiter setzen lässt als vielleicht moralisch üblich – Tschick lässt grüssen!

Edgar Rai: Halbschwergewicht – Roman, 272 Seiten, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-05885-8

Lesen Sie im Glarean Magazin auch über den neuen Roman von
Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten

Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten (Roman)

Ein Leben ohne Gedächtnis

von Günter Nawe

Vor wenigen Wochen ist sie 80 Jahre alt geworden: Joyce Carol Oates, amerikanische Schriftstellerin von Rang, Autorin grosser und bedeutender Romane, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Mehrfach würde sie bereits für den Literaturnobelpreis nominiert.

Joyce Carol Oates Der Mann ohne Schatten Roman-Literatur-Rezension Glarean Magazin„Die Liste meiner Bücher ist überwältigend“, hat sie einmal gesagt. Und in der Tat, vor dem Leser liegt ein Lebenswerk. Als wäre das nun mit 80 immer noch nicht genug, legt die Autorin ein neues Buch vor. Und nicht nur das: Joyce Carol Oates hat – wie schon so häufig – für ihren Roman „Der Mann ohne Schatten“ einen ungewöhnlichen Stoff gewählt und daraus eines der aufregendsten Bücher der Saison geschrieben.

Neurowissenschaft im Roman

Protagonist dieses Romans ist Elihu Hoppes, ein renommierter Wirtschaftsprofi, der im Alter von 37 Jahren sein Gedächtnis verliert. Die medizinische, die neurologische Diagnose: „Während er allein auf einer Insel im Lake George, New York, zeltete, infiziert er sich mit eine besonderen virulenten Form der Herpes-simplex-Enzephalitis, die sich in der Regel als Fieberbläschen auf einer Lippe manifestiert und innerhalb weniger Tage wieder vergeht; in seinem Fall wanderte die Virusinfektion durch den Sehnerv bis ins Gehirn, wo sie ein protrahiertes hohes Fieber auslöste, das sein Erinnerungsvermögen schädigte.“ –
Der Leser wird sehr viele Passagen dieser Art lesen, mit denen wissenschaftlich untermauert, die seltene Erkrankung des Patienten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen verdeutlicht werden. Diese Passagen sind wesentlicher Bestandteil dieses Romans, ohne dass die Lesbarkeit leidet.

Ein Erinnerungsvermögen von 70 Sekunden

Zurück zum Geschehen. Elihu Hoppes ist seither ein Fall für die Neurowissenschaft. Erinnert er sich noch an das eine und andere vor der Erkrankung, ist er ,obwohl mittlerweile um einiges älter, auf dem Niveau des Siebenunddreissigjährigen geblieben. Und dessen Erinnerungsvermögen aktuell genau 70 Sekunden beträgt.

FAZIT: Erinnerung für 70 Sekunden – und ein Fall für die Wissenschaft. Die amerikanische Autorin Joyce Carol Oates hat mit „Der Mann ohne Schatten“ einen überzeugenden Roman geschrieben – einen Roman auch über einen Gedächtnisverlust und eine unmögliche Liebe, über den Widerstreit von Gefühl und Verantwortung, über Einsamkeit und Nähe. Thematisch wie sprachlich gelungen.

Ein Fall, mit dem sich die renommierte Neurowissenschaftlerin Margot Sharpe intensiv beschäftigt. Über Jahre hinweg beobachtet sie den Probanden, unterzieht ihn verschiedenen Tests, veranlasst laufende Untersuchungen, um hinter das Geheimnis des Gedächtnisverlustes zu kommen. Ihn, „der in ewiger Gegenwart gefangen“ ist. „Wie jemand, der im Halbdunkel der Wälder im Kreis herumläuft – ein Mann ohne Schatten“. Elihu vergisst immer sehr schnell, wer er ist. Auf einen Nenner gebracht: Elihu Hoppes führt ein Leben ohne Gedächtnis. Ein Leben, das auch bestimmt wird durch ein Erlebnis in früher Kindheit, bei dem es um die Ermordung seiner elfjährigen Cousine geht. Es begleitet ihn fragmentarisch auch in der Zeit nach dem Gedächtnisverlust und wirkt wie eine Art Fluch.

Wechselnde Erzählperspektiven

Joyce Carol Oates - Glarean Magazin
Joyce Carol Oates

Dann aber passiert etwas, was nicht sein darf – und Margot Sharp weiss das: Zwischen der Wissenschaftlerin und dem Patienten entwickelt sich eine Beziehung. Käme das heraus, wäre ihr Ruf ruiniert. Dennoch: Sie „lebt“ mit ihrem Probanden über dreissig Jahre sozusagen als Geliebte, gaukelt ihm vor, sie wäre seine Frau. Die Frau eines Mannes, der trotz seines Gedächtnisverlustes attraktiv und vital ist, Tennis spielt und auch sexuell aktiv ist. Eine unmögliche Beziehung also. Margot ist sich der Problematik ihrer Beziehung bewusst, kann aber von ihr zunehmend weniger lassen und gerät auf diese Weise immer stärker in Gewissensnöte bis hin zu einer veritablen Lebenskrise.
Immer wieder ändert Joyce Carol Oates die Erzählperspektive und schafft so, nicht zuletzt durch eine eingebaute Krimistory, Spannung. Mal erzählt Hoppes, mal Margot, dann wieder Dritte. Auf diese Weise gelingt des der Autorin, ein heikles, wissenschaftlich grundiertes Thema lesergerecht aufzubereiten. Sie tut es in diesem Roman über die Liebe, die Erinnerung, über die Einsamkeit und Nähe mit grossem Einfühlungsvermögen in die Psyche ihrer Figuren.

Authentizität durch Realität

Der Mann ohne Gedächtnis ist ein Roman. Dass ihm ein tatsächlicher Fall zugrunde liegt, erhöht die Authentizität der meisterhaften Schilderung der Autorin, die auch gekonnt auf der komplexen Klaviatur von Psychologie und Neurologie spielt. Joyce Carol Oates: „Ich wollte einen Roman schreiben über eine sehr intensive Beziehung zwischen einer weiblichen Wissenschaftlerin und ihrem männlichen Forschungsobjekt“ und „Darüber, wie ihre intensive Freundschaft zu einer erotischen und gleichzeitig zutiefst emotionalen Beziehung wird.“ – Das ist ihr überzeugend sowohl von der Thematik her als auch sprachlich gelungen. ♦

Joyce Carol Oates: Der Mann ohne Schatten (Roman), 378 Seiten, S. Fischer Verlag, ISBN 978-3-10-397276-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Literatur auch über
Patrick Worsch: Fotomord (Roman)

Jörg Schieke: Antiphonia (Gedicht)

Dynamische Lebensuhr am Ticken gehalten

von Heiner Brückner

Die Lyrik in „Antiphonia“ von Jörg Schieke ist kein Lied zur Laute gezupfter, melodischer Reimlaute, sie ist eher das Trommelfell einer Pauke, auf der sämtliche Wohllaute und Disharmonien geschlagen werden.
Das Lyrische Ich übernimmt in diesen Gegenlauten eine gegenwartsnahe, mehrnationale Exempelfamilie mit programmatischen Vornamen – etwa Heinrich (respektive Heiner), oder auch Thorben. Als Allerstes dachte ich an Doktor Heinrich im „Faust“. Doch dann musste ich lesen: „… hat noch in keinem/weiblichen Wesen seine Erkennungsmelodie/hinterlassen….“ Solche Charaktereigenschaften taugen nicht für diese Adelung. Ausserdem wird er bereits in einer der nächsten ungereimten Strophen zum „Fettwanst Heiner“ degradiert.
Im zweiten Kapitel ist er der Erfinder von „Das Antiphon“ und wird zu einer der Hauptfiguren. Das wiederum weckte in mir für einen kurzen Moment den Vergleich mit dem Stimm-Instrument des Oskar in der „Blechtrommel“ von Günter Grass oder an „Schlafes Bruder“ von Robert Schneider. Andere Vornamen sind Jaqui, das „Ri-Ra-Rasse-Weib“, das sich als „Randaliererin“ entpuppt, oder Haka, ein türkischer Vorname persischer Herkunft. Ansonsten wimmelt es von Mam, Mom, Mum und Dad etc. Eine offensichtlich multinationale Familie ist hier im Entstehen.

Gegensätzlichkeit als Unruhe der Lebensuhr

Jörg Schieke - Antiphonia - Gedicht - Poetenladen - Glarean MagazinDas buchstarke Prosagedicht „Antiphonia“ in sieben Abteilungen/Kapiteln beginnt mit der Geburt, und zwar so, dass ein Paar „aus Liebe drei Kinder veröffentlicht“. Apropos „veröffentlicht“: ein anreizender Einstieg, der aufhorchen lässt und den Leser sofort mitnimmt. Nicht geplant oder gedacht oder gezeugt oder geboren oder in die Welt gesetzt – etwas bereits Vorhandenes wird in die Öffentlichkeit als fertig, erwachsen, reif entlassen, somit zu einer öffentlichen Person. Wird der weitere Verlauf eine Fabel, eine Familiensaga, ein Märchen gebären? Jedenfalls erkennen sich die Personen im Laufe der Entfaltung alle irgendwie und irgendwann wieder. Selbstredend gehören ein Hund und weitere Klischee- respektive Mode-Accessoires der Neuzeit zu diesem Verbund, der sich – Achtung Anti… ! – selbst infrage stellt, widerspricht, aber durch seine dynamische Gegensätzlichkeit als Unruhe die Lebensuhr am Ticken hält. Die ungewohnten Wortkombinationen und -spiele fallen ins Auge, erwecken aber gleichzeitig eine mitdenkende Spannung, die die Kreativität des Autors sehr schnell und mit Leichtigkeit auf den Leser überspringen lässt.

Sprachlich gelungene Lyrik

Nie zuvor habe ich so viele Man- und Allgemeinplatz-Sätze, Aphorismen und Kalendersprüche in einem als Gedicht bezeichneten Werk gefunden. Jörg Schieke setzt sie in einen Zusammenhang, in dem sie ironisch oder satirisch, aber nicht wie Kalauer klingen. Denn ihnen folgen sogleich Verse wie beispielsweise „Der Mond wollte Hakan ein Geheimnis anvertrauen“.
Sprachlich gekonnt, ach was, ich will euphorisch sein: gelungen. Mich begeistern einfach Wendungen wie „Kredit für eine Reise nach Kreta di Mallorca“ oder „Die Wimper in … Schlaf eingepackt“. Nicht weniger: „… aus dem Mac/gebrochene Apfeltaste…“ Jedes Wort ist zu betonen, so wichtig ist es an seinen Ort gesetzt. Schieke schmettert pausenlos ein immenses Sammelsurium an aktuellen Keywords auf das Blick- und Hörfeld. Ich wurde von seinen Schmettersätzen und derartigen Wortsequenzen getroffen und spielte das Match bis zum Ende mit.

„Antiphonia“ kommt mir vor wie die Kindheitswiege, die durch die Zeitenläufe schaukelt, gelegentlich aneckt, um dadurch neuen Drive zu bekommen oder wieder in die Balance gestossen zu werden, bis sie erneut gegen einen Irrwitz stösst, der sie in leicht geänderten Nuancen mit neuem Schwung und Gegenschwung wiegen lässt. Hinzu kommt eine unglaublich vielseitige Themenladung. Man kann dieses Gedichtepos im Flug durchstreifen, aber erfassen wird man es nach mehrmaligem Lesen und Studieren nicht so schnell, zumindest nicht in seiner Komplexität. Es bleibt ein langwährender klingender Tonsatz, komponiert aus dem Gegenwartswortschatz in der Art von Call-and-response-Gesängen. Das Geheimnis um das „Antiphon“ wird erst auf Seite 62 gelüftet.

Die Alltagswelt imaginiert

Jörg Schieke - Autor von Antiphonia - Rezension im Glarean Magazin
Jörg Schieke (Geb. 1965 in Rostock)

Bemüht, möglichst viele Bedeutungsschichten zu fassen, ohne sich besserwisserisch auf eine festzulegen, lässt Schieke dem freien Geist Spielraum, seine Erkenntnis gesellschafts-, weltpolitisch oder menschheitsgeschichtlich zu gewichten. Mir kommt die Forderung Karl Krolows an den Lyriker in den Sinn. Er solle ein „heiterer Zauberer sein, dem eine ganze Welt der Imagination zur Verfügung steht“. Heiter sind Schiekes Verse nicht überwiegend, aber sie imaginieren die Alltagswelt sowie deren Über- oder Hinterwelt und versetzen den Leser, nachdem sie ihn kurz vom Spielfeld gehoben haben, wieder zurück und hinein, allerdings ein, zwei Schritte weiter als zuvor.
Ab dem dritten Abschnitt, nach der Entfaltung der Familienverhältnisse dieser multinationalen und vielcharakterlichen Familie, geht es um Gold, Geld und hochgesteuerte Produktionsprozesse. Kuriose Wortschöpfungen (etwa „Raufasergaleeren“) zeichnen die Geschichte einer total verrückten Familie alias Gesellschaft aus, die nicht erkennen will, dass sie unter „… Zu viel Erinnerung//bei zu wenig Vergangenheit …“ leidet.

Durchkomponierte Prosa-Lyrik

Nach dem Lesen deutet sich das photofreie Cover als prägnante Inhaltsangabe. Drei mal drei Scheiben mit vier Wortringen aus Versen liegen an- und teils übereinander und umschliessen Autorennamen und Titel sowie Untertitel. Die mittlere Schriftfarbe in zartem Wachsgrün, die beiden lappenden in gesetzter Druckerschwärze. Die Scheiben reiben sich, rotieren und revoltieren. Das Titelwort steht kopf, will auf die Füsse gestellt werden. Es könnten aber auch Schallwellen aus Wörtern sein, die sich im Buchstabenmeer konzentrisch ausbreiten wie möglicherweise der Stein der Weisen. Einprägsamer ist die „Antiphonia“ graphisch wohl nicht umzusetzen. Wenn das nicht der endgültige Beweis für eine bis zur letzten Note durchkomponierte Prosalyrik ist, die der Leipziger Poetenladen-Verlag geoutet hat… Wer übrigens einen Auszug von „Antiphonia“ auch klanglich wahrnehmen möchte, findet einen rund dreiminütigen Stream bei Lyrikline.org.

FAZIT: „Antiphonia“ von Jörg Schieke ist ein Prosa-Gedicht-Stück, das in wortschöpferischer Sprachgewandtheit die gegenwärtige Gesellschaft und lebensprägenden Gepflogenheiten abbildet. Wer Gedicht weiterhin als melodische Textform versteht, muss seine Typisierung weglegen, um in den Vollgenuss der neuartigen lyrischen Gestaltung zu kommen.

„Antiphonia“ von Jörg Schieke ist ein Prosa-Gedicht-Stück, das in wortschöpferischer Sprachgewandtheit die gegenwärtige Gesellschaft und lebensprägenden Gepflogenheiten abbildet. Wer Gedicht weiterhin als melodische Textform versteht, muss seine Typisierung weglegen, um in den Vollgenuss der neuartigen lyrischen Gestaltung zu kommen. ♦

Jörg Schieke: Antiphonia – Gedicht, 80 Seiten, Peoetenladen-Verlag Leipzig, ISBN 978-3-940691-93-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Lyrik auch von
Andreas Wieland: Mit ausgreifendem Schritt (Gedicht)

… sowie von
Bruno Schlatter: Höhenwegkoller (Gedicht)

Aldous Huxley: Essays Band II – Form in der Zeit

Über die Entmenschlichung der Gesellschaft

von Heiner Brückner

Warum sollte man heute noch den Autor Aldous Huxley (1894 bis 1963) lesen? Seine provokanten, nahezu sarkastischen Visionen in „Schöne neue Welt“, dass der technische Fortschritt die Menschheit entmenschlichen werde, sind, wenn man das so sehen will, zum Grossteil verifiziert. Wenngleich die Menschheit sich mitentwickelt hat und sich auch der explosionsartigen Weiterentwicklung der High-Technologie anpassen wird. Das nennt man wohl Evolution.

Aldous Huxley - Essays 2 - Form in der Zeit - Cover - Piper Verlag - Rezension Glarean MagazinThematisch nehmen die Werke des englischen Journalisten, Theaterkritikers und späteren Romanciers, der 1937 in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist, vorrangig die Entmenschlichung der Gesellschaft durch wissenschaftliche Selektion, Aufzucht und Normierung von Menschen im Fortschritt der Weltstaat-Gesellschaft in ihren Fokus. Gerade deswegen sollte man die Hintergründe der Denkwelt dieses Visionärs kennen lernen. Eine hinreichende Möglichkeit bieten seine Essays im 2. Band der Reihe, die aktuell der Piper-Verlag veröffentlicht hat. Besonders was die Formen von Literatur, Malerei und Musik seiner Zeit betrifft, während der erste Essay-Band vorwiegend Reiseberichte gesammelt hat. Essays und wenige Gedichte aus Buchausgaben und Zeitschriften von 1923 bis 1971 wurden zusammengestellt. Intensivieren und vertiefen kann der Leser die Texte anhand des mitgelieferten ausführlichen Anmerkungsapparates.

Wirkung und Grenzen der Kunst

Literarischer Visionär und Gesellschaftskritiker: Aldous Huxley (1894-1963)
Literarischer Visionär und Gesellschaftsphilosoph: Aldous Huxley (1894-1963)

Im Vorwort, das nicht nur eine Vorrede ist, sondern bereits als Essay verstanden werden darf, skizziert er die Wirkmacht und Grenzen der drei genannten Kunstformen. Musik und Malerei vermögen die Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren auszudrücken. Aber kann das die Literatur ebenso? „Wir können zu gleicher Zeit mehr als eines sehen und mehr als eines hören, doch leider Gottes können wir nicht mehr als eines auf einmal lesen.“ Er habe deswegen vorgezogen, „… tangential, über Kunst zu schreiben“. Der Gegenstand der Poesie müsse aus dem „inneren Sein“ des Dichters kommen, auch wenn sein Universum „nur eine kleine Provinz“ beanspruchen kann. Seinen Geist stützt er beim Schreiben auf eine Sammlung guter Bücher.
Huxley ist stets bemüht in den Essays die Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung über den Zeitgeist hinaus in der Zukunft ins Visier zu nehmen. Das Chaos, in dem das Gegenteil endet, hat er in seinen Romanen veranschaulicht. Vor allem in der „Schönen neuen Welt“(1932). Dort entwickelte sich aus reinem Vergnügungs-Interesse eine Orgie, an deren Ende der Protagonist nach dem Aufwachen Suizid begeht.

Verständlich erklärt und brillant geschrieben

Nicht nur seine Denkart als Schriftsteller bringt er uns näher, er vermittelt auch die Basics einer Theorie von Literatur und Kunst, indem er verständlich erklärt und brillant, offen geständig und ungeschminkt vom Gemüt und von der Ambivalenz schriftstellerischen Schreibens und des eigenen sowie des Lesers Anspruch an seine Thematik und Formatik erzählt. Er lässt darin die Eitelkeit des Autors und Kritikverdrossenheit nicht unerwähnt. Nebenbei ist eine exklusive Shortlist einer individuellen Literaturgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts und kritische Anmerkungen bis hin zu Rezensionen bedeutender Werke der Weltliteratur entstanden. Das leistet die Würdigung berühmter Klassiker, aber vor allem auch weniger bekannter Autoren, die Huxley somit in den Rang der Exklusivität erhebt. Nur wenige seien angeführt: Die Italiener, die „aus hundertjährigen Gedenkfeien Lebensfreude“ schöpfen, oder sein Landsmann Edward Lear mit seinem „Nonsense“, der ihm als einer der wenigen „auf eine zweite Lektüre Lust“ macht. Oder der „Wüstling“ Baudelaire als „grosser Philosoph“. Diese Andeutungen sollen genügen, um auf die Sphäre der unbedingten Lesbarkeit Huxley’scher Essays aufmerksam zu machen und darauf, „dass das Leben es wert ist, gelebt zu werden“.

Was ist eigentlich „modern“?

FAZIT: Die in gut nachvollziehbarem und lesbarem Erzählstil, ohne akademisch-trockene Wissenschaftlichkeitsallüren verfassten Essays von Aldous Huxley „Form in der Zeit“ erschliessen den Hintergrund des Denkhorizonts und der Erlebenswelt des Dichters und kommentieren gekonnt subjektiv wichtige Epochen und ihre kulturhistorischen Vertreter in der Literatur, Malerei und (bruchstückhaft) Musik der drei vergangenen Jahrhunderte.

Was für die Literatur gilt, stimme auch für die Bildende Kunst. In diesem Abschnitt gibt Huxley eine Antwort auf die Frage, was eigentlich „modern“ heisst und wer oder was ein Maler sei. Ausgewählt wurden vorwiegend Essays zu Breughel, El Greco und Goya. Und er beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Kunst und Religion am „rätselhaften Fall der Barockkunst und des Katholizismus im 17. Jahrhundert“. Im Barock fühlten sich die Künstler vermutlich „Zur Erkundung des Übermässigen veranlasst“. Am Ende spielten viele, auch gegensätzliche Determinanten die entscheidende Rolle. Selbst im Zeitalter der Atomphysik blühten Astrologie und der Glaube an Zahlen. Huxley gelangt zu dem Schluss, dass Kunst und religiöses Leben eher im Nebenher als in der Verschmelzung existierten.
Am kürzesten fällt die Rubrik über Musik aus. Beethoven habe seines Erachtens Glückseligkeit im „Benedictus“ zum Ausdruck gebracht. Im Allgemeinen sei aber die Wahrheit eines Musikstückes nicht isoliert zu betrachten, folglich auch nicht in Worte zu fassen. „Der Rest ist Schweigen“ – so ein Essay-Titel. Und Gesualdo mit „Variationen über ein musikalisches Thema“.

Die in gut nachvollziehbarem und lesbarem Erzählstil, ohne akademisch-trockene Wissenschaftlichkeitsallüren verfassten Essays von Aldous Huxley erschliessen den Hintergrund des Denkhorizonts und der Erlebenswelt des Dichters und kommentieren gekonnt subjektiv wichtige Epochen und ihre kulturhistorischen Vertreter in der Literatur, Malerei und (bruchstückhaft) Musik der drei vergangenen Jahrhunderte. ♦

Aldous Huxley: Essays Band II – Form in der Zeit, Über Literatur, Kunst, Musik, 336 Seiten, Piper Verlag, ISBN 978-3-492-50111-8

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Gesellschaftskritik auch das Zitat der Woche:
Von den Deckmäntelchen „Modernisierung“ und Flexiblisierung“

Patrick Worsch: Fotomord (Roman)

Ein Täter wider den Trend

von Horst-Dieter Radke

Eine alleinerziehende Mutter in Wien verliert ihren Job an einer Tankstelle, weil sie einer Prominenten untersagt hat, Bilder aus dem Kindergarten, auf denen auch ihr Sohn zu sehen ist, zu posten. Ein stiller Verehrer, der von Anfang an als Sonderling gezeichnet wird, bekommt das mit und will Rache nehmen für die Angebetete. Die Tochter der Familie, die für die Entlassung verantwortlich ist, will er entführen und so auf das Problem aufmerksam machen, dass Eltern Bilder ihrer Kinder öffentlich machen ohne dass diese eine Chance haben, sich dagegen zu wehren. Der Gatte ist ausserdem noch ein Politiker, der gerade im Wahlkampf steht und auf Populismus setzt. Die ganze Sache läuft aber aus dem Ruder und endet schlimmer als geplant.

Die Hässlichkeit unserer Onlinekultur

Patrick Worsch - Fotomord - Roman - Amazon Cover - Glarean MagazinLeser, die einen Thriller mit zeitaktuellem Thema lesen wollen, bekommen diesen in dem neuen Roman „Fotomord“ von Patrick Worsch auch geliefert, aber anders als erwartet. Spannungsmomente sind dünn gesät, stattdessen gibt es seitenlange Dialoge, in denen Meinungen und Vorstellungen ausgebreitet werden, auch von Personen, die nur am Rande auftauchen und keine handlungstragenden Rollen spielen. Das Thema selbst – Veröffentlichen von privaten Fotos, insbesondere von Kindern, in aller Öffentlichkeit – wird zwar immer wieder aufgegriffen, aber meistens in extremer, von der Normalität abweichender Form.

Das Figurenpersonal ist meist grob verzerrt gezeichnet: Stillvogel, der alte Nachbar des Sonderlings Trommler, den dieser freiwillig und unentgeltlich zur Dialyse fährt, ist ein negativer, schimpfender, sich in Zoten ausdrückender und überheblicher Mitbürger, wie wir ihn uns alle auch in der gemässigten Form nicht wünschen. Der Bruder jener arbeitslos gewordenen Frau ist ein assimilierter Serbe, der wunderbar das Negativbild der Balkaneuropäer spiegelt. Als sich später die Presse und die ganze Gesellschaft gegen ihn wendet, weil er plötzlich verhaftet wird und als Täter gilt – was er nicht ist –, wird dieses Bild noch gröber. Im zweiten Teil gibt es Einschübe mit Hashtag, die die Onlinekultur unserer Zeit in all ihrer Hässlichkeit zeigen. Einzig hierbei geht es aber letztendlich harmloser zu als in der Realität.

Stilistisch entwicklungsfähig, aber facettenreich

FAZIT: Der Roman „Fotomord“ von Patrick Worsch reisst ein höchst aktuelles Problem unserer Web-2.0-Welt an: Sind Kinderbilder in den Social Medias als Ausdruck elterlicher Liebe zu werten? Oder sind sie bereits Kindesmissbrauch? Self-Publisher Worsch schreibt zwar psychologisch nachvollziehbar und differenziert über den Täter und sein Umfeld – wenn auch manchmal grob überzeichnet -; schrammt das Thema selbst aber nur am Rande. Wer einen puren Spannungsthriller erwartete, wird enttäuscht, wer eine literarische Beschäftigung mit dem Problem der Tätermotivation sucht, kommt auf seine Kosten.

Kein richtiger Thriller, keine spannende Lektüre, übertriebene Darstellung des Romanpersonals – lohnt es sich denn, diesen Roman zu lesen? Doch, das lohnt sich durchaus, nämlich vor allem dann, wenn man sich auf diesen „anderen Thriller“ einzulassen bereit ist. Man legt den Thriller „Fotomord“ vielleicht öfters aus der Hand, als man es bei diesem Genre gewöhnt ist, aber man denkt möglicherweise auch mehr über die einzelnen Facetten der Übertreibungen – bei Personen und Handlung – nach. Der anfangs sehr im Trüben bleibende Trommler, den man sich zunächst gar nicht richtig vorstellen kann, gewinnt nach und nach Kontur, bis er zum Schluss in seiner ganzen Zerrissenheit, aber deutlich vor dem inneren Auge des Lesers steht. Dies ist gut gelöst worden, zumal er, obwohl Täter, der Protagonist des Romans ist. Antagonist ist jemand anderes.
Zu raten ist dem Autor aber für seine folgenden Bücher, bei den überlangen Dialogen lieber etwas zu kürzen. Und das Lektorat sollte sein Augenmerk vielleicht ein wenig auf die umgangssprachlichen Details richten. Es ist zum Beispiel so oft von „Schnallen“ die Rede, das man dann doch hier und da irritiert ist… ♦

Patrick Worsch: Fotomord (Roman), 632 Seiten, CreateSpace Publishing (Kindle Edition – Amazon), ISBN 978-3-200-05609-1

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Kinder auch über den Roman von
Christine Drews: Sonntags fehlst du am meisten

… sowie über den neuen Roman von
Edgar Rai: Halbschwergewicht

Heiner Brückner: Wegzeichen (Drei Gedichte)

Wegzeichen

Wegzeichen

Über den Hügel rast
Asphalt. Wasser
flüstert in der Wiese.

Am Wegrand blüht
Akelei. Kohlweisslinge
gaukeln über Gräsern.

Die Wanderer grüssen
Gott und mich. Zeichen
führen zur Hütte.

Und ist er nicht der Wirt,
seinen Gästen bin ich
begegnet.


Akklimatisierung

Als ich bemerkt hatte,
dass nichts zu ändern ist,
trug ich die Wendejacke.

Ich war gerüstet,
mich stündlich zu ändern.

Seit ich bemerkt habe,
dass jedes sich wendet,
legte ich die Jacke ab.

Ich bin nun gewiss,
wir wärmen uns von innen.


Memorial

Ziehe einen Bohrkern
aus den Gräbern,
er archiviert Verwesung.

Siehe die Zahlen
im glatten Marmor,
sie nennen Anfang und Ende.

Gehe mit leisen Schritten
über die Stätten,
lass Gewesenes ruhen.


Heiner Brückner - Autor Glarean MagazinHeiner Brückner

Geboren 1949 in Bayern; Theologe; war Korrektor für Verlage und Tageszeitungen; Veröffentlichungen von Gedichten, Glossen, Kurzprosa und Rezensionen in Zeitungen und Zeitschriften; lebt und arbeitet in Pressath/D

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neue Lyrik auch von Angela Mund: Das Alter meines Vaters (Gedicht)

… sowie zwei neue Gedichte von Susanne Rzymbowski: Was wär die Kunst…


Philip Teir: So also endet die Welt (Roman)

Ein Urlaub am Meer

von Günter Nawe

Ein Urlaub am Meer, in der Einsamkeit Finnlands. Ein altes, schon etwas verfallenes Ferienhaus. Diese Landschaft, dieses Haus wird im Roman von Philip Teir: „So also endet die Welt“ zum Kristallisationspunkt einer dramatischen Familiengeschichte – eher noch: von vier sehr unterschiedlichen Beziehungsgeschichten.

Philip Teir - So also endet die Welt - Roman - Blessing Verlag - CoverEine ganz normale Familie zieht in dieses Ferienhaus: Julia, mittelmässig erfolgreiche Schriftstellerin, leidet unter einer Schreibblockade, mehr aber noch unter ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau. Ihr Mann Erik allerdings „konnte nicht wissen, wie es war, sie zu sein. Zu fühlen, wie sie. Er konnte ihr die Einsamkeit nicht nehmen.“ Genauso wenig wie Julia sich in die seelische Verfassung ihres Mannes versetzen kann. Erik, gerade entlassen und nun arbeitslos, verschweigt den Rauswurf aus seiner Firma, ist aber auch nur bedingt bereit, sich um einen neuen Job zu bemühen. Stattdessen trinkt er und versucht so, seine Frustration und Depressionen und nicht zuletzt seine Einsamkeit zu bekämpfen.
Längst versuchen auch die beiden Kinder Alice und Anton, sich dieser bedrückenden Atmosphäre zu entziehen. Sie gehen eigene Wege. Anton ist ein stiller, aber sehr genauer Beobachter des Dramas, das sich um ihn herum abspielt. Und Alice findet in Leo einen Partner für die junge Liebe und einen verlässlichen Freund.

Nicht belastbare Lebensentwürfe

Philip Teir: So also endet die Welt - Portrait Glarean Magazin
Philip Teir (Geb. 1980)

Philip Teir hat eine Familiengeschichte geschrieben, in der sich die Lebensentwürfe seiner Protagonisten als nicht belastbar erweisen, Verwerfungen entstehen und gesellschaftliche Normen nicht mehr gelten. Auch weil die Gesellschaft nicht mehr das ist, was sie einmal war.
So werden die Geschichten von Philip Teir zu einem Spiegelbild der Gesellschaft. Vor allem auch in den Beziehungsgeschichten der anderen Menschen, die sich in der Einsamkeit der finnischen Landschaft finden. Und das in einer aufgeladenen Atmosphäre.

FAZIT: Philip Teir hat einen grossen, einen meisterlichen Roman geschrieben, eine Art Psychothriller über so ganz unterschiedliche Beziehungsgeschichten, die über das Persönliche hinaus ein Spiegelbild einer sich grundlegend verändernden Gesellschaft sind.

Roman-Stoff am Puls der Zeit

„So also endet die Welt“ legt einmal mehr – er hat bereits mit dem Roman „Winterkrieg“ 2014 ein grossartige Debut hingelegt – den Finger auf den Puls der Zeit, beweist ein Gespür für menschliche und zwischenmenschliche Gefühlslagen. Immer auch im Kontext zu den gesellschaftlichen Veränderungen, die sich vor allem in einem zweiten Paar manifestieren.
Da sind Chris und Julias Jugendfreundin Marika. Auch deren Ehe leidet – in erster Linie unter dem Verhalten des sexsüchtigen Weltverbesserers und Umweltaktivisten Chris, dessen Credo es ist, „dass es keine Hoffnung gibt, dass uns nicht mehr retten kann“. Auch die Ehe von Chris und Marika nicht.
Teir beschreibt die Situation dieser beiden Paare mit psychologischer Grundierung. Wie mit einem Seziermesser und mit tiefen Gespür für die menschlichen Gefühlslagen legt Philip Teir die Schichten der seelischen Verletzungen offen. Und wie in einem Schachspiel setzt er seine Personen in Beziehungen zueinander. Er beschreibt ihre Sehnsüchte nach Sicherheit, nach Glück, nach Liebe und gleichzeitig ihre Verzweiflung. Ein meisterlicher Roman.
Eine Art Gegenpol bieten Eriks Bruder Anders, eine Art Aussteiger, der sich am Ende in dieser brüchigen, sich auflösenden Feriengesellschaft wiederfindet. Ein stiller, nachdenklicher Mensch. Er wird in der von Depressionen geplagten Therapeutin Katie eine verwandte Seele und endlich einen Halt finden.
Vier Paare in einem Sommerdrama in finnischer Einsamkeit. Über Erik schreibt Teir an einer Stelle „Es war so ein Tag, an dem er eine Wahrheit finden wollte. Gefunden hat er sie nicht“. Erik nicht und allen anderen Personen in diesem Drama nicht. Dennoch: Ganz ohne Hoffnung bleibt der Leser nicht zurück. ♦

Philip Teir: So also endet die Welt, Roman, 300 Seiten, Blessing Verlag, ISBN 978-3-89667-606-1

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Familien-Drama auch über Sandra Brökel: Das hungrige Krokodil

Weitere Links zum Thema Familie als Spiegelbild der Gesellschaft: Ulrike Herwig: Das Leben ist manchmal woanders

50-Euro-Preisrätsel: Wer bin ich? (Woman Power 16 – Literatur)

Schreiben und spielen

von Walter Eigenmann

50-Euro-Preisrätsel Literatur Wer bin ich (Woman-Power 16) - Glarean MagazinIch war wenig mehr als zehn Jahre alt, als ich bereits ein erstes Mal auf den Brettern stand, die die Welt bedeuten. Seitdem hält mich das Theater gefangen, sei es als Schauspielerin auf grossen bundesdeutschen Bühnen u.a. in Brecht-, Kroetz oder Tschechow-Rollen, oder auch als Assistentin bedeutender Regisseure wie Besson oder Langhoff im früheren Ost-Berlin.

Neben meiner Leidenschaft fürs Theaterspielen kristallisierte sich ebenfalls schon sehr bald meine zweite Hochbegabung heraus: Das Schreiben. Mein nach und nach umfangreiches belletristisches Oeuvre an Romanen, Theaterstücken und Erzählungen brachte mir zahlreiche internationale Auszeichnungen ein, u.a. die Mitgliedschaft in der exklusiven Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Eine besonders hohe Ehre war auch die Aufnahme eines meiner Romane in die Sammlung „1001 Books You Must Read Before You Die“.

Also:
Wer bin ich?

Der(Die) erste Einsender(in) der richtigen Lösung via „Kommentar“ unten erhält 50 Euro überwiesen (bitte keinen Nicknamen, sondern realen Vor-/Nachnamen angeben).  – Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. – Einsende-Schluss ist am 28. Juni 2018 (13 Uhr).

Lesen Sie im Glarean Magazin aus der gleichen Serie auch das Literatur-Quiz
Wer bin ich? vom Mai 2011 (Woman Power 12)

Gedicht des Tages von Kurt Leonhard

Ein fussgekitzelter…

Ein fussgekitzelter am Schopf gezogener
fusskitzelnder schopfziehender
Läufer,

verfolgt von einem
am Schopf gezogenen am Fuss gekitzelten
schopfziehenden fusskitzelnden
Läufer,

verfolgt einen
am Fuss gekitzelten am Schopf gezogenen
fusskitzelnden schopfziehenden
Läufer.

Drei kitzelnd gekitzelte ziehend gezogene
gekitzelt ziehende gezogen kitzelnde
verfolgend verfolgte
Läufer:

ein Kreislauf


Kurt Leonhard (1910-2005)

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Lyrik auch das Gedicht des Tages von
Charles Bukowski: Natur-Gedicht

Tracy Chevalier: Der Neue (Roman)

Rassismus und Intrigen – „Othello“ auf dem Schulhof

von Sigrid Grün

Im April 2016, pünktlich zu Shakespeares 400. Geburtstag, startete in über 20 Ländern das „Hogarth Shakespeare Projekt“, bei dem es darum geht, dass zeitgenössische Autoren Shakespeare neu interpretieren. In dem Roman von Tracy Chevalier: Der Neue erzählt die Autorin die Geschichte von Othello, dem Mohr von Venedig neu.
Washington D.C., 1974. Der Diplomatensohn Osei ist mit seinen Eltern gerade von New York in die Hauptstadt gezogen und neu in der 6. Klasse der Grundschule. Einen Monat vor dem Übertritt an die High School muss er sich auf dem Schulhof und im Klassenzimmer beweisen. Das kennt er schon, denn er hat bereits in Rom, London und New York gelebt. Geboren ist er allerdings in Accra, der Hauptstadt Ghanas.

Shakespeare für die Neuzeit

Tracy Chevalier: Der Neue, Roman, Knaus VerlagAn der Washingtoner Vorstadtschule ist Osei der einzige Schwarze. Und obwohl er mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein auftritt und damit sofort das Herz der allseits beliebten Vorzeigeschülerin Dee gewinnt, ist die Atmosphäre in der Schule angespannt. Nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer begegnen dem schwarzen Jungen mit Vorurteilen und Misstrauen. Durch Freundlichkeit und seine gewinnende Ausstrahlung erarbeitet sich Osei bei einigen Schülern aber rasch einen guten Ruf.
Das ist vor allem dem Schulhof-Rowdy Ian ein Dorn im Auge. Er spinnt gerne Intrigen, um ein Gefühl der Macht zu erleben. Und als sich ihm die Gelegenheit bietet, die Schülerschaft gehörig aufzumischen, nutzt er die Chance. Er spielt einen gegen den anderen aus, schürt Hass und Eifersucht. Das Ganze endet – genau wie bei Shakespeare – in der Katastrophe.

Diskriminierung schmerzhaft geschildert

Tracy Chevalier (geb. 1962)
Tracy Chevalier (geb. 1962)

Tracy Chevalier gelingt es, die Geschichte um Othello auf aufwühlende Weise neu zu erzählen. Die Diskriminierung, die geschildert wird, ist für den Leser oft äusserst schmerzhaft.
Bisweilen wirken Ians Intrigen allerdings etwas gar konstruiert. Er ist hochgradig manipulativ – und keiner merkt etwas, alles geht glatt und läuft immer nach Plan. Das Ganze scheint mir doch recht unrealistisch: Wie ist es möglich, dass ein Junge und ein Mädchen sich sofort ineinander verlieben, aber unhinterfragt alles glauben, was ein Fremder, der noch dazu äusserst verschlagen wirkt, ihnen erzählt? Und kann ein Junge in der 6. Klasse bereits derart strategisch vorgehen?

Folgenlose Abschaffung der Rassentrennung

FAZIT Der Roman von Tracy Chevalier: Der Neue ist eine gelungene Neuinterpretation von Shakespeares Othello, die vor Augen führt, welche Rolle Diskriminierung auch noch in heutiger Zeit spielt. Wenngleich kleine Schwächen auffallen, die die Story teilweise zu konstruiert wirken lassen, ist es eine Geschichte, die beeindruckt. Gut vorstellbar, dass es auch eine hervorragende Schullektüre zum Thema Mobbing und Rassismus wäre.

Doch trotz der leisen Zweifel, die bisweilen aufkommen, hat mich Chevaliers Buch tief berührt. Die Schilderung der Ungerechtigkeit, die Osei nur aufgrund seiner Hautfarbe widerfährt, macht wütend. Selbst die Lehrer, allen voran der Klassenlehrer Mr. Brabant, sind ignorant und voller Vorurteile. Obwohl Osei aus privilegierten Verhältnissen kommt, unterstellt die Direktorin, dass er aus armen Verhältnissen stammen müsste. Es ist eine Mischung aus offenem und verdecktem Rassismus, der dem neuen Schüler entgegenschlägt. Die Abschaffung der Rassentrennung durch den Civil Rights Act lag 1974 bereits zehn Jahre zurück, geändert hatte sich aber noch nicht viel.
Chevalier hält sich natürlich nicht genau an die Shakespeare-Vorlage. Mr. Brabant (Brabantio) ist der Klassenlehrer und nicht der Vater von Dee (Desdemona). Ian (Jago) ist nicht Oseis (Othellos) Untergebener, sondern ein Mitschüler. Aber strukturell ist die Geschichte der Vorlage sehr ähnlich. Chevaliers Geschichte spielt an einem einzigen Schultag und ist, wie bei Shakespeare, in fünf Akte unterteilt. ♦

Tracy Chevalier: Der Neue, Roman, 192 Seiten, Knaus Verlag, ISBN 978-3-8135-0671-6

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Rassismus auch über
Ann Wiesental: Antisexistische Awareness

… sowie das Gedicht von
Peter Fahr: Willkommen (Flüchtling-Gedicht)

Weitere Internet-Beiträge über Tracy Chevalier
Der Neue (Geschichtenentdecker)
Das Mädchen mit dem Perlenohrring (hak-Bregenz)
Zwei bemerkenswerte Frauen (Von Mainberg Büchertipps)