In dem Roman von Bernhard Schlink: Olga breitet der Autor eine Geschichte über eine starke Frau in stürmischen Zeiten aus, die beinahe novellenartig anmutet, derart reduziert ist dieser dreiteilige Roman, der mit seiner Kürze als auch mit schnörkelloser Sprache gleichermassen verwundert wie fasziniert. Am Anfang das eine, zum Ende das andere.
Wir erleben in Schlinks Erzählung Olgas Kindheit, die alles andere als einfach ist und in ihrer Schlichtheit fast schon märchenhaft wirkt – kurz (bei bestimmten Ereignissen), aber auch wieder sehr ausführlich im Vergleich zu manchen Stellen des ersten Teiles, in denen viele Jahre auf wenigen Seiten umrissen werden, und dabei skurril, geradezu kafkaesk in der Schilderung der Vorkommnisse.
Im Wilden Osten des Deutschen Kaiserreiches
Bernhard Schlink – Olga – Roman – Diogenes Verlag
Zur Waise geworden im Wilden Osten des Deutschen Kaiserreiches, wächst sie bei ihrer Grossmutter auf: Liebe zu erfahren sei noch wichtiger als zu lieben, wird Olga im hohen Alter sagen. Gerade weil sie als kleines Mädchen eben dies nie erleben durfte. Die „arme“ Olga, die etwas „slawisch“ anmutet und darum abgelehnt wird, schliesst Freundschaft mit den Kindern des hiesigen Grundbesitzers. Hier werden die Weichen ihres Lebens – einerseits ambitioniert und emanzipiert – gestellt (eben alles andere als arm), andererseits ist ihre Stärke zugleich Teil ihrer Schwäche, denn sie wird nie über ihren selbst gewählten festgesteckten Radius hinauskommen.
Und gerade hier zeigt sich einmal mehr, wie raffiniert Schlink diesen Roman konzipiert hat. Gerade als man denkt, Olga und ihre mangelnde Freude an Herberts – ihre grosse und einzige Liebe – Welterkundung verstanden zu haben, zeigt uns der Autor im dritten Teil – der aus Briefen besteht, die Olga über viele Jahre an den Geliebten adressiert hat -, dass Olga eben doch mehr ist als die Summe ihrer Handlungen: „Dass du zurückkommst und mich all das fragst, was du mich nie gefragt hast: Wie ich leben möchte, ob ich lieber etwas anderes täte als Kinder zu unterrichten, die nicht unterrichtet werden wollen, und was das wäre und was ich von der Welt sehen, wohin ich reisen und wo ich leben möchte, wie Du mir bei alledem helfen kannst.“
Gefangene eines kolonialistischen Umfeldes
Zurück zum Anfang: Weichenstellend für ihr Leben ist die Begegnung mit den Kindern des hiesigen Grundbesitzers, Herbert und Viktoria. Welch imperialistischer Name, der zugleich für die Geisteshaltung der Deutschen zu Zeiten des Kaiserreiches steht! Kolonialismus ist Programm, vor allem in Herberts Leben, der sich dem Regiment und dem Kampf in „Deutsch-Südwest“ gegen die Herero anschliessen wird. Die drei sind Gefangene ihres gesellschaftlichen Umfeldes, jeder trägt archetypische Züge in sich. So ist die, die augenscheinlich „arm“ dran ist, die kleine Olga mit dem unerwünschten Background, eben doch gerade die Starke, Ambitionierte, politisch Interessierte und Emanzipierte, kritisch Denkende. Sie alleine wird es aus eigener Kraft zu etwas bringen im Leben, ganz die Selfmade-Frau – Erfolg durch Wissen und Lehre. Und so zieht sich die vermeintliche Schwäche, an Beruf und lokaler Eingebundenheit festzuhalten auch durch das Leben der älteren Olga. – Sie verliert ihr Gehör – welch Glück, denn so muss sie den ungeliebten Nationalsozialismus und die lautstarken Auftritte nicht mit anhören.
Erfolgsautor Bernhard Schlink (hier bei einem TV-Interview)
Während Olga mit Herbert eine Freundschaft verbindet, die zu Liebe heranwächst und Zeit ihres Lebens bis über seinen Tod hinaus anhält, ist ihr Verhältnis zu Viktoria von Anfang an belastet. Zerfressen von Standesdünkel, Borniertheit und Neid hintertreibt sie immer wieder deren Freundschaft und aufkeimende Liebe, intrigiert gegen die von Herbert gewünschte Heirat. Doch Olga wäre nicht Olga, wenn sie nicht bemerkenswert ruhig und stark bliebe, unbeirrt ihren Weg ginge. Wie sie später einmal zu Ferdinand (ihr Quasi-Enkel im Nachkriegsdeutschland) sagen wird: „So ist das Kind. Du kannst aus dem, was dir gegeben ist, nicht das Beste machen, wenn du es nicht annimmst.“ Und darin ist Olga wahrlich eine Meisterin!
Heimliche Treffen über Jahre hinweg, lange Zeiten der Abwesenheit, als Herbert zunächst Soldat wird und dann nach Deutsch-Südwest reist, um im irrigen missionarischen Eifer das angeblich überlegene Deutsche der kolonialen Welt zum Heil zu bringen – das ist Olgas Leben als junge Frau. Sie scheint zufrieden mit ihrem kleinen Wirkkreis und freut sich über Berichte von einem fernen Land.
Vom Kaiserreich zum Nazi-Grössenwahn
Gekonnt greift Schlink in diversen Andeutungen das Machtstreben der Deutschen auf und an, lässt es schliesslich mit der alten Olga in Schall und Rauch aufgehen. Über die Herero, das Streben nach weiteren Kolonien, den nationalsozialistischen Grössenwahn durch die Erschliessung von „Lebensraum“ im Osten, dem ihr Ziehsohn Eik willenlos verfällt, bis hin zu den 1960ern: Immer wollen die Deutschen alles zu gross. Und so entwirft Schlink ein Gemälde, das äusserst reduziert, schlicht in dem Durchstreifen der Abläufe ist (da werden locker mal Jahre auf 15 Seiten abgerissen), die den Leser über die grösseren Zusammenhänge deutscher Geschichte sinnieren und sich ihrer bewusst werden lässt.
Fazit:„Olga“ von Bernhard Schlink ist der Roman über eine aussergewöhnlich gewöhnliche Frau inmitten stürmischer Zeiten – vom Wilden Osten des Deutschen Kaiserreiches bis zum Grössenwahn der deutschen Nazis. Schlink entwirft ein raffiniertes Zeiten-Gemälde und fesselt mit tragischen und zugleich aufbauenden Handlungssträngen.
Bemerkenswert ist der Stellenwert der Zahl Drei, die immer wiederkehrt. Drei Freunde aus Kindheitstagen, die ihre Lebenswege nachhaltig beeinflussen; Drei Männer, die Olga Vertraute und Weggefährten in unterschiedlichen Lebensstadien sind: Da ist der bereits genannte Herbert, über den sie Zeit ihres Lebens nicht hinwegkommen wird; dann Ziehsohn Eik, der sich genau so wie Herbert einer wahnwitzigen Idee verschreiben wird. Dritter im Bunde ist der junge Ferdinand, den Olga durch ihre Arbeit als Näherin in der jungen Bundesrepublik kennenlernen wird – ihr Vertrauter der letzten Jahre. Hier schliesst sich der Kreis, denn die Zahl Drei repräsentiert auch den Aufbau des Romans, und Ferdinand kommt gerade im dritten Teil überragende Bedeutung zu.
Tragisch und aufbauend zugleich
Im ersten Teil lässt uns ein auktorialer Erzähler im Zeitraffer am Leben Olgas in Ostpreussen bis hin zur Vertreibung teilnehmen. Daran schliesst ein personaler Erzähler – eben Ferdinand – an, der Olgas Leben als ältere Dame skizziert. So weit, so gut – sehr gelungen und raffiniert schliesst Schlink damit den Kreis, indem er Ferdinand auf die Suche nach verschollenen Briefen gehen lässt. Und so erfahren wir endlich ein wenig mehr, als die ruhen gelassene Fassade über die Jahre hinweg preisgibt. ein gelungener und raffinierter Schachzug von Schlink, so letztlich alles wieder zueinander zu führen und dabei doch noch die eine oder andere Überraschung parat zu halten.
Olgas Geschichte ist tragisch und aufbauend zugleich. Es ist die Geschichte einer Frau, die weiss was sie will und wofür sie steht, auch wenn die Männer ihr immer einen Strich durch die Rechnung machen mit ihren Wertewelten… ♦
Liebe wuchert nicht für die Zukunft, sie verschwendet sich jetzt
oder
Einverleibung gleich Kommunion gleich Zeit als Ewigkeit gleich Seele gleich das Gute
von Karin Afshar
Ein Gedanke fällt mir zu, während ich das gerade eingetroffene Buch zur Hand nehme und mir seinen Einband anschaue – Amor und Psyche ineinander versinkend: Man muss merken, wann man am Ende der Hoffnung angekommen ist. Über diese Grenze hinaus verliert man Lebenszeit. – Damit beginne ich zu lesen. [K.A.]
In „Mermaid“ von Ernst Halter geht es um Liebe und Besessenheit, auch um Erotik und Leidenschaft. Ein (nicht ganz glücklich) verheirateter Mann lässt sich auf ein Abenteuer ein… Das ist miserabel banal ausgedrückt! Zweiter Versuch: Ein Mann und eine Frau verfallen einander und können nicht wieder voneinander lassen. Nomaden sind beide, Suchende (nach sich selbst), und werden aneinander zu Grenzgängern und auch -verletzern. Es geht um das Entgrenzen in der gegenseitigen Hingabe; am Ende – soviel sei verraten – um die Entfesselung des Zerstörerischen. Engelssturz – aus dem Jenseits ins Diesseits. Untergang – das Diesseits mit Kraterzugängen zur Unterwelt.
Stella alias Persephone von Rosetti
Stella, die häufig in Deutschland zu tun hat und aus Zürich stammt, lebt in Mailand und ist Kunsthistorikerin. Sie arbeitet als Jurorin und Ausstellungskuratorin für Museen und Galerien, ist erfolgreich und auf dem öffentlichen Parkett gewandt. Eine schöne Frau, die sich zu kleiden weiss und ihre Ausstrahlung auch einsetzt. Privat – ist sie kompliziert, mal Kindfrau, mal dominierend, mal unterwürfig, zweifelnd, unsicher, kokettierend. Präraffaelitisch – ich erinnere mich, das Wort an einer Stelle gelesen zu haben. Das trifft es. Die Persephone von Rosetti – in Blond allerdings, ich glaube, Stella ist blond.
Elias, Sohn einer dänischen Mutter, ist Lektor, schreibt Bücher, übersetzt, veröffentlicht Gedichte – ein Literat, ein Mann der Worte. Er ist mit Ellen, einer Engländerin, die eine traumatisierende Kindheit hinter sich hat und an Depressionen leidet, verheiratet und bewohnt mit ihr ein Haus (wo, ist mir nicht erinnerlich). Von Elias habe ich kein Gesicht, auch kein Alter, keine Körpersprache. Er bleibt unphysisch und ein Schemen.
Erschreckend wie ein dunkler Zauber
Dante Gabriel Rossetti: Proserpine (Persephone)
Stella und Elias lernen sich in Frankfurt kennen (einem Ort, in dem beide fremd sind) und treffen sich von nun an in Hotels, abgelegenen Pensionen, in Burgen und Schlössern, in Wäldern, entlang von Bahnlinien, auf Bergen, in Tälern, in der Schweiz, in Deutschland, das Elias mehr entspricht, während sie mit dem schroffen Land ihre Schwierigkeiten hat. Im Laufe der Geschichte wird sie sagen: „Ecco la Cimmeria tedesco, orsi, mammuti…. Cerco di convincermi della tua realtá. Dieses Germanien – ich weiss kein besseres Wort – ist so unwiderstehlich und erschreckend wie ein dunkler Zauber…“
Verzauberung. Verwünschung. Gibt es die eine Liebe? Oder verschiedene? Eine für die eine Frau und eine für die andere? Und Frauen? Lieben sie immer gleich? Ernst Halter – in diesem April 80 geworden – lässt seinen Helden und seine Heldin dies erkunden. Er schickt sie aus, die Antwort den Tiefen des ewigen, zeitlosen Meeres zu entreissen und an den Strand der Gegenwart zu werfen. Da ist sie – die Meerjungfrau aus dem Reiche Neptuns, die, um in der Gegenwart sein zu können, sich mit einem Sterblichen verbinden muss. Natürlich nicht zufällig legt der Autor Elias als Namen für Stella Mermaid in den Mund. Aber sie ist auch Tulipan, Estelle, Regina Macondo, Madonna dell’adulterio, Stella blu, … der blauen Augen wegen. (Blau sind auch die Augen von Dämonen.) Und dann tauchen noch andere Namen auf: Venus und Ishtar. Ich kläre weiter unten auf, woher hier der Wind weht.
Auf einem Meer, dessen Oberfläche sie trägt, dessen Oberfläche abwechselnd Stella und Elias selbst sind (er schreibt „auf ihr“ seine Gedichte), treibt die Beziehung, die Stella und besonders Elias zukunftstragend zu gestalten sich nicht trauen. Unter der Oberfläche dieses Meeres des Noch-nicht-Gewordenen und des Schon-wieder-Entwordenen ist die Zeit noch ungeteilt. Halt – ungeteilte Zeit ist nicht Zeit; denn Eigenschaften von Zeit sind Gegenwart und Vergangenheit. Wir bewegen uns in diesem Ozean im Ungeteilten und im Ewigen – mit uns die beiden Liebenden, die sich in ihrer ewigen und dann wieder abgrundtiefen Umarmung im ständigen Umherziehen im Heimlichen unheimlich nahe kommen und einem Schiffbruch entgegensteuern.
Das Wesen der Liebe verwebt Ernst Halter also mit Zeit: mit der Anwesenheit des Vergänglichen und der Abwesenheit des Ewigen, oder umgekehrt. Das Ewige existiert allerdings nicht, denn es west ausserhalb der Zeit. Der englische Gruss: Sein unerschaffenes Licht leuchtet ausser jeder Zeit, es ist mitleidlos und erlischt nach einem einzigen Nu.
Als Leser durch das Tor des Wenn geschoben
Die Grenze oder Zäsur, die wir in „Mermaid“ finden werden, wird formell durch den Briefwechsel mit einem längst toten Schriftsteller gezeichnet. Dieser weist unseren Autor auf seine Denkfehler hin, wirft ihm Scheinlogik vor, und dass er den Leser um seine Freiheit bringe. Ein ganz und gar wirksamer Kniff ist das, den der Autor Ernst Halter hier anwendet. Indem er als „Erzähler-Schreiber“ dieser aussenstehenden Person (die ihn als „sich als Gott aufführenden Erzähler“ bezeichnet) antwortet, verteidigt er seinen Plot, für den er die schwierigste, nämlich die „normale Variante des Liebesthemas“ gewählt hat.
Wir als Leser (jetzt in den Fortgang der Geschichte einbezogen), die längst heraufgezogene Peripetie und Katastrophe und die Protagonisten werden durch das Tor des Wenn geschoben. Dieses Tor steht für die Schwelle zum Nie-Realisierten. Doch wir wären nicht Menschen, wenn wir für Stella und Elias nicht doch noch auf die Wendung zum Guten hofften – irgendwie. Schriftsteller wissen dergleichen, und so hält es auch Ernst Halter und schreibt uns auf die angedeuteten vier bösen Wörter hin.
Eine neptunisch-schillernde Geschichte mit Untiefen – ich schaue sie aus der strukturellen Richtung an. „Mermaid“ spricht in vielen Stimmen, deren Gegensätzlichkeiten und Dualitäten der Autor-Erzähler dem Leser zur Zusammensetzung überlässt.
Neun Stimmen, neun Handlungslinien
Neun Stimmen, neun Linien meine ich gefunden zu haben. Sie treten in Form von unterschiedlichen „Textsorten“ oder Handlungssequenzen mit verschiedenen ineinanderfliessenden Erzähltempi auf.
Da ist die Stimme von Stella, die in einem Bewusstseinsstrom über die Beziehung und die Geschehnisse spricht. Daneben gibt es Auszüge aus Briefen und elektronischer Post von Stella an Elias, von ihm an sie. Es gibt eine auktoriale Linie, die hineinschlüpft in das Subjektive von Elias oder Stella (Bilder des Innen-wie Aussenseins, Bei-sich-Seins und Ausser-Sich-Seins wechseln sich ab). Auch Ellen, Elias‘ skizzenhaft in Erscheinung tretende Ehefrau, erhält eine Stimm-Linie. Traumsequenzen sind eine nächste Linie. Hier und da stösst aus dem Unsichtbaren eine Rahmen-Handlungslinie nach oben an die Oberfläche: Elias aus dem OFF, aus dem post mortem und in neuem Leben.
Eine offene Textstruktur, in der die einzelnen Kapitel autonom für sich stehen könnten. Könnten, denn sie bestehen durchaus nicht – ähnlich den Verbindungen in einem Rhizom – aus isolierten Einheiten. Wie komme ich denn bloss auf Rhizom? In der Biologie bezeichnet ein Rhizom einen Wurzeltyp, der morphologisch als Nebeneinander-/Ineinanderwachsen von Sprossen oder Stängeln oder Trieben beschrieben wird. Ein Rhizom kann sowohl über- als auch unterirdisch in alle Richtungen wachsen. Es wuchert. – Die Linien dieses „Gebildes“ ohne Hierarchie und Ordnung bilden ein Geflecht, in dem alles mit allem verbunden ist. An verschiedenen Stellen wächst etwas nach oben und durchbricht die grenzende Kruste. Die auf der Oberfläche sichtbaren Triebe haben nur scheinbar nichts miteinander zu tun. Autonomie – eine Illusion.
Offenes, nicht polarisierendes Schreiben
„Nomadentum und Schizophrenie“ des multiplen Schreibens: Cover von „Mille Plateaux – Capitalisme et schizophrénie“ (Deleuze & Guattari 1980)
Deleuzes & Guattaris „écriture nomade et rhizomatique”1) ist eine „écriture migrante” – ein offenes, nicht abgrenzendes und nicht polarisierendes Schreiben. Das Nomadische und die Nicht-Zugehörigkeit sind ein starkes Motiv in einer solchen Literatur. Nomadisches, rhizomatisches Schreiben setzt die Vielheit, das Multiple, überwindet die Dualität und „lebt“ die Aufhebung der Sukzessivität und Linearität eines Textes. Nomadentum und Schizophrenie. Ein Schizo2) ist der, der mit vielen Stimmen spricht, der mit den Maskierungen spielt und immer unterwegs ist. Er verfehlt sein Ziel, weil er keines mehr hat. Das Verfehlen selbst ist zum Ziel geworden.
Ozean einerseits und Rhizom andererseits. Das Unendliche und das Gewebe mit den vielen Eingängen. Und in dieser Unstruktur Halters Landschafts und Ortsbeschreibungen. Sie sind detailliert, Wegbeschreibungen ähnlich, so dass ich mich frage, warum er die Örtlichkeiten dermassen redundant beschreibt und benennt. Die Antwort: Sie sind Metaphern für unsere beiden Suchenden – die Landschaften, die Orte sind die beiden Suchenden. Ihre Stimmungen korrespondieren und sind in Resonanz mit den aufgesuchten Orten. Schriftstellerische Zauberei. Sie seien dem Leser ans Herz gelegt.
Virtuoser Rückblick und Abschied
Auch auf die Anspielungen auf Ereignisse der Geschichte an Orten, an denen Elias und Stella sich aufhalten und über die sie sprechen, sei begeistert verwiesen. Allesamt Puzzleteile für das Gesamtbild. Kein Wort ist hier zufällig gesetzt. Mir will darüber hinaus scheinen, Ernst Halter bezieht sich auf eigene ältere Werke – ist nur ein Verdacht, dem ich noch nachgehen werde. Lässt mich sofort an Jean Sibelius denken, der in seiner Siebten, seiner letzten Sinfonie, seine vorherigen in Zitaten noch einmal hat Revue passieren lassen. Abschied, grosse Virtuosität, und die Einsicht: Alles ist miteinander verbunden, wir leben auf „1000 Plateaus“.
Bleiben wir weiter im Strukturellen: Vier Sprachen begegnen dem Leser. Deutsch als Erzählsprache ist die Sprache der Ausgesprochenheit, Deutlichkeit, sie kann nicht anders. Gleichzeitig verwendet Halter sie in lyrischster Weise als Elias‘ Trägersubstrat, die seine und Stellas Unausweichlichkeit andeutet und beschwört.
Fliehen durch Sommer und Schnee, der Tod belagert die Strassen zwischen Umarmung und Abschied, Vögel löchern die Dämmerung, die ruhelose Nacht wimmert und graut ohne Mond. Verschwinden unter vier Augen, trinken einander auf einen Zug, die Lust siegeln mit Schweigen.3)
Ausgeprägter Zeigecharakter von Sprache
Italienisch ist Stellas Gefühlssprache, ihr Liebesgeflüster, aber auch ihre dunklen Momente, Ahnungen und ihre Drohungen. Es sind „hingeworfene Bröckchen“, meist kurze Ausrufe, Imperative, Bewertungen. Sofern der Leser nicht Italienisch spricht, findet er im Anhang des Buches ein alphabetisches Wörterverzeichnis (darin auch die anderen Sprachen). Der so unterschiedliche Klang von Deutsch und Italienisch, und die Wechsel von der einen Stimmung in die andere, signalisieren einerseits die Spaltung, die sich durch die Protagonisten, ihre Wünsche und ihre Sucht zieht, andererseits den brückenden Zeigecharakter von Sprache in seiner schönsten Ausprägung.
Hier und da wird auch auf Französisch (Sprache der Bildung und Contenance) und Englisch (Ellens Muttersprache, stiff upper lip; und ihrer Rolle entsprechend – hier für das Depressive, das Verquälte verwendet) gesprochen. Dezente Stilmittel, Anzeige der Verwobenheit, der Vielfalt.
Die „Farbe“ der Sprache der Liebenden, ihr Verhältnis zueinander und die Vielzahl der Stimmen lässt das Hohelied Salomos, jene Liebeslieder, die in nicht alltäglichen Bildern, aber mit wiederkehrenden Motiven Vereinigung und Trennung, Begehren und Erfüllung, eben Liebesgeflüster besingen, anklingen. Doch ich frage mich beim Lesen immer dringender, ob Mermaid ein Lied auf die Liebe ist. Haben wir es überhaupt mit einem Liebesroman zu tun?
„Mermaid“ ist alles andere als eine klassische Dreiecksgeschichte mit den „üblichen“ Schuldgefühlen, dem Dilemma des Mannes zwischen Geliebter und Ehefrau, der Angst vor dem Entdecktwerden oder vor eventuellen Forderungen der Geliebten – das ist allenfalls das vordergründige Thema, das in vielen Romanen mal mehr, mal weniger tiefgehend psychologisch aufgearbeitet wird.
Quadratur einer tiefgründigen Vierecksgeschichte
Schatten der literarischen Protagonisten: Die schön-zerstörerische Schwarze Venus Lilith
„Mermaid“ ist eine tiefgründige Vierecksgeschichte. Schauen wir bei Carl Gustav Jung nach: In einer Liebesbeziehung gehen Mann und Frau sowie die Anima eines Mannes (sein Frauenbild bzw. seine weiblichen Anteile in sich) und der Animus der Frau (ihr Männerbild bzw. ihr männlicher Anteil) ein überkreuzendes Quaternio4) ein. Dieses Motiv liegt im Falle von Stella und Elias anders vor. Es sind nicht Anima und Animus, sondern ihre Schatten, ihre Dämonen, die eine Verbindung eingehen.5) Venus und Ishtar, zwei Göttinnen aus unterschiedlichen Mythologien, treffen in Stella aufeinander. Venus-Maria-Eva: die guten Mutterfiguren; in Lilith allerdings findet sich mit der Göttin Ishtar/Inanna das Dunkle, Dämonische, das körperliche Begehren und das Zerstörerische. Sie ist die Schwarze Venus.6)
Wenn nun in dieser „Quadratur“ das Schattenpaar über die Zeit bestimmt, wenn das Unbewusste und Verdrängte über das bewusste Paar-Ich in seiner Verzweiflung die Vorherrschaft übernimmt, werden die beiden Liebenden aneinander böse.
Geschehen wird das, wenn sie in voranschreitender Entfremdung keine Beziehung mehr aufnehmen können. „Böse“ ist das Ungelebte, das verdrängte Gute; das Böse lockt. Die Nixen und die Undinen aus dem Wasser versprechen die verdrängte Erfüllung und wollen dafür das Leben, und nicht weniger, des Anderen. Wird es ihnen versagt, tritt Poseidon als Rächer auf den Plan.
Modern, aktuell, anspruchsvoll
Wann fängt die Obsession an, wo hört die Entfremdung auf? Komisches Wort: Entfremdung. Bedeutet doch eigentlich, dass man sich bekannter wird, weil man sich vom Fremdsein entfernt! Nach dem Moment ihrer Ent-Deckung bricht sich aus beiden dämonisch Böses seinen Weg in die Gegenwart. Das Ungeteilte zerfällt beinahe feixend, springt in die Zeit! Jetzt sind sie in der Profanität einer ganz normalen, die Endlichkeit in sich tragenden Affäre angekommen, in der das offene Ringen mit den eigenen Schatten bestimmend wird. Wie sich dies in der Geschichte ausgestaltet, verrate ich natürlich nicht.
FAZIT: „Mermaid“ von Ernst Halter ist ein Roman, der mehrfach in die Hand genommen werden will, so viele Ebenen und Verbindungen, Verweise auf die Notwendigkeit der Läuterung enthält er. Ein modernes, aktuelles, anspruchsvolles Buch – und für so manche Leser wohl nicht ungefährlich…
Jeder einzelne Leser wird mit einer anderen Antwort als sein Nachbarleser aus der Geschichte herauskommen, wenn er die letzte Zeile von „Mermaid“ gelesen hat. Habe einer Bekannten von meiner Lektüre erzählt. Sie meinte, sie wolle das Buch lieber nicht lesen – vermutlich würde es bei ihr Minen, die sie sehr tief versenkt hat, zünden. So sehe ich es auch: Für einige Leser kann es ein gefährliches Buch sein, denn es könnte sie mit all dem, was sie im Leben ausgelassen haben und das sie ruhen lassen möchten, konfrontieren. Meerjungfrauen sind nicht ungefährlich.
Über den Schweizer Schriftsteller Ernst Halter habe ich absichtlich nichts geschrieben, ausser, dass er 2018 seinen 80. Geburtstag feierte. Es heisst, er lebe sehr zurückgezogen und sei ein „sträflich unterschätzter Autor“. „Mermaid“ ist sein bislang letztes Buch, und mit ihm dürfte die Unterschätzung ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. Thema und Umsetzung sind mehr als modern und aktuell, sehr anspruchsvoll. Ein Buch, das mehrfach in die Hand genommen werden will, so viele Ebenen und Verbindungen, Verweise auf die Notwendigkeit der Läuterung enthält es.
Ich wünsche allen Lesern einen spannenden Gang durch die schönen Landschaften und die lehrreichen Abgründe… Mögen Sie gewandelt herauskommen! ♦
1) Deleuze, Gilles & Guattari, Félix : Mille Plateaux, 1980 2) Deleuze, Gilles & Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur, Berlin 1976 3) S. 149 4) C. G. Jung, Psychologie der Übertragung, in: Hurwitz, Lilith – die erste Eva, S. 163 5) Gelesen bei Siegmund Hurwitz, Lilith – die erste Eva, Daimon Verlag, 1980, 2011: In der arabischen Literatur sind der Karin und die Karina als die Schattengefährten bekannt, S. 161 ff. 6) Über Lilith und die vielfältige Literatur über sie sei auf S. Hurwitz verwiesen
Ernst Halter: Mermaid, Roman, 346 Seiten, Klöpfer & Meyer Verlag Tübingen, ISBN 978-3-86351-463-1
Die prägende Gestalt des im März diesen Jahres in Berlin ausgekämpften Schach-Kandidatenturniers war – neben dem späteren Sieger Caruana – nach allgemeiner Ansicht der russische Exweltmeister Wladimir Kramnik, der zwar am Ende nur Platz 5 belegte, aber durch seine unternehmungslustigen Partien sehr zum Unterhaltungswert dieser denkwürdigen Veranstaltung beitrug. Im Rahmen dieses Kandidatenturniers wurde auch eine Biographie präsentiert von Carsten Hensel: Wladimir Kramnik, und der Autor war langjähriger Manager Kramniks. Der 1958 geborene Dortmunder wagte nach Tätigkeiten im Organisationskomitee der Tischtennis-Weltmeisterschaft 1989 und als Pressesprecher der Stadt Dortmund den Schritt in die Schachszene: Zunächst als Manager des Ungarn Péter Lékó, danach (2002-2009) als derjenige Kramniks. Man darf also intime Einblicke in die Schachwelt zu Beginn des 3. Jahrtausends erwarten – und wird nicht enttäuscht.
Intime Einblicke in die Schachwelt
Carsten Hensel: Wladimir Kramnik – Aus dem Leben eines Schachgenies – Verlag Die Werkstatt 2018
„Wladimir Kramnik – Aus dem Leben eines Schachgenies“ von Carsten Hensel beginnt dramatisch mit einem der emotionalsten Momente in Kramniks Karriere:
„13. Oktober 2006, 19:10 Uhr, Elista, russische Teilrepublik Kalmückien: Ein Aufschrei zerschneidet die Grabesstille im überfüllten Spielsaal. Topalow hat soeben in der entscheidenden vierten Tiebreak-Partie im 44. Zug einen schweren Fehler gemacht und seinen Turm eingestellt. Kramniks Haltung wird kerzengerade. Miguel Illescas kneift mich ins Bein und flüstert: ‚Wir haben es, das verliert!‘ Kramnik zieht seinen Turm im 45. Zug nach b7, Schach! Topalow stiert einen Moment auf das Schachbrett, schüttelt den Kopf und gibt auf. Kramniks Faust schnellt zum Zeichen des Triumphes nach oben, genau wie er es schon nach seinen epischen WM-Siegen gegen Garri Kasparow und Peter Lékó gemacht hat. Meine Wahnsinnsanspannung macht sich Luft, und das sonst so zurückhaltende Schachpublikum verwandelt das Auditorium des kalmückischen Regierungshauses in ein Tollhaus: Hurra-Schreie, Trampeln und stakkatoartisches Klatschen folgen minutenlang“.
Dieses Zitat ist nicht untypisch: Hensel versteht es, die Dramatik einer Situation zur Geltung kommen zu lassen. Dass er hierbei alles andere als ein unbeteiligter Chronist ist und sehr deutlich Position bezieht, ist selbstverständlich und macht den Reiz des Buches aus.
Die Weltmeister von Steinitz bis Carlsen
Wilhelm Steinitz
Die Biographie ist in 10 Kapitel untergliedert, diese wiederum in mehrere nummerierte Passagen, so dass sich 64 Abschnitte ergeben. Eine Sonderstellung nehmen die Kapitel 1 und 10 ein: Im ersten wird über Kramniks Charakter und seine Sicht auf das Schach gesprochen, im letzten äussern sich zehn Grossmeister über den Titelhelden. Im Anhang werden die Weltmeister von Steinitz bis Carlsen in kurzen Portraits gewürdigt sowie eine Übersicht über die bisherigen Weltmeisterschaften gegeben. Für die Schachkundigen sind dies altbekannte Fakten, doch sollte man berücksichtigen, dass das Buch – im Göttinger Verlag „Die Werkstatt“ erschienen, dessen Schwerpunkt ansonsten auf Fussball liegt – sicher auch einen weiteren Leserkreis ansprechen soll. Für diesen ist auch ein angehängtes Glossar typischer Schachtermini nützlich.
Verzichtbar erscheinen mir persönlich die (bis auf Frage- und Ausrufezeichen) unkommentiert abgedruckten WM-Partien Kramniks. Diese ermöglichen es zwar, die eine oder andere zuvor erwähnte Begebenheit auf dem Brett nachzuvollziehen, doch halte ich eine unkommentierte WM-Partie selbst für geübte Schachspieler im Details für äusserst schwer verständlich – von Gelegenheitsspielern ganz zu schweigen.
Mehr Künstler denn Sportler
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Im einleitenden Kapitel wird Wladimir Kramnik – „manchmal chaotisch, manchmal emotional, manchmal genial, aber immer authentisch“ – mehr als Künstler denn als ergebnisorientierter Sportler charakterisiert. Sein Antrieb sei „die Kunst, die Kreativität, die aus dem Spiel entsteht“, er sei „auf der endlosen Suche nach Wahrheit und Schönheit“ im Schach. Passend wird nach diesem Kapitel eine Partie präsentiert, die Kramnik selbst als besonders schön empfindet. Original-Ton Kramnik: „Am Ende hatte ich das Gefühl, eine Sinfonie kreiert zu haben. Wenn es nicht dieses Ende gegeben hätte, wäre das ganze Bild unvollständig geblieben oder die Sinfonie wie ein Kartenhaus eingestürzt. Es ist das Gefühl der Vollendung eines Meisterwerkes, und ich war sehr glücklich.“
Es ist die folgende Partie mit einer spektakulären Königswanderung, die solche Gefühle bei Kramnik hervorrief:
Gewinn nach Königswanderung übers ganze Brett: Die Schluss-Stellung der Partie (2) in Kramnik-Topalow, Amber-Turnier Monte Carlo 2003
Nachstehend eine taktische „Vollanalyse“ der Partie durch das starke Schachprogramm Stockfish (User-Interface: Fritz 16)
A propos Partien: Nach jedem Kapitel folgen in der Regel eine, manchmal auch mehrere Partien, zu denen sich Kramnik persönlich äussert. Es sind keine tiefen schachlichen Analysen, sondern eher Gefühle und allgemeine Überlegungen, die ihn zu dem einen oder anderen Zug geführt haben. Diese „O-Töne“ sind sehr interessant, eventuell hätte man seitens des Verlags das eine oder andere Diagramm einfügen können, um die Orientierung zu erleichtern.
Die Kapitel 2-9 zeichnen chronologisch die Karriere Kramniks bis zum Jahr 2009 nach: Seine Kindheit in Tuapse (Region Krasnodar), die ersten Schritte im Schach, seine Aufnahme als 12-Jähriger an der berühmten Botwinnik-Schachschule in Moskau, sein Aufstieg bis zum Gewinn der Junioren-WM 1991 in Brasilien. Im Kapitel „Vom chaotischen Genie“ wird Kramnik als Weltklassespieler gezeichnet, der jedoch noch nicht bereit für den Griff nach der höchsten Krone ist und neben aufsehenerregenden Erfolgen (Olympiasieger mit Russland 1992 mit dem besten Ergebnis am 4. Brett, Gewinn des PCA-Weltcups 1994, im darauffolgenden Jahr als bis dahin jüngster Spieler aller Zeiten Weltranglistenerster) auch immer wieder herbe Rückschläge einstecken musste: 1994 das unerwartete Ausscheiden in den WM-Zyklen der PCA (gegen Kamsky) und der FIDE (gegen Gelfand), 1998 die Niederlage gegen Schirow im Ausscheidungskampf um die Weltmeisterschaft. (Hensel macht als Grund den unsteten und der Gesundheit abträglichen Lebenswandel und mangelnden Ehrgeiz seines späteren Schützling aus).
Metamorphose bis zum Milleniumsieg
Mit dem Kapitel „Von Metamorphose und Millenniumsieg“ nimmt das Erzähltempo ab und die einzelnen Partien treten stärker in den Vordergrund. In diesem Kapitel wird Kramniks Wandel zum WM-Aspiranten und sein für die Öffentlichkeit überraschender Wettkampfsieg 2000 in London gegen Kasparow beschrieben. „Es sollte noch einige Jahre dauern, bis die Schachwelt anerkannte, dass Kramnik in London einfach der bessere Spieler und der Sieg rundherum verdient war. Zu gross war zunächst noch der Einfluss Kasparows auf die Profiszene.“
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf den Wettkämpfen, die Hensel selbst als Manager betreute. Das Match gegen Lékó 2004 in Brissago stand wegen gesundheitlicher Probleme Kramniks kurz vor dem Abbruch. In Erinnerung ist der Wettkampf vor allem wegen Kramniks Sieg in der letzten Wettkampfpartie geblieben, durch den er den Titel verteidigte, doch Hensel macht kein Hehl daraus, dass der Russe in etlichen Partien zuvor das Glück auf seiner Seite gehabt hatte. Insbesondere sein angegriffener Gesundheitszustand, der ihn zu einem Besuch der Notaufnahme in Brissago gezwungen hatte, hätte leicht den Ausschlag geben können: „Als er zur [achten] Partie kam, stand Kramnik unter starken Beruhigungsmitteln. Sein Kreislauf war ziemlich durcheinander, und er schwankte die lange Treppe zum Spielsaal hoch. Weder Lékó noch irgend jemand sonst in dessen Team bemerkte die desolate Verfassung des Weltmeisters. Das ist mir bis heute unerklärlich, denn man hätte Wladimir nur in die Augen schauen müssen, und alles wäre klar gewesen.“ Lékó, der zu diesem Zeitpunkt mit 4,5:3,5 führte, entschloss sich zu einem schnellen Remis, und Hensel kommentiert: „Lékó hätte diese Partie einfach nur ausspielen müssen, und ich bin mir sicher, dass der Wettkampf damit praktisch entschieden gewesen wäre.“
Skandale im Wettkampf gegen Topalow
Detailliert werden die Umstände des skandalumwitterten Wettkampfs 2006 gegen Wesselin Topalow geschildert. Bereits anlässlich der vorangegangenen KO-Weltmeisterschaft der FIDE 2005 in San Luis wirft Hensel im Buch dem Bulgaren und seinen Mitarbeitern Danailow und Tscheparinow offen Betrug vor. Während der Weltmeisterschaft 2006 im kalmückischen Elista häuften sich die Vorfälle, die im Streit um die den Spielern separat zur Verfügung gestellten Toiletten kulminierte („Toiletgate„). Hensel sieht hier den auch mit anderen Mitteln wiederholten Versuch der Gegenseite, Kramnik als potentiellen Betrüger hinzustellen. Hensel: „Wir spürten eine nie gekannte Skrupellosigkeit unserer Gegner. Ihnen war es offensichtlich egal, ob Schach oder ihr Image beschädigt werden könnte. Das Einzige, was für sie zählte, war, dieses Match nicht zu verlieren, koste es, was es wolle“.
Letztlich endete der Wettkampf unentschieden, den Stichkampf gewann Kramnik in der eingangs geschilderten Szene und beendete dadurch die Spaltung der Schachwelt in zwei konkurrierende Verbände, die 13 Jahre zuvor ihren Anfang genommen hatte.
Der letzte WM-Kampf Kramniks 2008 gegen Viswanathan Anand („Der Tiger von Madras“), den der Russe gegen den Inder verlor
Kramnik selbst blieb danach allerdings nur ein Jahr Weltmeister, 2007 verlor er den Titel beim WM-Turnier in Mexiko City an den Inder Viswanathan Anand. Hensel, der ihm von der Teilnahme an dem Turnier abgeraten hatte, bemerkt: „Auch heute noch glaube ich daran, dass ein Rücktritt die richtige Entscheidung gewesen wäre.“. So aber kam es 2008 zum letzten WM-Kampf Kramniks, diesmal als Herausforderer Anands in der Bundeskunsthalle in Bonn. Dieser Wettkampf lief von Anfang an zu Ungunsten Kramniks, der letztlich mit 4,5:6,5 vorzeitig unterlag. Nach diesem Wettkampf endete die Zusammenarbeit Kramniks mit seinem Manager.
Einblick in die neuere Schachgeschichte
Für wen ist dieses Buch geschrieben? Natürlich zum einen für alle Fans von Wladimir Kramnik, die viele auch nicht-schachliche Details über ihn erfahren können: Seine Lieblingsfarbe ist blau, er mag doppelte Espressi, sein Lieblingsschauspieler ist Robert de Niro, und er liebt Gemälde des italienischen Impressionisten Amedeo Modigliani. Auch die zahlreichen privaten Farbfotos wissen zu gefallen. Zum anderen werden all diejenigen, die sich für neuere Schachgeschichte interessieren, mit Interesse zu diesem Buch greifen.
Fazit:Carsten Hensels „Wladimir Kramnik – Aus dem Leben eines Schachgenies“ eröffnet einen Einblick in die Schachwelt, der den menschlichen Aspekt des grossen Meisters ebenso wenig vernachlässigt wie seine schachgeschichtliche Bedeutung. Eine Monographie, die sich von den meisten anderen Biographien über Schachspieler deutlich abhebt.
Der Autor hält mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg und spart auch gegenüber der FIDE nicht mit Kritik: „…die FIDE verstand schon damals [1992] wenig bis gar nichts von der Vermarktung des Weltmeisterschaftszyklus und weiterer Topevents. Daran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert…“ (S. 36). Und ganz unabhängig davon, wie man selbst zu den geschilderten Ereignissen steht, eröffnet Hensels Werk so einen Einblick in die Schachwelt, die „Wladimir Kramnik – Aus dem Leben eines Schachgenies“ von den meisten Monographien über Schachspieler abhebt. ♦
Selbst, wer den „Simplicius Simplicissimus“ nicht gelesen hat: Der Titel diese Weltbestellers aus dem 17. Jahrhundert ist ein Begriff. Ebenso wie der Name seines Autors: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen.
Über ihn, den Weltautor mit den vielen Anagrammen bzw. Pseudonymen (z. B. Simon Leugfisch von Hartenfels, Samuel Greifenson von Hirschfeld, German Schleifheim von Sehmsdorff), mit denen er seine Leser „verunsichern“ wollte – also: über Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen haben der Literaturwissenschaftler Heiner Boehnke und der Kulturredakteur Hans Sarkowicz eine fulminante Biographie geschrieben. In einer grossartigen Studie bringen sie uns Leben und Schreiben eines Autors nahe, der als einer der wichtigsten Schriftsteller nicht nur des Barockzeitalters zu gelten hat.
Die vielen Masken des Grimmelshausen
Es ist ja nicht nur „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“, sondern es sind auch die beiden simplicianischen Romane „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörzerin Courage“ und „Der seltsame Springinsfelden“ sowie „Das wunderbarliche Vogelnest“, die die deutsche Literatur bis heute beeinflusst haben. Man denke nur an die Erzählung von Günter Grass: „Das Treffen in Telgte“.
Wer also war dieser Grimmelshausen, auf dessen Spur sich die Biographen Boehnke und Sarkowicz gemacht haben? Wer war dieser Autor, der sich nicht nur hinter seinem Simplicius Simplicissimus versteckte, sonder hinter unendlich vielen Masken? Für die beiden Biographen eine wahre Detektivarbeit, schon allein deswegen, weil die Lebensläufe des Autors und seiner literarischen Schöpfung teilweise parallel verlaufen und vieles nach wie vor im Ungewissen bleibt.
Sicher ist die Herkunft des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Er stammt aus Gelnhausen; aber schon das Geburtsjahr ist nicht sicher: wahrscheinlich 1621 oder 1622, also mitten im Krieg, den wir heute den Dreissigjährigen nennen.
Frontispiz aus dem Jahre 1669 von Grimmelshausens „Simplizissimus“
Grimmelshausens Grossvater war Bäcker und Gastwirt. Sein Vater stirbt früh, seine Mutter heiratet wieder, der Stiefvater ist ein Barbier aus Frankfurt. Der Junge wuchs bei seinem Grossvater auf. Dann wird es schon schwieriger mit biografischen Sicherheiten. Grimmelshausen über sich selbst, zitiert nach Boehnke und Sarkowicz: „Man weiss ja wohl dass Er selbst nichts studiert, gelernte noch erfahren: sondern so bald er kaum das ABC begriffen hast / in Krieg kommen / im zehnjährigen Alter ein rotziger Musquedirer worden.“ Dennoch sollte er zu einem der belesensten Menschen seiner Zeit werden. Unendlich allein ist die Zahl der Nachweise seiner Bildung und Belesenheit im Simplicius Simplicissimus. Mit diesem Buch und seinem Autor hat – wenn man so will – die deutsche Literaturgeschichte begonnen.
Durch ganze Bibliotheken gewühlt
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622-1676)
Auch im Feldlager („er lebte vom ersten Schrei an im Krieg“) und wo auch immer: Grimmelshausen liest. Dennoch wird das sogenannte praktische Leben nicht vernachlässigt. Er wird zu einem unbestechlichen Beobachter einer Wirklichkeit, die er sich zu eigen macht, mit viel Phantasie verändert, zu Vexierbildern gestaltet.
Allerdings: Die Datenlage ist prekär. Deshalb haben sich die Biographen durch ganze Bibliotheken gewühlt, Kirchenbücher gewälzt, Gerichtsakten und akribisch Kontexte jeglicher Art studiert. Mit fast kriminalistischem Eifer wurde recherchiert – und darüber von den Biographen lebendig und spannend erzählt.
Verstrickt in die Wirren und Greuel des Dreissigjährigen Krieges: „Marodierende Soldaten“ von Sebastian Vrancx (Gemälde aus dem Jahre 1647)
Der junge Grimmelshausen wird völlig vom grausamen Geschehen der Zeit vereinnahmt, wird von den Katastrophen des Krieges quer durch Europa gejagt, war an der Belagerung Magdeburgs beteiligt, wurde Schreiber in einer Regimentskanzlei und wird 1649 seinen Kriegsdienst beenden. Grimmelshausen heiratet, wird später Verwalter und Wirt in Gaisbach und 1667 Schultheiss in Renchen. Am 17. August 1676 stirbt Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Im Kirchenbuch von Renchen wird es heissen: „Es verstarb im Herrn der ehrbare Johannes Christophorus von Grimmelshausen, ein Mann von grossem Geist und hoher Bildung, Schultheiss dieses Ortes, und obgleich er wegen Kriegswirren Militärdienst leistete und seine Kinder in alle Richtungen verstreut waren, kamen aus diesem Anlass doch alle hier zusammen, und so starb der Vater, von Sakrament der Eucharistie fromm gestärkt, und wurde begraben…“.
Leben und Schreiben hervorragend dargestellt
Fazit:Mit der grossartigen Studie von Heiner Boehnke und Hans Sarkowicz über das Leben und Schreiben des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen liegt erstmals eine ultimative Biographie des Autors des „Simplicius Simplicissimus“ vor.
Den Biographen Heiner Boehnke und Hans Sarkowicz gelingt es auf hervorragende Weise, das Leben und Schreiben des Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen im Kontext der Zeit darzustellen. So können wir gleichzeitig so etwas wie eine kleine Geschichte des Dreissigjährigen Krieges lesen, an dessen Beginn vor 400 Jahren wir in diesem Jahr mit einer Fülle von Büchern begehen. Und zu den sicher interessantesten gehört zweifellos diese Arbeit von Boehnke und Sarkowicz. ♦
Heiner Boehnke & Hans Sarkowicz: Grimmelshausen – Leben und Schreiben (Vom Musketier zum Weltautor), 510 Seiten, Die Andere Bibliothek Berlin, ISBN 978-3-8477-2020-1
Mit Gioachino Rossini verbindet sicher jeder Freund klassischer Musik etwas – sei es nun die berühmte Ouvertüre zu seiner Oper „Wilhelm Tell“, die Arie des Figaro aus dem „Barbier von Sevilla“ oder irgendeine andere jener sanglichen Melodien, die dem 1792 geborenen Komponisten so intensiv aus der Feder flossen, dass sie problemlos für das Oeuvre einer ganzen Schar von Tonsetzern gereicht hätten.
Ebenso wahrscheinlich ist es, dass fast ein jeder, der den Namen Rossini hört, auch ein bestimmtes Gesicht mit diesem Namen verbindet, sei es nun das berühmte Portrait aus den 1820er Jahren, das der Scuola pittorica italiana entstammt, die Fotografie von Étienne Carjat oder jene augenzwinkernde Karikatur, die den „Schwan von Pesaro“ bei der Zubereitung eines grossen Topfes Pasta am heimischen Herd zeigt
Komponist zwischen Opern und Nudeln?
Joachim Campe: Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre, Biographie, Theiss Verlag
Beides – Musik und Optik – haben sich nun im kollektiven Unbewussten zu einem ganz bestimmten Rossini-Bild amalgamiert, das auch immer wieder gerne bedient wird: Rossini – als Mensch ein freundlicher, den leiblichen Genüssen zugewandter und darum leicht adipöser Typ, als Komponist ein Meister der Melodie, der Heiterkeit, der Buffa. Und so kann man auch, ohne dass es in irgendeiner Form geschmacklos schiene, CDs wie „Pasta classics – Kochen mit Rossini“; „Rossini – Eine kulinarisch-musikalische Biographie“; oder auch „Rossini – Bonvivant und Gourmet – mit 45 Rezepten“ kaufen. Mit Bach wäre in dieser Sache kein Staat zu machen. Aber Rossini, der Italiener, das Kind der Sonne, der zwischen Nudeln und Chianti eben flott schmissige Opern auf das belsamicobefleckte Notenpapier bringen konnte, der eignet sich…
Schlimm ist, dass man eigentlich wenig Gelegenheit hat, dieses Bild zu überprüfen, zu differenzieren, ja: zu relativieren. Klar, auf dem Markt gibt es Volker Schierless’ kleine Rowohlt-Monographie von 1991. Richard Osbornes „Rossini – Leben und Werk“ ist schon seit längerem vergriffen. Arnold Jacobshagens verdienstvolles Buch „Gioachino Rossini und seine Zeit“ aus der Laaber-Reihe „Grosse Komponisten und ihre Zeit“, 2015 erschienen, ist für den ersten Zugriff vielleicht etwas zu wuchtig. Da kommt Joachim Campes gut 200 Seiten starke, beim Konrad Theiss Verlag erschienene Biographie „Rossini – Die hellen und die dunklen Jahre“ dem Leser, der einigermassen zügig sein Rossini-Bild zurechtrücken möchte, gerade recht.
Zeitgenosse einer bewegten Epoche
Rossinis Ehefrau und Muse: Die spanische Opernsängerin und Komponistin Isabella Colbran (1785-1845)
Schon der Titel suggeriert, dass Rossinis Leben ganz offensichtlich nicht ununterbrochen von italienischem Sonnenschein durchflutet war. Tatsächlich gab es da – das sei gar nicht abgestritten – eine Menge Licht. In flüssig erzählendem Stil berichtet Campe von der Kindheit als Wunderkind, von den Erfolgen, aber auch den zahlreichen Misserfolgen, die Rossini – so wollen es dem Leser die entsprechend vorgebrachten Quellen zumindest nahelegen – mit einer gewissen positiven Grundstimmung, mit Humor und einem guten Schuss Selbstironie hinnahm. Man erfährt von der besonderen Beziehung Rossinis zu seinen Eltern, die stets positiv war, bis es zu seiner Hochzeit mit der Sängerin Isabella Colbran kam, die einen Schatten auf das an sich gute Verhältnis warf. Daneben ordnet Campe die historische Figur Rossini, den Zeitgenossen einer der bewegtesten Epochen der europäischen Geschichte trefflich in die Historie ein, was wiederum eine ganz besonders treffliche Leistung darstellt, ist Rossini doch selbst kaum je einmal als „Homo politicus“ aufgetreten. Tatsächlich äusserte er sich in Briefen und aufgezeichneten Gesprächen nur selten politisch, lediglich manch eine seiner Opern kann sich einer politischen Deutung nicht vollständig verschliessen.
Unruhige Persönlichkeit voller Widersprüche
Der junge Rossini, 1822 gemalt von Friedrich Lieder
Als Folge seines Ansinnens, ein möglichst differenziertes, aber nicht ausuferndes Bild des Komponisten zu entwerfen, nimmt Campe den Leser seiner kleinen, aber doch substanziellen Biographie an die Hand und besichtigt mit ihm schlaglichtartig viele Orte in Rossinis Leben. Und viele Orte zu vielen Zeiten waren wie gesagt glanzvoll: Neapel, Paris, London und Wien begrüssten, beherbergten und feierten den grossen Komponisten – man möchte sagen: gebührend. Sicher gab es da Alltagskonflikte, eine kriselnde Ehe, Probleme mit Profilneurotikern, (opern-)politisches Ränkespiel. Aber es gab eben auch Glanz, Ruhm und sehr viel Geld, besonders in Paris.
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Doch da finden sich auch besonders dunkle Orte in der Biographie Rossinis, Orte von denen man vielleicht nicht so gerne spricht, die Campe dem Leser aber nicht vorenthält. Einer dieser Orte ist der offenkundig sehr starke Sexus Rossinis, den er mit grosser Begeisterung in Bordellen auslebte, wo er sich in Folge einer Gonorrhoe eine Urethritis, also eine üble Harnröhrenentzündung zuzog, die ihm das Leben schwer machte, und die in Paris – nicht ohne Risiko – operiert werden musste. Ein anderer der dunklen Orte, an dem sich Rossini im Laufe seines Lebens immer wieder und mit zunehmender Intensität aufhalten sollte, war die schwarze Welt der Depression. Mit nüchternem Blick zeigt Campe, wie Rossini nach 1823 immer wieder in höchst niedergeschlagene Stimmungen verfiel, schliesslich wohl auch aufgrund dieser Erkrankung aufhörte, Opern zu komponieren und sich phasenweise komplett isolierte. Gerade in den letzten Jahren scheint – so zeigt es Campe – Rossini eine eher unruhige Persönlichkeit gewesen zu sein, von Schlaflosigkeit und Schmerzen geplagt, überhaupt anfällig für alle möglichen Erkrankungen, bisweilen auch für Kränkungen, immer wieder den Wohnsitz wechselnd, sich mit Todesängsten herumquälend.
Differenzierte Beschreibung jenseits aller Hagiographie
Das Bild vom heiteren Rossini ist, das macht die Lektüre von Campes Buch sehr differenziert deutlich, also ein höchst eindimensionales. Das Schöne ist letztlich, dass der Autor keine Hagiographie schrieb, sondern Rossini als Menschen aus Fleisch und Blut präsentiert, mit allen Stärken und Schwächen, die damit einhergehen.
Fazit: Die neue Biographie von J. Campe: Rossini zeigt differenziert auf, dass das Bild vom heiteren Rossini ein höchst eindimensionales ist. Hier wird vielmehr Rossini als Mensch aus Fleisch und Blut präsentiert – also keine Hagiographie, sondern die Darstellung eines Musik-Genies mit allen Stärken und Schwächen. Ein Buch, dessen Lektüre Freude macht.
Es spricht eine Menge Zuneigung zu seinem Gegenstand aus Campes Zeilen, die man aufgrund des höchst angenehmen Konversationstones ausgesprochen gerne liest. Einziges Manko des Buches mögen des Autors streckenweise zu intensiv aneinandergereihten Nacherzählungen der Opernhandlungen im Verbund mit angerissenen Deutungshinweisen zu den Werken sein. Nicht nur, dass das so wirkt, als wolle der Autor hier ein wenig zu deutlich auf seine Gelehrsamkeit hinweisen. Es fehlt manch einem Deutungsansatz auch an Stimmigkeit, weil das Format des kleinen Werkes den Raum für tiefschürfende Werkbetrachtungen und ausgefeilte Argumentationen letztlich nicht hergibt. Nicht selten langen die interpretatorischen Fingerzeige Campes ins Leere oder setzten beim Leser einer solchen knappen Schrift zu viele Kenntnisse der Materie selbst voraus. Hier wäre eine klarere Abgrenzung wünschenswert gewesen.
Insgesamt jedoch ein Buch, dessen Lektüre Freude macht. ♦
Steigemann und Sinkemann sagten zueinander:
„Ich komme bald zu Dir. Jawohl!“
Und Steigemann: „Du zu mir?“
Und Sinkemann: „Du zu mir?“
Wer zu wem?
Wann?
„Ein Roman über die faustische Sehnsucht des Menschen, zu erkennen was die Welt im Innersten zusammen hält“; Anknüpfung an die Tradition der Bekenntnisliteratur eines Augustinus oder Rousseau mit einer gegen Gott hadernde (Hiob) und nach Erlösung strebende Hauptfigur – so wurde der Debütroman „Und erlöse mich“ von Konstantin Sacher von der Presse angekündigt, als ein „mitreissender Roman über das Dickicht eigener wie fremder moralischer Ansprüche.“
Um es gleich vorweg zu sagen: Erlöst wird am Ende höchstens der Leser – von der Lektüre eines nur oberflächliche Belanglosigkeiten auf sprachlicher Schmalspurkost servierenden, viel versprechenden, aber wenig haltenden Roman.
Snobistische Existenz
Keine Frage, der Romanheld führt (gemäss Verlagswerbung) eine „snobistische Oberflächenexistenz“ („Was ist das Leben denn mehr als eine Abfolge von Gedanken?“), die dem Leser ungebrochen aus der Ich-Perspektive aufgezwungen wird. Wie reagiert man, wenn man von einem Fremden gefragt wird, ob man ihn für ein „egoistisches Arschloch“ halte? Ganz einfach: Man geht weiter seines Weges, denn das über jemanden herauszufinden ist wahrlich keine Anstrengung wert. Und damit stolpert der Leser über die erste Hürde und bleibt an ihr hängen. Wen juckt’s? Dem Autor gelingt so genau das nämlich nicht, was seine ungleich berühmteren Vorgänger auszeichnet: Seine Figur für den Leser einzunehmen.
Exhibitionistische Verzweiflung
Und so reiht sich in der Folge Episode an Episode, mühsam zusammengehalten durch den völlig künstlich anmutenden roten Faden der mehr exhibitionistisch als bekenntnisbedürftig anmutenden inneren Verzweiflung. Der Leser erträgt dann die meistens in sexuelle Eskapaden mündenden Abschnitte mit wachsender Teilnahmslosigkeit und innerer Distanzierung. Keine moralische Verurteilung, kein Voyeurismus, auch keine peinliche Berührtheit empfindet man, so banal und tiefenentspannt wirkt das alles. Allenfalls ein Kopfschütteln über das kopf-, ziel- und ergebnislose Eintauchen einer belanglosen Schmalspurexistenz in die Hippie-Kommune auf einer zum Glück nicht namentlich genannten und in Verruf gebrachten spanischen Insel kann dies beim Leser hervorrufen. Dass der Held Theologie studiert, wird durch die dann doch immerhin peinliche Frage gestützt, ob sich Gott in der weiblichen Muschi offenbare. Kostprobe gefällig: „Und Gott ist wie die Muschi einer Frau das Versprechen des nicht endenden Lebens“.
Zahnloses Orakeln
Auch an den weiblichen Vertreterinnen im Roman, heissen sie nun Sarah oder Christina, hat man keine Freude, sind sie doch mit einer gegen Null gehenden Tiefenschärfe gezeichnet, wenn sie ihrem Helden immer wieder bereitwillig zu Diensten sind.
Das dicke Ende bleibt nicht aus, wobei man darüber streiten kann, ob es im äusserst hemdsärmeligen und abrupten Romanschluss besteht oder in dem zahnlosen Orakeln des Helden über die Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung.
FAZIT
Konstantin Sachers Roman „Und erlöse mich“ enttäuscht auf ganzer Linie, da sein Plot nur auf künstlich-oberflächlichen Säulen aufgebaut ist und auch sprachlich keinerlei Tiefgang besitzt. So taugt er allenfalls als Drei-Groschen-Roman.
Konstantin Sachers Roman enttäuscht auf ganzer Linie, da sein Plot nur auf künstlich-oberflächlichen Säulen aufgebaut ist und auch sprachlich keinerlei Tiefgang besitzt. So taugt er allenfalls als Drei-Groschen-Roman, nicht jedoch als anspruchsvolle Literatur oder Belletristik für 20 Euro. Sein seelenloser Monolog wühlt nicht auf, weil der unglaubwürdige Charakter des Helden nur eine unechte, inszenierte Plastikpuppe ist, die von allen verwendeten Begriffen wie Liebe, Seele, Schuld oder Tod nichts versteht. ♦
bohnen sind weisse kiesel
bohnen sind schwarze kiesel
bohnen im sack klingen weiss und schwarz
wage es
greife einen einzigen kiesel heraus
weiss oder schwarz
er wird
eine rote blüte
die rebenblätter rot
heisst herbst
die grünen rebenblätter vom frühling rot
heisst herbst
die rebenblätter des winters
sind schwarz
wo der himmel zickzack
in die tannenspitzen hineinwächst
sitzt ein vogel
drei abgebrannte streichhölzer
liegen in richtung der sonnenbahn
das kinn aufgestützt der ellbogen
auf dem tisch
hier
lass es fallen
da fällt schnee
schief durch mich hindurch
weiss
keine dinge mehr
kein weg und
da geht einer weiss im weissen
ohne spur
Persönliches ist bekanntlich immer Politisches. So verhält es sich auch in der Biographie des Dr. Pavel Vodák. Der tschechische Arzt erlebte und erlitt die dramatischen Ereignisse im Prager Frühling 1968. Mit diesem Prager Frühling verband er wie viele andere Hoffnung auf Reformen, auf Freiheit, auf Demokratie. Und er verband damit sein ganz persönliches Schicksal; und das seiner Familie. Eine wahre Geschichte – im Roman „Das hungrige Krokodil“ aufgearbeitet.
Die Geschichte wird erzählt von der Schriftstellerin Sandra Brökel anlässlich der Tatsache, dass sich in diesem Jahr zum 50. Mal ein hochpolitisches Ereignis jährt: Der Prager Frühling 1968. Ein Jubiläum, das leider bei den vielen anderen Jubiläen dieses Jahres etwas unterzugehen scheint. Um so mehr ist es zu begrüssen, dass sich Sandra Brökel in ihrem spannenden und berührenden Familienroman, der auf eben dieser wahren Geschichte und auf den Erinnerungen von Dr. Pavel Vodák (1920-2002) basiert, angenommen hat. Angenommen nicht nur dieser Zeit, sondern auch der Menschen in dieser Zeit und der wahren Erlebnisse des Protagonisten. Sie verbindet auf diese Weise Zeitgeschichte und persönliche Geschichte – und schreibt diesen Roman sozusagen als ein historisches Zeitdokument.
Metapher für die Gefrässigkeit
„Das hungrige Krokodil“ – der Titel des Romans ist eine Metapher für die Gefrässigkeit, für die Gefahren, die von diesem Tier ausgehen. Es steht bildhaft für die kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakischen Republik, für Schauprozesse, für Verfolgung, für ökonomische Probleme. So sieht und erlebt es auch Pavel Vodák – vor allem, wie das „Krokodil“ immer wieder zuschnappt, wie freie Gedanken, freies Handeln schon im Ansatz erstickt werden. Auf Dauer kann und will der Arzt aus Leidenschaft, eine internationale Kapazität, diese Repressalien nicht ertragen – auch um seiner Familie und vor allem seiner Tochter willen.
Sandra Brökel
So gehört er bald zu denen, die voller Hoffnung auf Reformen, auf Freiheit und Demokratie, Widerstand leisten. Er schliesst sich einer Gruppe an, die einen „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ fordern, die ein Dokument formuliert, das unter dem Begriff „Manifest der 2000 Worte“ Geschichte schreiben sollte. Václav Havel, wie viele anderen einer der führende Köpfe des Prager Frühlings hat es so formuliert: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Der Satz bleibt richtig, auch für Vodák, selbst wenn am 21. August 1968 russische Panzer in Prag den „Prager Frühling“ in einen eisigen politischen Winter verwandeln. Pavel Vodáks Träume von dem „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ sind ausgeträumt.
Hohes Mass an Authentizität
FAZIT
Sandra Brökel hat einen aufregenden Familienroman geschrieben, der weitestgehend auf Tatsachen beruht – und dem Leser ein wichtiges politisches Ereignis ins Gedächtnis ruft, das vor 50 Jahren die Welt in Aufregung versetzt hat: Der Prager Frühling 1968. Geschickt versteht es die Autorin viele Fakten und ein wenig Fiktion, Historisches, Politisches und Persönliches zu einem spannenden Roman zu verbinden.
Er kann und will nicht mehr in diesem Lande bleiben, er will, dass seine Tochter vor allem, aber auch die ganze Familie in Freiheit leben können. Eine abenteuerliche Reise beginnt, nachdem es Vodák gelungen ist, Pässe zu organisieren – vier Pässe in die bundesrepublikanische Freiheit. Obwohl unter Bewachung, gelingen ihm und seiner Familie eine dramatische Flucht über Jugoslawien. Auch wenn er und seine Familie später – so die wahre Geschichte – in Deutschland wieder Fuss fassen können, bleibt doch die Frage, ob der Preis, den er für die Freiheit gezahlt hat, nicht zu hoch ist.
Sandra Brökel hat ihrem Roman eine kurze biografische Notiz über Dr. Pavel Vodák vorangestellt. Dadurch ist ein hohes Mass an Authentizität gegeben. Mehr noch: Dieser Familienroman ist ein Tatsachenroman, der den Leser packt, ihm einmal mehr und notwendigerweise eine Zeit und ein Ereignis ins Gedächtnis ruft, deren Folgen heute noch spürbar sind. ♦
Sandra Brökel: Das hungrige Krokodil, Familienroman, Pendragon Verlag, 318 Seiten, ISBN 978-3-86532-608-9
Es gibt Bücher, die jeder kennt und die doch nur ganz wenige gelesen haben. „Der Nachsommer“ von Adalbert Stifter ist ein solches Buch: ein Tausend-Seiten-Roman mit wenig Inhalt und doch voller Zauber, eine „Utopie von Raum und Zeit“, ein „Traum vom Glück“, von grosser Genauigkeit des dichterischen Blicks und von einer Tiefe, „die in neuer Zeit nur von Göthe übertroffen ist“ (A. S.). Ein solches Diktum teilten viele Kollegen und Leser beileibe nicht. Hebbel war es, der jedem, der freiwillig diesen „Nachsommer“ zu Ende lesen werde, die Krone Polens versprach. Und Stifters grösster „Feind“ Thomas Bernhard verstieg sich in einer grandiosen Beschimpfungssuada dazu, den Dichter des „Nachsommer“ als den „langweiligsten und verlogensten Autor“ zu bezeichnen.
Was Wunder, dass die Romane „Nachsommer“ und „Witiko“ und die Erzählungen „Bunte Steine“ und „Studien“, sowie „Die Mappe meines Urgrossvaters“ nach den grossen Erfolgen zu Lebzeiten des Dichters etwas in Vergessenheit geraten sind. Das bevorstehende Jubiläum – vor 150 Jahren, am 28. Januar 1868 gestorben – bietet einen willkommenen Anlass, sich Albert Stifters und seiner Bücher zu erinnern.
Ein Leben – „einfach wie ein Halm wächst“
Adalbert Stifter (1805-1868)
Das Leben Stifters war „einfach wie ein Halm wächst“. Und doch war dieses Leben, das am 23. Oktober 1805 in Oberplan im südlichen Böhmen begann und im Januar 1868 in Lenz durch einen Schnitt eines Rasiermessers durch den Hals endete, voller Konflikte und Spannungen. Früh schon verlor Adalbert seinen Vater. Der Besuch des Benediktiner-Gymnasiums Kremsmünster allerdings wurde von Stifter selbst als eine besonders glückliche Zeit bezeichnet. Hier wurden die Grundlagen für sein späteres Verhältnis zur Natur, zur Literatur und Kunst gelegt. Weniger glückliche Zeiten sollten folgen. Das Jura-Studium in Wien endete ohne Abschluss. 1827 gab es die ersten dichterischen Versuche im Zeichen von Klopstock, Herder und Jean Paul. Und die erste Liebe – zu Fanny Greipl. Unerfüllt sollte sie bleiben, dafür erfüllten Selbstzweifel den jungen Mann.
Genialer Vielfrass bei Fleisch, Sauerkraut und Bier
Erste dichterische Versuche sind zu vermelden. Und das endgültige Zerwürfnis mit Fanny. Ihr sollte Amalie Mohaupt folgen, die er 1837 heiratete. Stifter malte (übrigens sehr beachtlich) und veröffentlichte 1840 die Erzählung „Der Condor“. Erfolg stellte sich ein, was auch notwendig war. Immer noch war der Dichter ohne feste Anstellung und Amalie sehr verschwendungssüchtig. So fristet er als Hauslehrer in Wien sein Leben. Nach und nach erschienen jedoch weitere Erzählungen: „Feldblumen“, „Brigitta“ und „Der Hochwald“, und 1842 die Erzählung „Abdias“, die den Durchbruch brachte. Nicht nur literarisch. 1848 war Stifter Wahlmann in der Frankfurter Nationalversammlung. Er siedelte nach Linz über, wurde endlich Schulrat und erhielt 1853 eine feste Anstellung.
Die Ehe mit Amalie war alles andere als glücklich. Die Ziehtochter Juliane nimmt sich das Leben. Längst hatte den Dichter auch die Fress- und Saufsucht endgültig erreicht. Der geniale Vielfrass vertilgte in einer Mahlzeit Brotsuppe, Geflügel, Fleisch und „noch ein Fleisch auf einem Sauerkraut“, dazu Rüben und Krautsalat und eine Unmenge dunkles Bier.
Der Biedermeier-Dichter Adalbert Stifter als Maler: „Mondlandschaft mit bewölktem Himmel“ (1850)
Am Leben entlanggeschrieben
Als „Gegenentwurf“ zu diesem Leben kann „Der Nachsommer“ (1857) gelesen werden, mit dem er sich „am Leben entlanggeschrieben hat“, als eine Sehnsucht nach Harmonie, die ihm das Leben nicht zu bieten hatte. Ein Buch, das gerade deshalb ausgesprochen interessant, sprachlich unvergleichlich schön und sehr modern ist; von einem Meister der „Entschleunigung“, angeschrieben gegen die stete Beschleunigung der Welt. Nietzsche zählte den „Nachsommer“ – vielleicht gerade wegen seiner Unzeitgemässheit – zu den wenigen Werken deutscher Prosa, die es verdienten, „wieder und wieder gewesen zu werden“.
1865 erschien der Roman „Witiko“, und Adalbert Stifter wurde der Hofratstitel verliehen. Zunehmende Depressionen jedoch und eine Leberzirrhose wurden nahezu zur Lebensplage. Der Erfinder des sanften Gesetzes der Schönheit philosophierte am Ende sehr unschön mit dem Rasiermesser. Denn „…es war Glanz, es war Gewühl, es war unten…“. ♦
Mit Prequels und Sequels im Fantasybereich ist das immer so eine Sache – fast keine Saga in Buch- oder Filmform, die nicht, in welche Richtung auch immer, fortgesetzt wird. Braucht man sie wirklich, oder ist alles nur Geldmacherei? Philip Pullman arbeitet seit vielen Jahren an diesen neuen Bänden, die er interessanterweise als „equel“ (eben weder „Pre-“ noch „Sequel“) bezeichnet, und mit „Über den wilden Fluss“ liegt nun endlich der von Fans heissersehnte erste Teil der neuen Trilogie (im Original „The Book of Dust“ – Vol. 1) vor.
Vieles ist dabei gleich geblieben und doch wieder anders. Neu ist u.a. Malcom, ein mutiger und patenter Junge, den die Liebe zur Freiheit, Wahrheit und zu einem Kind in ein Abenteuer unbekannten Ausmasses führen wird. Ebenso Alice, ein nüchtern-mürrisches junges Ding, das Malcolm unversehens zur wichtigen Stütze wird Daneben altbekannte Figuren, die uns in der „His Dark Materials“-Trilogie begegnen, nur eben jünger. Zudem eine Welt, die der unseren recht ähnlich ist, aber sich doch in wesentlichen Merkmalen unterscheidet. Wie schon im Hauptwerk erklärt vieles (anbarisches Licht, Gyropkopter … ) sich von selbst und bleibt doch durch das ausbleibende Glossar herrlich indifferent. Denn letztlich bleibt es ja im Vorstellungsvermögen des Einzelnen, wie er sich diese Kleinigkeiten (und Pullmans Weltenentwurf) erklärt.
Das alte Staubphänomen – verdichtet
Neu ist, dass das altbekannte Staubphänomen hier verdichtet wird. Durch den Staub ist die alles beherrschende totalitäre Kirche in Gefahr. Denn ihr zufolge liesse sich die Seele als Materie deuten und verlöre ihren göttlichen Ursprung. Man sieht bereits, auch hier verwebt Pullman wieder exzellent u.a. Blake und Milton zu einer Suche nach Wahrheiten im Kampf um Machtansprüche. Mittendrin ist Malcolm Polstead, zunächst ein elfjähriger biederer Langweiler, der den Eltern im Gasthaus und den Nonnen pflichtbewusst hilft. Durch Beobachten eines mysteriösen Vorfalls trifft er auf die Oakley-Street-Agentin Dr. Relf und sieht sich durch die Zuneigung zu Lyra, die die Nonnen in Pflege genommen haben, bald unversehens in einem dunkel-düsteren Abenteuer, als Wassermassen, sich zu einer biblischen Flut apokalyptischen Ausmasses zusammenbrauen und man versucht Lyra zu rauben. Einzige Rettung verspricht Malcolms heissgeliebtes Boot „La Belle Sauvage“, auf das er sich samt Baby Lyra und Alice begibt, um dem reissenden Strom zu trotzen und Lyra in Sicherheit zu bringen.
„The meaning of a story emerges in the meeting between the words on the page and the thoughts in the reader’s mind.“** Es ist genau dieser Satz, der auf Pullmans Homepage zu lesen ist, der mich vor vielen Jahren für die „His Dark Materials“-Trilogie begeisterte. Und so lässt sich folglich im All-Age-Bereich für Gross und Klein, für Neueinsteiger und alte Hasen jeweils etwas anderes aus Pullmans Werk ziehen.
Spannend, düster, exzellent
Düster, eine despotische Welt abbildend, erschafft Philip Pullman in seinem Fantasy-Roman „Über den wilden Fluss“ eine ungemein packende Geschichte um Lyras Babyzeit. Ein liebenswerter Junge, ein entzückendes Baby – gepaart mit Wassermassen biblischen Ausmasses in einer Welt voller Wunder.
„Über den wilden Fluss“ ist ein spannendes, düsteres Leseabenteuer voller Fantasygestalten für die Jungen, exzellente Theokratie- und Totalitarismuskritik für die Erwachsenen, die sich zugleich an den liebenswerten Protagonisten und ihren fleischgewordenen Seelen in Dæmongestalt (wieder mal höchst entzückend) erfreuen möchten. Und so beginnt es etwas gemächlich in einer Welt, die wieder einmal der unseren so ähnlich und doch ganz anders ist. Mit der reissenden Flut, die Menschen überrascht, obwohl die Zeichen auf Warnung standen, wird aus dem pflichtbewussten Jungen ein mutiger Retter, und die Spannung nimmt Fahrt auf. Zugleich wird alles, was Pullman rational erklärt, ins Übernatürliche verkehrt. Es wimmelt von Elfen, Hexen, Wassergöttern. Genial auch die Idee mit der Insel der Vergessenden, die auf originelle Art und Weise wohl Demenz erklären soll.
Grosse Spielräume mit durchdachtem Weltenentwurf
Philip Pullman (Geb. 1948)
Vor rund 15 Jahren, als ich das erste Mal als Erwachsene Pullmans „Goldener-Kompass-Trilogie“ begegnete, rissen mich Lyra und Co. nicht sonderlich vom Hocker. Zu sehr standen damals die Zeichen auf Zauberfantasy, gepaart mit Internatsromantik, gegen Faschismus. Wobei Pullmans vier Sally-Lockhart-Bücher (viktorianische Abenteuer-Mystery mit einem Hauch Steampunk) eher meinen Geschmack trafen. Heute jedoch, nach vielfältiger Jugend-Fantasy-Lektüre, schätze ich die grossen Spielräume, die gute Fantasy-Autoren sich zunutze machen und eben solch einen wunderbar durchdachten Weltenentwurf wie diesen hier schaffen, in dem viel mehr steckt, als man auf den ersten Blick vermuten mag. Vielschichtiger und gehaltvoller als reine Weltenentwürfe, die nur unterhalten sollen. Zum Glück weit weg von christlich verklärter Romantik à la „Narnia“. Insofern sollten sich auch Erwachsene, denen „Über den wilden Fluss“ vielleicht zunächst als reines Jugendbuch erscheint, nicht abhalten lassen.
Was soll man also sagen über diesen ersten Band einer neuen Trilogie, in dem einfach alles glänzend ist? Gekonnter Spannungsaufbau, eine düstere Odyssee, die vor allem junge Leser im wahrsten Sinne mitreissen wird; daneben ein schnörkelloser Erzählstil, wunderbar nüchtern auf den Punkt gebracht. Gelungene Figurenkonstellation um Lyra Bellaqua. Und für das etwas reifere Publikum jede Menge Verweise auf Pullmans Vorbilder, und die hat er als Literaturdozent wie Blake- und Milton-Verehrer ja zuhauf. Beste Coming-of-Age-Fantasy für ein Publikum von 9 bis 99. Freuen wir uns auf die Fortsetzung. ♦
Philip Pullman: Über den wilden Fluss, Roman, 566 Seiten, Carlsen Verlag, ISBN 978-3-551-58393-2
Wenn ich mir den Autor Andreas Wieland vorstelle, dann sehe ich ihn in einer einfachen Blockhütte in den Bergen vor einem Blatt Papier sitzend. Er grübelt. Zwar hat er schon Dutzende von Seiten seines neuen Werks „Famulus“ geschrieben, aber die liegen wohl verstaut im verschlossenen Küchenschrank, und den Schlüssel hat er seiner Frau gegeben, die ihn um den Hals trägt. Sie kennt ihn. Jeden Tag sitzt er ab sechs Uhr in der Früh‘ am Schreibtisch, mit Blick zum kleinen Fenster und ringt mit den Worten, die sich sträuben und die Fäuste ballen. Die ihn manchmal grün und blau schlagen, sodass er hinkt. Wenn er einen Anfall hat, ist es schon vorgekommen, dass alles, was er geschrieben hat, im Ofen zu Asche verglüht ist. Daher der Schlüssel.
Ein Mann jenseits der sechzig
Möglich, dass kein Wort an diesem Porträt stimmt und Wieland an einer lärmenden Strassenkreuzung in Chur wohnt, wo alle drei Minuten eine Strassenbahn vorbei bimmelt. Falls es dort Strassenbahnen gibt; ich war nie dort. Vermutlich stimmt das Porträt nicht, weil Wieland kein medienscheuer Dichter ist und auch nicht als weltentrückter Klausner seine Bücher schreibt. Er hat an Wettbewerben teilgenommen, einen Preis gewonnen, er betreibt eine Galerie; es gibt Pressefotos. Mein Porträt beschreibt eher den „Famulus“, einen Mann jenseits der sechzig, der aus dem Fenster seiner Bergklause seiner jungen Frau zusieht, die ihr Kind trägt und ihm zuwinkt. Er wollte kein Kind. Aber er liebt sie. Aufrichtig. Auch andere Frauen hat er begehrt, aber sie haben ihn nicht erhört.
Tagebuch in der Novelle
Währenddessen schreibt er ein Tagebuch, das wir im „Famulus“ lesen können. Der Ich-Erzähler beschreibt nicht, wie er arbeitet, aber ich könnte mir vorstellen, dass er alle zehn Minuten aufsteht und sich einen Tee kocht. Oder sich aus der Räucherkammer etwas zum Essen holt. Und dann nachsieht, ob noch Feuer im Herd brennt und er die Tür zur Räucherkammer wieder verschlossen hat. Er sucht nach erlesenen Bildern. Streicht wieder aus, was er geschrieben hat. Formuliert neu. Er besitzt keinen Computer. Nicht mal einen Triumph Adler Alphatronic PC mit 8 Bit aus dem Jahr 1984 nach der Sintflut.
Famulus ist ein Buch über Verluste. Manchmal kommt man sich selbst abhanden. Sogar im Februar. Der ist der Lieblingsmonat des Famulus. Weil er da womöglich seine Frau kennengelernt hat, deren Namen er nicht weiss, oder weil da seine Tochter geboren ist. Es spielt keine Rolle. Aber er wird sie verlieren, weil der Februar nicht dauert, und weil sie früher oder später gehen wird. Manchmal tastet er sich bis in den März vor, aber es geht nur ansatzweise. Er wird sterben, oder sie wird gehen. Was es ist oder ob es Gründe gibt, spielt keine Rolle. Es ist, wie es ist, und so ist diese Novelle ein Buch auf der Grenze zwischen Leben und Tod. Und es ist diese Grenze, die den 63jährigen Famulus, den Mann ohne Namen am meisten interessiert.
„Dann kommen die Engel, sie sind schrecklich“
Zwischendurch aber wehrt er sich, Hat seine Anfälle. „Will endlich ihren Namen wissen. Schreie sie an. Ist nicht das erste Mal Habe ich ihr gesagt, dass ich sie liebe? Sie und ihn? Sie und den Februar? Oder wollte ich es nur tun? Sie schweigt. Spricht nicht mehr. Schreie sie erneut an. Sage ihr wüste Worte. Passen nicht zu ihr. Zu mir auch nicht. Will verletzen. Will wissen, wie sie heisst. Endlich wissen, wie sie heisst. Ist nur ein Name. Famulus, sage ich zu mir. Beruhige dich. Aber ich will wissen, wohin sie geht (S.18).
Dann kommen die Engel. Sie sind schrecklich, Schrecklich und fremd. Einen küsst er. Sie heisse „Maria“, sagt sie. Aber es ist nicht seine Frau. Er „will sie schlagen. Sie anspucken. Sage ihr, dass sie sich hüten soll. Und verschwinden.“ (S. 20)
Verführerisch-anschmiegsame Sprache
Andreas Wieland (Geb. 1969)
So könnte man seitenlang weiter zitieren. Das Buch lädt dazu ein. Seine Sprache schmiegt sich an. Ist verführerisch, auch da, wo sie hart wird, von Dornen erzählt oder davon, dass die Angebetete merken wird, dass er eine fremde Frau im Arm gehalten hat. Auch er möchte davonschwimmen ohne Geschichte, so wie Frischs Gantenbein. Es wird ihm nicht gelingen.
„Famulus ist ein Buch der Liebe. Ebenso wie des Hasses. Auch die Sprache kann man lieben und hassen, weil sie einengt. Festlegt. Nicht die Luft brennt, sondern der Sand in den Dünen. Sogar das Meer brennt lichterloh. (S 28) Das es im Hochgebirge nicht gibt, aber wen interessiert das: man kann ja träumen. Dass der Famulus davon erzählt, er wälze sich im Sand, lässt darauf schliessen, dass ihm die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit immer mehr verschwimmt. An manchen Stellen, vor allem gegen Ende hin träumt er sich ans Meer. Spürt die Gischt auf seiner Haut. Träumt sich in die Weite, die er nie erleben wird. Zumindest ist es wenig wahrscheinlich Dafür ist er viel zu sehr gefangen in seinem Inneren. Das ihm ja zugleich auch Freiheit bedeutet, egal wie gefangen er sonst sein mag. Vielleicht gibt es die Frau und das Kind nur in seinem Tagebuch. Vielleicht lebt er an einer belebten Kreuzung in Chur statt im Hochgebirge.
Traum-Orte illustriert
Der Illustrator Claudio Caprez nimmt die Sprache des Buches, die zugleich reich ist und doch immer um die selben Motive kreist, gut auf. Seine Zeichnungen sind durchgehend in blau, beige und orange gehalten und zeigen stilisierte Buchten, mal mit den Hauptpersonen, mal ohne sie. Es sind Traumorte, die niemals zu erreichen sind oder erst, wenn der Februar endgültig Geschichte ist. Nur die letzte Seite ist blau und grün (S.32). Aber das ist keine Seite, die „Famulus“ der Melancholiker je (in sich) finden könnte. Dazu müsste er wirklich gehen. Nach aussen. Weg von sich selbst.
Ein Leben nur im Tagebuch
Die kurze, aber tiefgründige, in einer manchmal verführerisch-anschmiegsamen, dann wieder harten Sprache verfasste Novelle „Famulus“ von Andreas Wieland ist ein Buch über die Liebe und den Hass. Ein Buch aber auch über Verluste, die seelische (Un-)Tiefen aufwühlen. Illustrator Claudio Caprez nimmt die Buch-Welten „traum-haft“ auf.
Denn er lebt ja nur in seinem Tagebuch. Das er fortwährend schreibt, die Finger schwarz von Tinte. Schwarz wie das Meer, von dem er träumt. Das er, Bewohner der Gipfel der Hochalpen, aber nie erreichen wird, egal wie sehr er sich dorthin sehnt. Es sei denn, er kann wirklich ein Anderer werden.
An dieser Stelle habe ich eine Anfrage an den Autor. Ich zweifle, ob ich das Buch „Famulus“ genannt hätte. Der Famulus Wagner, ursprünglich eine Figur aus Goethes „Faust“ ist ein beschränkter Mensch, fast eine Marionette, der Faust bei seinen Ausflügen ins genialisch Unbekannte nicht folgen kann. Auch ein sechsarmiger Industrieroboter der Firma KUKA hiess „Famulus“. Roboter haben keinen eigenen Willen, sondern werden von Software gesteuert. Auch sie sind „Marionetten“, abhängig vom Willen eines Ingenieurs.
Famulus der Faust-Schüler
Gewiss, der „Famulus“ lebt wie Fausts Schüler in einer Bücherwelt. In gewissem Sinn ist er „beschränkt“. Aber würde auch dieser Famulus einen Geist für den Vortrag aus einer griechischen Tragödie halten? Ich glaube nicht. Sollte man ihn wirklich Famulus nennen? Er weiss doch selbst um seine Einschränkungen und will sie besiegen (S.27). Einem „Wagner“ würde das nie in den Sinn kommen. Noch im nach Hause gehen hört er „schöne Klänge“ (S. 27). Er wird über sich hinauskommen, den Februar verlassen. Der März klopft schon an. Wird sich verlassen, die Frau, das Kind, wird sterben und auferstehen und alle werden leben. Nicht nur in schwarzer Tinte. Er wird in See stechen. einen Hafen ansteuern und Frau und Kind neu finden (S.31). Daher auch das Bild in blau und grün am Ende. Ein Hoffnungsbild. So viele Züge, die über den „Famulus“ hinausführen. Zumindest lese ich das in Wielands Buch.
Die Abgründe der eigenen Seele
Müsste dieser Famulus also nicht eher „Peter“ heissen, (nach dem österreichischen Dichter Peter Rosei, (geboren 1946), weil auch er in den Abgründen der eigenen Seele wohnt? Oder vielleicht noch besser „Odysseus“, weil er über sie hinaus will? Vielleicht nicht einmal nach Ithaka, weil er das ja schon kennt.
Ich weiss nicht wie Wieland es sieht. Er hat mit dem Titel einen starken Hinweis gegeben, aber manchmal wissen Figuren mehr als der Autor.
Das alles wird Andreas Wieland mir vermutlich nicht danken, weil Autoren sich ungern in Schubladen einsperren lassen, in denen schon andere Autoren hausen. Sie wünschen sich ihre eigene Schublade, in der sie ungestört wohnen und wühlen können. Aber keine Sorge, Herr Wieland. Die sei Ihnen gegönnt. Bitte, gerne. ♦
Im viktorianischen London des Jahres 1893 ist das Korsett, das Cora Seaborne die Luft zum Atmen nimmt, nicht nur materiell zu sehen. Ihr Gatte, im Sterben liegend, befreit sie von Zwang und Unterdrückung. Sein Tod gibt ihr endlich die ersehnte Freiheit, dem gesellschaftlichen und weiblichen Dasein voller Einengung durch Konventionen, dem gesellschaftlichen Korsett, zu entfliehen. Was läge näher, als dem Ruf des Herzens, in diesem Fall der Wissenschaft um Fossilien, die Mary Anning mit ihren sensationellen Funden bereits rund ein dreiviertel Jahrhundert zuvor den Weg zu Ruhm geebnet hat, zu folgen und einem Leben voller Freiheit, Luft und Liebe nachzugeben?
Zusammen mit ihrer Freundin, zugleich Gesellschafterin und Kindermädchen für den verschrobenen jungen Francis, macht sich das Trio nach Essex, genauer gesagt Colchester auf, um endlich Erfüllung in der Einöde zu finden, voller Anbetung und Hingabe an die Natur. Doch auch weit weg von der Kapitale des Britischen Weltreiches ist man nicht sicher vor alten Bekannten. Ein Arbeitskollege des Verstorbenen weilt samt Gattin ebenda und vermittelt den Kontakt zum Geistlichen des kleinen Örtchens Aldwinter, wo Cora neben der sagenumwobenen „Schlange von Essex“ viel mehr findet, als sie zunächst erwartet.
Natur vs. Glaube vs. Wissenschaft
Perry hat mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman, eine feingesponnene, dichte und tiefsinnige Geschichte ersonnen, die zunächst durch ihre feinsinnigen Charaktere punktet, deren angedeuteten Leidenschaften und verworrenen Konstellationen im ersten Drittel des Romans einen Grossteil des Reizes der „Schlange von Essex“ ausmachen. Daneben die Suche Coras nach sich selbst. Den Zwängen entfliehen, das „Frau sein“ hinter sich lassen, das doch nur Verdruss und Schmerz (eine unglückliche Ehe, eine gestörte Mutter-Sohn-Beziehung) nach sich gezogen hat. Und gerade da, mitten im Nichts, wird sie der Liebe ihres Lebens begegnen. Nichtsahnend rumpelt man bei der Befreiung eines Schafes aneinander und beschliesst einander zu verabscheuen. Als Cora und Pfarrer Will Ransome sich dann offiziell begegnen, ist das Erstaunen gross, denn die Ransomes erwarteten eine ältliche matronenhafte Witwe, samt Sohn auf Freiersfüssen.
Doch sie erhalten etwas ganz anderes – eine treue Freundin, angeregte Gesprächs- und Streitpartnerin, Verbündete und Mitstreiterin wider den dörflichen Wahn, rund um die Schlange, das mythische Wesen, das wohl gekommen ist, die Menschen zu strafen. Sämtliche Geschehnisse, gleich ob der fehlende Frühling, das verdorbene Korn, das Verschwinden einer Ziege… werden dem Leviathan angelastet. Doch während Cora hofft, die Schlange könnte eine monumentale Entdeckung paläontologischer Art sein, die sie eins werden lasse mit ihrem grossen Vorbild, möchte Will Ransome all die Vorkommnisse rational erklären. Hitzige Debatten und anregende Streitgespräche sind programmiert, doch dann treibt der Wahn um Gottesstrafen ein ganzes Dorf um. Als Mädchen in Hysterie verfallen und Naomi Banks, die Freundin von Wills und Stellas Tochter Joanna, verschwindet, wird aus Aberglaube vs. Glaube vs. Wissenschaft bitterer Ernst.
Überkonstruiertes Beziehungsgeflecht ermüdet
Bestseller-Autorin Sarah Perry (Geb. 1979)
Schnell jedoch wird das verworrene Beziehungsgeflecht ermüdend und scheint überkonstruiert: Cora und deren mitunter zweideutige Beziehung zu ihrer Gefährtin Martha, der die Bekanntschaft und innige Freundschaft zu Will ein immerwährender Dorn im Auge ist. Auch der geniale Chirurg Luke Garrett, der Arzt des verblichenen Mr. Seaborne war und von einer gemeinsamen Zukunft mit Cora träumt, ist mit von der Partie. Durch eine Nebenhandlung wird er uns die gesamte Handlung über begleiten und zur tragischen Figur, im doppelten Sinne, werden. Auch Martha hat einen Verehrer, den reichen George Spenser, der zugleich Freund und Kollege Lukes ist. Martha, die hier für das soziale Gewissen in der Stadt (London, genauer gesagt die Wohnungsfrage) steht, die ihre Armen ausbeutet und die Reichen ungehindert immer reicher und verkommener werden lässt, ist eine gespaltene Gestalt, die die eine liebt, aber nicht haben kann, den anderen, den sie haben könnte ausnutzt, einen dritten für kurzfristige Befriedigung braucht und sich dann ganz ihren Grundsätzen konträr mit einem vierten einlässt.
Roman-Figuren stellvertretend für die Gesellschaft
Die Figuren stehen stellvertretend für die Gesellschaft und ihren statischen Zustand, der allerdings langsam aufzubrechen droht; ihre Entwicklung ist sinnbildlich für das Mäandern des Lebens (die die Langeweile durch vorgezeichneten Lebenswege sowohl herausstellen als auch konterkarieren soll). Leider führen all die Nebenhandlungsplätze, die vielleicht gut zur Verdeutlichung der Paradigmen Natur (pastorale Idylle) vs. Glaube (Mythen, Bibel) vs. Wissenschaft/Verstand (Darwin und die Möglichkeit der Chirurgie als auch Medizin) sein mögen (bzw. deren Wechsel), schnell zu Vorhersehbarkeit und einem unschönen Ausfransen der Handlung.
Und so entwickelt sich, was kraftvoll, dynamisch, andeutungsreich, kurz: vielversprechend, stringent, verschroben und bizarr beginnt (für Freunde des Skurrilen durchaus verheissend), zum ausufernden Ärgernis, das zunehmend montagehaft Entwicklungen präsentiert, was bei Dickens vielleicht gekonnt integriert ist, hier aber fehl am Platze scheint. Und vor allem das Lesen zur Herausforderung macht…
„Ich habe mich von der Pflicht befreit möglichst hübsch auszusehen“
Der Roman „Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry scheint weder Fisch noch Fleisch zu sein. Stilistisch und erzählerisch durchaus herausragend aus dem Mainstream-Einheitsbrei, der sich dem Oberflächlich-Offensichtlichen widmet – aber nicht fokussiert genug auf das Anliegen. So verliert sich die Autorin schliesslich im überkonstruierten Beziehungsgeflecht.
Wo bleibt dabei die Liebe Coras zu Mary Anning, wo der Diskurs über Darwin, wo ihre Ambition? Wo bleibt vor allem die Schlange von Essex, die bis zur (vorhersehbaren) Auflösung lange in ihrem Ursprung unbeachtet dahin dümpelt. Auch die Liebe zu der Natur, dem verschrobenen Wesen der Landbevölkerung, der interessanten Landschaft um den Blackwater (besagter Flussarm, um den sich hier alles dreht) wird recht schnell beiseitegelegt, was schade ist, denn Perry versteht ihr Handwerk durchaus. Sprachlich ist und bleibt das Buch bis zum Ende ein Genuss, gelungene Metaphern, gekonnte Personifizierungen lassen die Natur, über die Strecken, wo Perry ihr Raum zur Entfaltung gibt, in all ihrer tristen und verwunschenen Schönheit, auferstehen.
Durch all die Entwicklungen und Nebenschauplätze leidet die Verbundenheit des Lesers zur Handlung, zu Personen und Lokalität. So kann man beispielsweise bei Simons Becketts Thriller „Totenfang“ die Landschaft um die Backwaters düstererer und atmosphärisch dichter verfolgen. Weiterer grosser Minuspunkt ist die doch unausgegorene bruchstückhafte Liebesgeschichte, die eben nicht das schafft, was für eine gute Herz-Schmerz-Geschichte essenziell ist – uns hineinzuziehen in die Beziehungsthematik, uns zu fesseln, mitfiebern zu lassen und atemlos des Happy Ends zu harren und dieses herbeizusehnen. ♦
Lange war kein solcher Morgen.
Kalt, klar. Baum, Dach und Zaun
erhielten ihren Teil an Schnee.
So still und sauber wars
seit ich mich erinnere
nicht mehr.
Später allerdings schrie
der Morgen, er wird seine
blutigen Flecken bekommen.
Die blasse Scheibe der Sonne
hielt sich noch hinter dem Wald,
da hoben, halb zerrten sie das Schwein
an Beinen und Ohren und auf den hergerichteten
Vorplatz zu Hacken und Bottich.
Um neun Uhr sah ich die Schlächter
beim Mahl. Wie sie zugriffen!
Ihre Lust an Speise und Trank,
ihre Fröhlichkeit,
hat mich verstimmt.