Patricia Cornwell: Totenstarre (Scarpetta-Krimi)

„Mir gefällt gar nicht, was gerade hier los ist“

(Lucy zu Tante Kay, Seite 200)

von Isabelle Klein

Kay Scarpetta hat es auch diesmal wieder einmal höchst privat getroffen. In ihrem mittlerweile 24. Fall lässt Cornwell Kay in der Hitze Cambridges bis zum Umfallen schuften. Doch in gewohnter Scarpetta-Manier schlägt sie sich tapfer und kämpft an vielen Fronten…
An einem glühend heissen Nachmittag ist Kay unterwegs, um letzte Erledigungen für den anstehenden Besuch ihrer heissgeliebten Schwester Dorothy zu tätigen, als sie einmal mehr zur Zielscheibe ihres derzeitigen Stalkers „Tail-end Charlie“ – warum nur muss man hier auch in der Übersetzung immer mit Anglizismen arbeiten?! – wird, der wiederum Marino auf den Plan ruft. Und schon sind wir einmal mehr in der höchst kruden und unüberschaubar bösen Welt, die Kay und ihre Lieben umgibt. Marino ist wie so oft von unguten Gefühlen getrieben, während seine Ex-Chefin sinniert: Über das Marihuanablatt-Tattoo ihres Büroleiters Bryce, über den bevorstehenden Vortrag in Harvard mit ihrem Mentor Briggs, über den gefürchteten Besuch der herzallerliebsten Schwester – als einmal mehr ein Leichenfund das rare Privatleben stört, gerade als Kay sich mit ihrem Gatten zum Essen auf dem Campus trifft. Selbstverständlich mischt zugleich das FBI mit und Benton entschwindet… Nicht zu vergessen selbstverständlich die immer Böses witternde, phobische Super-Lucy, die nun auch die am Flughafen weilende Dorothy unter ihre Fittiche nehmen muss.
Wir merken es schon haarscharf im ersten Drittel: Frau Cornwell lässt Scarpetta wieder einmal viel zu viel sinnieren und schwadronieren; dermassen raumgreifende Redundanz lässt den Leser gerne die Leselust verlieren…

Hinter allem besteht ein Zusammenhang…

Patricia Cornwell - Totenstarre - Thriller - HarperCollins VerlagVon vornherein ist allen Beteiligten mehr als glasklar: Hinter allem besteht ein Zusammenhang, denn neben der Leiche einer jungen Frau namens Elisa Vandersteel mit merkwürdigen Verletzungen, die von einem Blitzschlag herzurühren scheinen, wird auch Briggs nicht unbeschadet aus diesem Drama hervorgehen. Es kann nur eine Verantwortliche geben, wissen Benton und Lucy sofort. Et voilà: Vorhang auf für Carrie Grethen, die uns seit der „Toten ohne Namen“ und schon lange zuvor als Lucys Geliebte und FBI-Ausbilderin das Leben zur Hölle machte. Steckt sie hinter den Mobbing-Attacken auf Kay? Hat Benton recht, wenn er Kay mit nach Maryland nehmen möchte, da er Kay in höchster Gefahr sieht? Neben Marinos Panikmache und Lucys Endzeitstimmung hat Kay nun auch noch mit einem überfürsorglichen Ehemann zu kämpfen…

Dekadente Luxusteilchen des Lebens

Fragen über Fragen, die Cornwell in ihrer „Alles-hängt-mit-allem-zusammen-und-Kay-steht-immer-im-Zentrum-des-Bösen“-Masche derart unglaubwürdig (über)konstruiert, dass einem von Anfang an die Haare zu Berge stehen. Kay sinniert seitenweise über das intellektuelle Harvard der upper class, über teure Luxuskarossen – all das ist sinnbildlich für Cornwells Aufstieg von der Gerichtsreporterin zur Schriftstellerin und ihren Erfolg zu sehen. Scarpetta und Lucy sind wohl ein Mischung aus Marcella Fierro (die Leiterin der Gerichtsmedizin des Staates Virginia, von der Cornwell vieles gelernt hat) und Cornwell höchstselbst.
Erfolg ist eine schöne Sache, aber ermüdend, wenn man als Leser seit nunmehr weit über 15 Jahren all die kleinen dekadenten Luxusteilchen ihres Lebens in jedem Detail miterleben muss. Ergo: Seit nunmehr weit über 14 Bänden überwiegt die Zahlen der schlechten Bücher, die auf krude Weise redundant sind und sich zunehmend in den Phobien der Beteiligten, allen voran in jenen Miss Superwomans Lucy’s, verlieren. Wahrhaft geniale Bücher der Scarpetta-Reihe findet man wenige, nur sieben. Seit dem Tod Bentons und seiner Wiederauferstehung befinden wir uns an einem Punkt, ab dem normales Ermitteln in gut konstruierten und vor allem glaubhaften Zusammenhängen nicht mehr möglich scheint, denn immer wieder nehmen Psychopathen oder alte Bekannte das Quartett in den permanenten Fokus ihrer Bösartigkeiten. Dem Cornwell’schen Mikrokosmos des CFC fehlt es an jedweder Plausibilität, an inhaltlicher Raffinesse und einem Spannungsbogen, eben an alledem, was einen Thriller ausmacht.

Langeweile bei Tatort-Sicherungen

Patricia Cornwell - Glarean Magazin
Die amerikanische Krimi- und Thriller-Autorin Patricia Cornwell (Geb. 1956)

Dabei hilft auch diesmal wieder (wie in allem ihrer Bücher der letzten Jahre) der eng gesteckte Zeitrahmen. Gerade mal 24 Stunden hat Kay, um das Ableben Elisa Vandersteels aufzuklären. Und sie wird dabei nicht müde, uns immer wieder darauf hinzuweisen, dass alles, jedes Wort doppelt und dreifach überlegt werden müsse, denn jede Aussage könne ins Gegenteil verkehrt werden. Und so vergeht, während Kay den Tatort aufsucht, bis zu dem Zeitpunkt, als die Leiche im CFC landet, eine ganze Nacht, während der genervte und gelangweilte Leser verfolgen muss, wie Harold und Rusty in jeder Einzelheit den Tatort sichern.
Wenn Cornwell mit ihrem Wissen brillieren will, soll sie ein Sachbuch über Forensik und die Schwierigkeiten der Tatortsicherung schreiben, aber uns damit verschonen, wie endlos Zeit ins Land geht – und wir unterdessen mit Akronymen (BUD, NCFC, ORNL,RFID, AFSME etc.) und schlechten Metaphern zugemüllt werden.

Akronyme und schlechte Metaphern

Beispiel gefällig? „Seelische Verletzungen können zu Rissen führen, die wie Kratzer auf einer DVD manchmal irreparabel sind“ (S. 207). Oder: „Verwesungsgeruch blüht in unseren Nasenlöchern wie eine dunkle tödliche Blume“ (S. 380).
Beinahe hätte ich es vergessen: Immerhin hat Cornwell diesmal ihre Tendenz zu Schleichwerbung für Apple, Ferrari, Audi und Co. ein wenig gedrosselt, aber an anderer Stelle noch gesteigert. So lautet der Name ihres Zweithundes allen Ernstes „Tesla“…. Schön, dass sie uns durch Lucy, Benton und Kay zeigt, was sie alles erreicht hat, und wie wichtig ihr Status durch eben diese Symbole zu sein scheint. Mich ermüdet, verärgert es. Wir werden neben ihrer Keurig-Kaffemaschine und Bentons Audi auch die Landseer-Bilder in ihrem Büro kennenlernen und erfahren minutiös viele banale Handlungsabläufe (etwa wie sie im Büro über den Teppich läuft oder die Wand mit Bildern passiert usw.).

Literarischer Niedergang einer Kult-Reihe

Patricia Cornwell hat es mit "Totenstarre" einmal mehr geschafft, einen weiteren negativen Höhepunkt in ihrer seit über 15 Jahren abfallenden Serie um die Forensik-Ikone Kay Scarpetta zu erschaffen: Langeweile, Redundanz, Paranoia, Überkonstruktion. Kurz: verschenkte Lesezeit. Schade.
Patricia Cornwell hat es mit „Totenstarre“ einmal mehr geschafft, einen weiteren negativen Höhepunkt in ihrer seit über 15 Jahren abfallenden Serie um die Forensik-Ikone Kay Scarpetta zu erschaffen: Langeweile, Redundanz, Paranoia, Überkonstruktion. Kurz: verschenkte Lesezeit. Schade.

Längst vergangen sind die Zeiten einer spannenden Scarpetta-Lektüre, als die Atmosphäre im mordschwangeren Virginia höchst subtil und effektiv mit geringen, aber dafür umso wirkungsvolleren Kniffen reduziert/maximiert wurde; als Cornwells Ego, Reichtum und schlechte Prosa noch inexistent waren. Die gute alte Scarpetta-Zeit eben.
Patricia Cornwell hat es einmal mehr geschafft, einen weiteren negativen Höhepunkt in ihrer seit weit über 15 Jahren abfallenden Serie um die Forensik-Ikone Kay Scarpetta zu erschaffen: Langeweile, Redundanz, Paranoia, Überkonstruktion. Kurz: verschenkte Lesezeit.
Kehren Sie, liebe Leserin oder lieber Leser, also besser zu Cornwells genialen Anfängen zurück und gönnen Sie sich die ersten Bücher der Scarpetta-Reihe noch einmal! ♦

Patricia Cornwell: Totenstarre (Kay Scarpetta / Bd. 24), Krimi, HarperCollins Verlag, 432 Seiten, ISBN 978-3959671255

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Krimi von Martin Walker: Schwarze Diamanten
und über den Krimi von

Beat Portmann: Alles still

Literatur- und Musik-Novitäten – kurz belichtet

Bemerkenswerte neue Bücher

von Walter Eigenmann

Péter Nádas: Aufleuchtende Details (Memoiren)

Der ungarische Schriftsteller und Photograph Péter Nádas zählt nicht nur zu den produktivsten und vielseitig diskutierten, sondern auch zu den häufigst geehrten Autoren der Gegenwart. Sein vorzugsweise erzählendes Werk sowohl in Kurzprosa- wie in Roman-Form ebenso wie sein bedeutendes essayistisches Schreiben kreist einerseits um den existentiellen Einzelnen in gesellschaftlich deformierenden Systemen – beispielsweise dem Kommunismus -, anderseits behandelt es die individuell tragisch erfahrene Gefährdung des Lebens durch Krankheit und Tod (beispielsweise in „Der eigene Tod“).

Stilistische Virtuosität und philosophische Reflexion

In einem umfangreichen Konvolut von beinahe 1’300 Seiten breitet Nadas nun unter dem Titel „Aufleuchtende Details“ in geradezu fulminanter, um nicht zu sagen: monströser Epik die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Verwerfungen praktisch des gesamten letzten Jahrhunderts aus. Offiziell nennen sich diese „Lebenserinnerungen“ Memoiren, doch wie sein schriftstellerisches Oeuvre sind sie durchdrungen von grossartiger stilistischer Virtuosität ebenso wie von philosophischer Reflexion.
Der ausdrücklichen Intention des Autors nach sind die „Aufleuchtenden Details“ jedenfalls zwar eindringlich narrativ, doch gleichzeitig gemeint als eine Abkehr von aller Fiktion und eine Hinwendung zur geradezu enzyklopädischen Aufarbeitung seiner persönlichen (ungarischen) Familiensaga in einem bewundernswerten Erinnerungs-Spiegel, der zwei Weltkriege und die grossen Umwälzungen der Moderne beinhaltet.

Abwendung von der Ich-Aufgeblasenheit der aktuellen Epoche

In der „ZEIT“ fasste die Literatur-Kolumnistin Iris Radisch, die mit Nadas ein Gespräch führte, diese Zielsetzung des Schriftstellers folgendermassen zusammen (Zitat):
[Es] „entstand der Wunsch, endlich auf das Fiktive zu verzichten und das schriftstellerische Ego zu eliminieren. Er sagt das mit seiner wunderbar bebenden Ruhe in dieser Vorbuchmessen-Stille: ‚Sich von der schriftstellerischen Eitelkeit zu befreien ist ein grosses Erlebnis.‘ Die Ich-Aufgeblasenheit der aktuellen Epoche, in der die Selbstverwirklichung von Millionen sogenannter Individuen der letzte verbliebene Lebenssinn ist, hält er für eine Verirrung. In seinen Memoiren wollte er herausfinden, ‚wie ich bin ohne mein Ich‘, wollte die Grundmauern des Bewusstseins erkunden, in denen sich die Vergangenheit in Form von Tatsachen abgelagert hat, ‚an denen man nicht rütteln kann‘.“ ♦

Péter Nádas: Aufleuchtende Details, Memoiren eines Erzählers, 1’280 Seiten, Rowohlt Verlag, ISBN 978-3-498-04697-2

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Zeitgeschichtliche Belletristik auch über den
Roman von Ken Follett: Winter der Welt


Zürcher Festspiel-Symposium 2016: Das Groteske und die Musik der Moderne

Mit Beiträgen der Musiktheoretiker und -historiker Cord-Friedrich Berghahn, Federico Celestini, Mark Delaere, Andreas Dorsch, Friedrich Geiger, Inga Mai Groote, Andreas Jacob und Michael Meyer rückt eine Essay-Sammlung des Zürcher Festspiel-Symposiums 2016 ein Phänomen in den Fokus, das seinen Ausgang anfangs des letzten Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch aller festen Gefüge durch den 1. Weltkrieg hatte und in DADA seine theoretisch wichtigste Ausprägung fand: das Groteske.

Groteske Musik im Werk von Mahler bis Walton

Laurenz Lütteken - Das Groteske und die Musik der Moderne - CoverIn acht Artikeln fasst der Band „Das Groteske und die Musik der Moderne“ die Erörterungen des Zürcher Fespiel-Symposiums 2016 zusammen, das sich anlässlich der 100-Jahr-Feier von DADA – diese internationale Bewegung hatte just in Zürich ihre Ursprünge – unter dem Titel „Zwischen Wahnsinn und Unsinn“ mit den Spuren des dadaistischen Grotesken in der Musik der Moderne-Exponenten Mahler, Schönberg, Satie, Strawinsky, Bartok, Walton, Strauss und Hindemith auseinandersetzte.

In seiner Einführung hält Herausgeber Laurenz Lütteken fest: „Eigenartigerweise ist das Groteske im Blick auf die Musik bisher noch nie systematisch untersucht worden, allenfalls für das Werk einzelnern Komponisten wie Mahler oder Schostakowitsch, besonders im Falle Schönbergs. […] Es war daher das Ziel des Festspiel-Symposiums 2016, dieses Musikalisch-Groteske näher in den Blick zu nehmen. Darin lag auch die eigentliche Verbindung zum Festspielthema „100 Jahre Dada“, denn die Dada-Bewegung ist ihrerseits ein Spiegel dieses Willens zur Groteske – wenn auch unter weitesgehender musikalischer Abstinenz“.

Ein Blick auf den Inhalt des Buches

Inhaltsverzeichnis von "Das Groteske und die Musik der Moderne"

…zeigt eine zwangsläufig äusserst breite thematische Fokussierung hinsichtlich sowohl der Komponisten-Persönlichkeiten wie der stilistischen Zuordnungen. Wobei die Problematik des Begriffs des Grotesken im Zusammenhang mit Kunstmusik überhaupt schon längst bewusst ist. Denn wie bereits in Barck/Fontius/Schlenstedt’s Band 2 der „Ästhetische Grundbegriffe“ konstatiert wird, sind Bezüge auf das Groteske in der Musik am seltensten, „was damit zusammenhängt, dass die visuelle Referenz für das Groteske eine Vorrangstellung einnimmt.“

Radikale Infragestellung ästhetischer Normen

Gleichwohl wird in der vorliegenden Essay-Sammlung eindrücklich dokumentiert, dass auch in der musikalischen Moderne bei erstaunlich vielen Schlüsselwerken dem Grotesken ein konstituierendes Moment zukommt, das weit über das Karikierende bzw. Persiflierende hinaus eine ästhetische Infragestellung herkömmlicher ästhetischer Normen darstellt und derart weit vorangetrieben wird, dass es zum vom Neoklassizismus nicht mehr assimilierbaren Begriff wurde und seine gewollt subversive Intention realisieren konnte.

Das Uneigentliche zum musikalischen Eigenwert erhoben

Um in diesem Zusammenhang nochmals Lütteken zu zitieren: „[In der Musik wurde das Groteske zur Möglichkeit], aus den Normen von kompositorischer Syntax und Semantik auszubrechen. Das 19. Jahrhundert selbst hielt diese Möglichkeit shcon bereit, bei Hector Berlioz etwa oder bei Robert Schumann, doch am Ende im Sinne einer dialektischen Verstrebung mit dem Eigentlichen. Diese Einheit ist jedoch mit der heraufziehenden Moderne zerbrochen. Das Groteske als das Verschobene, das Verzerrte, das Verfremdete und schliesslich das Uneigentliche sollte einen musikalischen Eigenwert beanspruchen, der kein Korrektiv mehr kannte, sondern selbst zum Korrektiv geworden war“.

Der vorliegenden Sammlung gebührt das Verdienst nicht nur einer neuerlichen, nachhaltigen Initialisierung breiten Diskutierens über die bisher unterschätzte Bedeutung des Grotesken in wesentlichen Musik-Moderne-Werken, sondern auch einer teils (im Rahmen von Fallstudien erstaunlich) tiefen analytischen Durchdringung zahlreicher konkreter Untersuchungen von Strawinsky’s „Sacre“ bis zu Strauss‘ „Schlagobers“. Der Band möge zahlreiche weitergehende Betrachtungen nach sich ziehen. ♦

Laurenz Lütteken (Hrsg.): Das Groteske und die Musik der Moderne (Zürcher Festspiel-Symposien, Band 8 / 2017), 162 Seiten, Bärenreiter Verlag, ISBN 978-3-761-82158-9

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Musik der Moderne“ auch das „Zitat der Woche“ von
Ursula Petrik: Von den Kontaktschwierigkeiten der Neuen Musik

… und lesen Sie im Glarean Magazin auch weitere
„Interessante Buch- und CD-Neuheiten – kurz belichtet“ (Juni 2012)

S. Schüssler (Hrsg.): Berlin – Eine literarische Einladung

Die Narben einer einzigartigen Stadt

von Bernd Giehl

Ein kleines Buch für die Jackentasche ist dieses „Berlin – Eine literarische Einladung“ aus dem Wagenbach Verlag. Man kann es mitnehmen und im ICE lesen, wenn man gerade nach Berlin unterwegs ist, um dort ein verlängertes Wochenende zu verbringen, oder weil man geschäftlich hin muss. So eine Fahrt kann ja dauern, und nicht immer findet man den Sitznachbarn so sympathisch, dass man sich unbedingt mit ihm unterhalten will.

Einem Irrtum sollte man allerdings nicht unterliegen: „Berlin“ ist kein Reiseführer. Sinnlos, es nach „Sehenswürdigkeiten“ durchzublättern. Wer wissen will, ob es sich lohnt, die Gethsemanekirche zu besuchen, oder ob man sich die Monstrosität des Berliner Doms wirklich antun sollte, der wird nicht fündig werden. Eher schon geht es um Alltag, die Hinterhöfe, die Baulücken, die „Rattenlöcher“, die gesamte Hässlichkeit, die es ja wahrscheinlich in jeder Grossstadt auf diesem Planeten gibt, in Berlin aber besonders konzentriert.

Ein Sack mit allem Möglichen drin

Wagenbach Verlag - Berlin - Eine literarische Einladung - Cover„Ich würde sagen, Berlin ist ein Sack, in den seit Jahrhunderten alles Mögliche hineingesteckt wurde. Doch zum Glück hat dieser Sack ein Loch, und so fällt das meiste davon immer wieder heraus und hält sich nicht lange“, schreibt Durs Grünbein in dem Text, der das Buch eröffnet.
Natürlich ist es die Geschichte, auf die Durs Grünbeins Satz vom löchrigen Sack anspielt, die Berlin so einzigartig macht. Und natürlich haben auch andere Städte eine Geschichte, die zum Teil viel länger ist, aber kaum eine hat eine Geschichte, die so mit dem Schicksal eines ganzen Kontinents verbunden ist. Andere Städte definieren sich durch die Kunst, die sie hervorgebracht haben oder durch ihre einzigartige Architektur. Berlin definiert sich durch das Schicksal, Hauptstadt des preussischen Geistes zu sein. 1701 machte der preussische Kurfürst Berlin zur Hauptstadt seines Reiches. Zwei Jahrhunderte später wurden zwei Weltkriege von dieser Hauptstadt aus geplant und durchgeführt.

Vielfältige Narben der Geschichte

Die FriedrichStrasse in Berlin um 1900
Die FriedrichStrasse in Berlin um 1900

So geht es auch eher um die Narben, die Berlin prägen und die es hinterlassen hat. Immer wieder wird darauf angespielt, so zum Beispiel in der Geschichte von Katja Petrowskaja „Google sei Dank“, in der die Ich-Erzählerin, gemeinsam mit einem iranischen Juden nach Polen reist und sich mit ihm zusammen Gedanken macht, was der Spruch „Bombardier. Willkommen in Berlin“, den sie beide im Hauptbahnhof gesehen haben, bedeutet. Da auch die Erzählerin nicht weiss, was der Name „Bombardier“ bedeutet, phantasiert sie von einem Musical, das gerade in Berlin aufgeführt werde. Aber natürlich kreist das Gespräch der beiden schon bald um ein ganz anderes Assoziationsfeld.
Daneben gibt es aber auch andere Geschichten, die einfach vom hier und jetzt erzählen; von Missverständnissen, die es auch in alternativen Wohnprojekten gibt, vom Zusammenleben und Auseinandergehen von Menschen, die sich nur wenig zu sagen haben. Es ist wie überall: Schon der Bau eines Baumhauses kann zu ungeahnten Schwierigkeiten führen, nur dass es ganz andere sind als wir erwarten.

Ein schillerndes Kaleidoskop

Die FriedrichStrasse im Berlin unserer Tage
Die FriedrichStrasse im Berlin unserer Tage

Kann man die vielfältige Wirklichkeit einer so grossen Stadt wie Berlin überhaupt einfangen? Vermutlich kann man nur Teile eines grossen Mosaiks einfangen, das sich zudem immer wieder anders präsentiert. Berlin ist eben nicht nur ein Sack voller Gerümpel, sondern auch ein Kaleidoskop, das immer wieder ein anderes Bild produziert.
So ähnlich geht es dem Leser oder der Leserin auch mit diesem Buch, das viele Namen versammelt, die man schon anderswo gelesen hat. Und nicht alles bleibt so lang im Gedächtnis wie der kurze Text von Nikolas, überschrieben mit „2. Juni 1967“ in dem ein namenloser Ich-Erzähler von den Vorbereitungen der Polizei auf eine Demonstration erzählt, die später stattfinden wird und nur der Titel einem sagt, dass hier etwas verschwiegen wird. Die Tatsache nämlich, dass einige Stunden später ein Student namens Benno Ohnesorg von einem Polizisten namens Karlheinz Kurras erschossen wird.
Was daraus später wurde, das wissen wir. ♦

Susanne Schüssler & Linus Guggenberger (Hrsg.): Berlin – Eine literarische Einladung, Wagenbach Verlag, 144 Seiten, ISBN 978-3-8031-1328-3

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Martina Sahler: Die Stadt des Zaren (Roman)

Helmut Glatz: Thema mit Variationen (Gedicht)

Thema mit Variationen

1

Lege deine Hand auf den Rücken der Sprache
in die Wölbungen der Wörter sagte er
und sie werden zu springen beginnen
wie junge Pferde Willst sie fangen
mit deinem Gestammel die Horizonte
nach ihnen werfen Pegasus
lässt sich nicht zähmen

2

Irgendwann entdeckte er sie die
Wölbungen im Weltgefüge Löcher
in die Dunkelheit hinein
Der Urknall ist kein Ausstoss von
Licht sagte er sondern von
Dunkelheit und er dauert
immer noch an
ein Metaphernfresser
permanente Singularität

3

Er lebte vom Geschmack der Wörter
spürte die Wölbungen der Zeit auf
seiner Zunge Was ist Gegenwart
anderes als lebendig gewordene Zukunft?
sagte er Vergangenheit das weggeworfene
Jetzt? Ich bewunderte ihn wie er
über die Schneide der Gegenwart balancierte ein
Äquilibrist immer in Gefahr
abzustürzen ins Ungesagte ins
Unsagbare


Helmut GlatzHelmut Glatz - Glarean Magazin

Geb. 1939 in Eger/D, Studium der Pädagogik und Psychologie, Rektor i.R. Zahlreiche Lyrik- und Prosa-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, lebt in Landsberg/D

Lesen Sie im Glarean Magazin auch
Lyrik von Ines Oppitz: Inmitten (Drei Gedichte)

Giorgio van Straten: Das Buch der verlorenen Bücher

Die Geschichten hinter den verschwundenen Geschichten

von Sigrid Grün

Der Autor und Leiter des italienischen Kulturinstituts in New York, Giorgio van Straten, widmet sich in seinem „Buch der verlorenen Bücher“ acht literarischen Werken, die es zwar mal gab, aber nicht mehr gibt. Es sind unveröffentlichte Bücher bekannter Autoren, die in der prä-digitalen Ära aus verschiedenen Gründen verschwunden sind. Meist durch tragische Umstände, etwa den Brand einer Hütte (Malcolm Lowry), den Verlust eines Gepäckstücks (Ernest Hemingway, Walter Benjamin) oder durch Zensur (Lord Byron).

Umfangreiches Manuskript ins Feuer geworfen

Giorgio van Straten: Das Buch der verlorenen Bücher - Acht Meisterwerke und die Geschichte ihres Verschwindens - Insel VerlagBeispielsweise Nikolai Gogol, der eine Fortsetzung der „Toten Seelen“ verfasst hatte. Er war derart perfektionistisch, dass er – so lautet die Aussage eines Dieners – ein umfangreiches Manuskript, das nicht den eigenen Ansprüchen genügte, zehn Tage vor seinem Tod dem Kaminfeuer überantwortete. Diese „Göttliche Komödie“ der Steppe wird also keiner von uns jemals lesen können.
Sylvia Plaths Werk „Double Exposure“ (‚Doppelbelichtung‘) und Romano Bilenchis „Il viale“ (‚Die Allee‘) wurden vermutlich von den (Ex-)Partnern der Autoren vernichtet.
„Der Messias“ des polnischen Schriftstellers Bruno Schulz ist einfach verschwunden, und es ranken sich heute noch Mythen um den Verlust dieses Meisterwerks. Angeblich soll das Manuskript einmal aufgetaucht und an einen schwedischen Diplomaten verkauft worden sein, der auf der Rückreise vom Übergabetermin tödlich verunglückte – der Wagen brannte völlig aus und alle Insassen starben. Cynthia Ozick hat dem Verschwinden des Buches sogar einen ganzen Roman gewidmet: „Der Messias von Stockholm“.

Spannend wie Krimi-Stories

Giorgio van Straten (Geb. 1955)
Giorgio van Straten (Geb. 1955)

Die „Geschichten der verlorenen Bücher“ sind teils spannende Stories, die an Kriminalfälle erinnern und teils Texte, die uns die Tragik mancher Künstler noch einmal drastisch vor Augen führen. Der Sylvia-Plath-Text beginnt beispielsweise mit ihrem Selbstmord.
Van Straten erzählt unterhaltsam und bisweilen wirkt sein Stil auch ein wenig geschwätzig, wobei er selbst betont, dass er Klatsch liebt. Mir persönlich ist es ab und an etwas zu viel Namedropping, bei dem der Autor aufzeigen möchte, mit welchen Grössen des Literaturbetriebs er Kontakte pflegte bzw. immer noch pflegt. Aber darüber kann man leicht hinwegsehen. „Das Buch der verlorenen Bücher“ ist eine kurzweilige Lektüre, die den Leser vor allem gut unterhält.
Ich habe schon mehrere Bücher über vergessene Meisterwerke der Weltliteratur gelesen, die mein Interesse an Texten weckten, die zwar von der Bildfläche verschwunden, aber immer noch da sind. „Das Buch der verlorenen Bücher“ macht besonders neugierig, jedoch ohne Aussicht, diese Neugierde jemals zu stillen. Das ist natürlich ein bisschen frustrierend; In der Fantasie mag man sich ausmalen, welche Meisterwerke dem Leser da entgangen sind.

Fundgrube für literarische Entdeckungen

Giorgio van Straten hat mit seinem "Buch der verlorenen Bücher" eine unterhaltsame Textsammlung geschafft, die sich hervorragend als Geschenk für Literaturbegeisterte eignet. Er kann interessante Inhalte spannend vermitteln und schliesst mit seinem Buch eine Lücke im Bereich der Literaturgeschichte. Wer Anekdoten mag, ist hier goldrichtig. ♦
Giorgio van Straten hat mit seinem „Buch der verlorenen Bücher“ eine unterhaltsame Textsammlung geschafft, die sich hervorragend als Geschenk für Literaturbegeisterte eignet. Er kann interessante Inhalte spannend vermitteln und schliesst mit seinem Buch eine Lücke im Bereich der Literaturgeschichte. Wer Anekdoten mag, ist hier goldrichtig.

Aber manchmal sind Bücher vielleicht auch einfach nicht veröffentlicht worden, weil sie tatsächlich nicht so grossartig waren, wie sie hätten sein sollen. Interessant ist die Sache allemal! Mich hat das Buch auch dazu veranlasst, Autoren zu lesen, die ich bislang noch nicht kannte: Romano Bilenchi und Bruno Schulz. Dankenswerterweise enthält der Anhang eine Bibliografie mit den ins Deutsche übersetzten Werken. „Das Buch der verlorenen Bücher“ ist also auch eine Fundgrube für alle, die an literarischen Entdeckungen interessiert sind. ♦

Giorgio van Straten: Das Buch der verlorenen Bücher – Acht Meisterwerke und die Geschichte ihres Verschwindens, 164 Seiten, Insel Verlag, ISBN 978-3-458-17728-9

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Joachim Elias Zender: Geliebte alte Bücher

Dominik Riedo: Der Sci-Fi-Visionär Philip K. Dick

Am Endpunkt aller Welten

von Dominik Riedo

Das Leben selbst, wie es auf Amtspapieren erscheint: Am 16. Dezember 1928 wird Philip K. Dick in Chicago sechs Wochen zu früh geboren, zusammen mit einer Zwillingsschwester, die um den eigentlich errechneten Geburtstermin herum bereits verstirbt; die Eltern beide im Staatsdienst und von PKD schon früh als problematisch erlebt, wie er den psychologischen Betreuungspersonen in seiner Jugend anvertraut; aufgewachsen in der San Francisco Bay Area und später in Washington D.C., wo PKD eingeschult wird – da sind die Eltern allerdings bereits geschieden; weitere Wohn- und Schulstationen sind erneut Kalifornien, wo er dann auch die Berkeley High School bis 1947 besucht (wegen psychischer Probleme Abschluss mit einem Privatlehrer); danach kurz an der University of California, wo er wegen Querulantentums exmatrikuliert worden sein soll (vielleicht hat er das Studium bloss geschmissen); insgesamt fünf Mal verheiratet, erstmals 1948, letztmals 1977; hat zwei Töchter und einen Sohn; bis 1952 arbeitet er in einem Plattenladen und als Radiomoderator für klassische Musik; 1951 verkauft er seine erste Geschichte, ab 1952 erscheinen mehrere Texte, wie auch später meist in Science-Fiction-Magazinen; PKD stirbt am 2. März 1982 in Santa Ana, Kalifornien, an Herzversagen, nachdem er fünf Tage zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte.

Frühe Versuche mit Amphetaminen und LSD

Neurotisch, visionär, genial: Sci-Fi-Autor Philip K. Dick (1928-1982)
Neurotisch, visionär, genial: Sci-Fi-Autor Philip K. Dick (1928-1982)

Aber damit ist dieser Schriftsteller irgendwie nicht zu fassen. Es fühlt sich nicht als das Eigentliche an, als das Wirkliche. Auch was den Menschen betrifft.
Doch was ist bei ihm schon das Wirkliche? PKD ist in Sachen Wirklichkeit nie so recht auf den Geschmack gekommen. Viel lieber schrieb er bereits in der Jugend Phantasiegeschichten und wurde mehr und mehr zu einem besessenen Leser: Er las Werke über Religion, Philosophie (besonders Metaphysik) und den Gnostizismus. Als er vom Lesen immer mehr ins Schreiben wechselt, begann er auch da, Unmengen zu verarbeiten: Nachdem er angefangen hatte, sich für bewusstseinsverändernde Drogen zu interessieren, macht er Versuche mit Amphetaminen und LSD, später auch mit Meskalin. Unter Zuhilfenahme dieser Mittel und Aufputschmitteln ganz allgemein schrieb er bis zu sechzig Seiten am Tag, wobei viele seiner Erfahrungen unter Drogeneinfluss in die Texte flossen, die ihm die Schundmagazine jetzt aus den Händen rissen.

Aus Science-Fiction eine Kunst gemacht

Das Dick'sche Universum als Grundlage von Kult-Filmen aus der Welt der Science Fiction: "Blade Runner" 1984
Das Dick’sche Universum als Grundlage von Kult-Filmen aus der Welt der Science Fiction: Screen Shot „Blade Runner“ 1982

Nein, PKD hat Science-Fiction nicht erfunden, aber er hat aus ihr eine Kunst gemacht. Mit seinem speziellen Blick und einer anschaulichen Phantasie kreierte er Szenarien, die quasi die gesamten philosophischen Fragen der Menschheit behandeln. Viele seiner Figuren bewegen sich dabei in einer Welt, die ihnen feindlich gesonnen ist, in die sie aber ausweglos verstrickt sind. Er schildert ihren Kampf um die eigene Identität und um das Erkennen der wahren Struktur ihrer Umwelt. In PKDs Universum, das in vielen Texten voller Fallgruben und substantieller Bedrohungen steckt, spielen oft unscheinbare Menschen, kleine Angestellte, Vertreter, Verkäufer, die Hauptrolle. Vielleicht hat ihm gerade das auch den Erfolg gebracht, vor allem im Kino, wo der ‹kleine Mann› als einsamer Kämpfer seit jeher ein Klischee und Phantasien bedient: „Blade Runner“, „Minority Report“, „Total Recall“, „The Adjustment Bureau“ und „Paycheck“ – alle diese Filme basieren auf seinen Büchern. Aber das ist natürlich nicht alles: PKD hat eine Gabe, sich in allerlei Kreaturen einzufühlen, nicht zuletzt auch in erfundene wie das Wobb: Darum geht es ja beim fiktionalen Schreiben: für andere zur Stimme zu werden, die keine Stimme haben. Es ist nicht deine Schriftsteller-Stimme, sondern die Stimme all derjenigen, die normalerweise nicht gehört werden.

Was ist die Wirklichkeit?

Er möchte dabei vor allem zwei Dinge behandeln: Was ist die Wirklichkeit? Und: Was macht den wahren Menschen aus? Vielleicht lebt jeder Mensch in einer eigenen privaten und einzigartigen Welt, eine Welt, die anders ist als die Welten, in denen alle anderen Menschen leben und ihre Erfahrungen machen. Und das führte mich zu der Frage: Wenn die Wirklichkeit von Person zu Person eine andere ist, kann man dann noch von Wirklichkeit im Singular reden, oder sollten wir nicht besser von Wirklichkeiten im Plural sprechen? PKD meint dabei nicht zwingend, dass wir alle in einer anderen Welt leben, nur, dass wir alle die Welt anders wahrnehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist sein Lochkartenroboter: Ich habe mal eine Geschichte geschrieben, in der es um einen Mann geht, der einen Unfall hat und ins Krankenhaus gebracht wird. Als er auf dem Operationstisch liegt, zeigt sich, dass er kein Mensch, sondern ein Android ist, was er selbst aber nicht weiss. Man muss ihm die Neuigkeit schonend beibringen. Doch dann entdeckt unser Mr. Garson Pole fast im Handumdrehen, dass seine ganze Realität aus einem Lochstreifen besteht, der sich in seiner Brust von einer Spule ab- und auf eine andere aufwickelt. Fasziniert macht er sich daran, ein paar von den Löchern zuzukleben und dafür ein paar neue in den Streifen hineinzustanzen. Schlagartig ändert sich seine Welt. – Was ist der Lochstreifen anderes als bei uns die Chemie oder die Wahrnehmungsapparate beziehungsweise unsere je nach Biographie vorgefärbte Weltwahrnehmung?

Gefährlicher Bereich der Überschneidungen

FBI-Akte über Philip K. Dick aus dem Jahre 1972
FBI-Akte über Philip K. Dick aus dem Jahre 1972

Aber PKD lief mit den Jahren in ein ganz eigenes Problem hinein: Er dachte sich derart tief in seine erfundenen Welten hinein (Während ich beim Schreiben bin, in dem Moment bin ich in der Welt, über die ich schreibe. Sie ist für mich durch und durch real.), dass ihm die erfundenen mit der ursprünglich einmal realen immer mehr durcheinandergeriet und er plötzlich nicht mehr sicher war, was jetzt seine Erfindung ist: Was mich selbst betrifft, kann ich nicht sagen, wie viel von dem, was ich schreibe, stimmt, oder welcher Anteil davon. Es ist eine verfahrene Situation. Da gibt es Erfundenes, das als Wahrheit daherkommt, und Wahrheit, die sich als Erfindung präsentiert. Es gibt einen gefährlichen Bereich der Überschneidungen, eine gefährliche Grauzone.
Und das wirkte sich aus: Schon in der Kindheit entwickelte er eine Phobie vor dem Essen in der Öffentlichkeit, und während er Mitte der 1950er-Jahre tatsächlich Besuch vom FBI bekam, das ihn und seine zweite Frau anscheinend als Informanten in Mexiko anwerben wollte (oder lediglich befragen; PKD wurde eine Zeit lang überwacht), bereute er seine Absage vielleicht später oder dachte, er hätte tatsächlich schon für das FBI gearbeitet; auf jeden Fall schrieb er im Oktober 1972 Briefe an das FBI und das Bezirksbüro des Sheriffs von Marin County. In diesen Briefen behauptete PKD, er sei von einem Vertreter einer geheimen offensichtlich anti-amerikanischen Organisation angesprochen worden, für die er verschlüsselte Botschaften in seinen Büchern unterbringen sollte, was er abgelehnt habe. Im Anschluss beschuldigt er einen anderen Schriftsteller, in einem Roman tatsächlich solche Geheiminformationen verschlüsselt veröffentlicht zu haben.

Visionen des Nichts

Anfang 1974 hatte PKD dann eine Reihe von Visionen, nachdem er sich von einer zahnärztlichen Behandlung mit Natriumpentothal erholt hatte (bereits 1962 hatte er eine Vision des Nichts als grosser schwarzer Strahl am Himmel). Den Rest seines Lebens versuchte er herauszufinden, ob diese Erlebnisse psychotischen oder göttlichen Ursprungs gewesen waren (obwohl es für die Ärzte relativ klar war: PKD musste kurz danach mit extrem hohem Blutdruck und dem Verdacht auf Schlaganfall in ein Spital eingeliefert werden). Er beschrieb seine Visionen als Laserstrahlen und geometrische Muster, durchsetzt mit kurzen Bildern von Jesus und dem antiken Rom. Weil ihm niemand so recht glaubte, und weil 1970 in sein Haus eingebrochen worden war und Aktenmaterial durchwühlt wurde, worauf er kurz nach Vancouver umzieht, wo er 1972 einen Selbsttötungsversuch unternimmt (1976 gibt es einen zweiten Selbsttötungsversuch), wird PKD nun wirklich neurotisch: Er glaubt sich von CIA, FBI und KGB beobachtet und macht diese für den Einbruch von 1970 verantwortlich; dazu trägt sicher bei, dass er ebenfalls 1970 bereits erfahren hatte, dass ihn die CIA 1958 tatsächlich kurzzeitig beschattete, weil er mit dem sowjetischen Wissenschaftler Alexander Topschiew korrespondierte). Ein Geheimpolizist, den er nie namentlich nannte und für den er auch keinen Beweis erbringen konnte, soll ihm verraten haben: Vielleicht hat man Ihr Haus verwüstet, weil Sie etwas geschrieben haben, das die Wahrheit darstellt, ohne es zu wissen. Vielleicht wollte die Regierung herausbekommen, was Sie über eine Sache wussten, über die Sie fiktional geschrieben haben.
Auf jeden Fall wurde es immer mehr so, wie es eine ehemalige Partnerin einmal formulierte: „Es gab den gebildeten Phil, der über Geschichte und Philosophie sprach, und den paranoiden Phil, der Tabletten einwarf und über die CIA schwadronierte. Und dann gab es da noch den Phil, der mich in seinen Armen halten und heiraten wollte und weinte, wenn ich mich weigerte.“

Das Gewebe der Realität aufgedröselt

Amerikanische Hugo-Award-Auszeichnung für "The Man in the High Castle"
Amerikanische Hugo-Award-Auszeichnung für „The Man in the High Castle“

Früher Erfolg: Vielleicht lag es wirklich daran, dass er schon bald einmal viel vorweisen konnte und etwa den „Hugo Award“ für „The Man in the High Castle“ von 1962 erhielt. Leider bekam er in den USA bis an sein Lebensende für keine seiner weit über hundert Kurzgeschichten und keinen seiner etwa vierzig Romane eine damals gleich hoch bewertete Auszeichnung. Aber für ihn vielleicht noch schlimmer: Von allen seinen Romanen ohne Bezug zur Science-Fiction ist nur „Confessions of a Crap Artist“ zu seinen Lebzeiten erschienen.
Dabei hätte er es trotz der Ökonomie der erzählerischen Mittel verdient gehabt, früher bereits hochgeschätzt zu werden, nicht erst kurz vor und vor allem nach seinem Tod. Kann er doch wie Kafka das Gewebe der Realität aufdröseln und neu zusammensetzen. Und schickt damit den Leser in heillose Verwirrung. Natürlich sind bei seiner Art Talent die Kurzgeschichten besser geraten als seine langen Romane, denen oft ein klarer Aufbau fehlt. Aber zu Recht wurde ihm zu Ehren 1982 der Philip K. Dick Award ins Leben gerufen.
Nicht zuletzt wird er für die Leserinnen und Leser so oder so bleiben, was er schon immer war: Ein ganz spezieller Dick-Kopf, bei dem nicht das Sci-Fi-Zeugs die Kunst ausmacht, sondern seine überzeugenden Parallelwelten, die er erdenkt und vor dem Leser entfaltet. ♦


Dr. Dominik Riedo

Geb. 1974 in Luzern/CH, Ausbildung zum Primarlehrer, anschliessend Studium der Germanistik und Philosophie, Promotion und Gymnasiallehrerschaft in Stans und Immensee, 2007-2009 „Kulturminister der Schweiz“ mittels Internet-Wahl aus 25 Kandidaten, diverse kulturpolitische Aktivitäten, zahlreiche belletristische Publikationen in Büchern und Zeitungen, mehrere literarische und kulturelle Auszeichnungen, lebt als freier Schriftsteller in Bern

Lesen Sie im Glarean Magazin auch ein Interview mit Dominik Riedo: „Kairos – der richtige Zeitpunkt“ (von Karin Afshar)

… sowie zum Thema Science Fiction in der Rubrik „Heute vor … Jahren“: Technik-Visionär Isaak Asimov

Gedicht des Tages: Oktoberende (Hans Bender)

Oktoberende

Oktoberende

Ins grüne Vogellachen
tropft der Regen seine Trauer.
Dein Sonnenauge
überm Garten
schwärzt der Frost.
Aufs Pflaster stürzten
eure braunen Zärtlichkeiten.
Hände,
rot vom Blut des Sommers,
spült der Bach
durch eisigen Granit.


Hans Bender (1919-2015)

Lesen Sie im Glarean Magazin auch das Gedicht des Tages von
Wolf Wondratschek: Gebet
… sowie das Gedicht des Tages von Georg Trakl: Im Winter

Johann Voss: Warum noch Gedichte? (Essay)

Die Provokation der modernen Poesie

Eine Meditation

von Johann Voss

Das Material, mit dem wir arbeiten, ist ein System von Zitaten. Alles ist irgendwo und irgendwie schon einmal gebraucht, im schlimmsten Fall missbraucht, im besten Fall verbraucht worden. Sprache ist die mitteilsame Brücke von einer Subjektivität zur anderen. Sprache ist Melodie der Seele, immer auf dem Weg zu ihrer Vervollkommnung. Am Ende könnte sie, das wäre ein Entwurf, hinübergleiten in die Vollkommenheit der Stille. Dort könnte sie, die Stille, sich selbst genügen. Dort könnte die Seele mit ihren quälenden Fragen des Woher und Wohin sich selbst genügen, befreit von jeder Lebensangst, von jeder Todesangst, heimgekehrt in die schwebende Schwerelosigkeit, in die kosmische Höhle des Mutterleibes. In dieser Vollkommenheit endlich könnte die Liebe sich selbst genügen. Die Liebenden könnten sich ineinander verströmen jenseits des Denkens, aufgehoben in dem sprachlosen Bewusstsein der Verwandlung, zugleich Meer und Fluss zu sein, und sei es nur für die Ewigkeit eines Herzschlages. An diesem Ort, jenseits der Silben, fern der Laute, verginge der Mensch vor Glück. Hier wäre er endlich am Ziel, hier wäre endlich Heimat. Alles Beschwerende wäre abgestreift: Das waffenbesetzte Gewand des Hasses, der muffige Mantel der Macht, das schäbige Hemd des Hohns, der Alb der Angst. Hier könnte der Mensch sich endlich an der Schönheit seiner Blösse erfreuen, inmitten weidender Schafe und dösender Löwen. Hier wäre endlich der Rückvollzug in das Glück vollkommener Schuldunfähigkeit vollendet: Hier wäre endlich das Paradies!
Aber dieses Kapitel der Geschichte der Menschwerdung ist noch nicht aufgeschlagen. Wir müssen es noch erdenken, müssen es noch beschreiben. Und wenn wir es beschrieben haben, eines Tages, dann erst beginnt die Herausforderung, dann erst beginnt die eigentliche Arbeit der Verwandlung. Denn dann sagt die Utopie zu ihrem Erfinder, zu ihrer Erfinderin: Du hast mich erdacht, nun also lebe so, wie du mich erdacht hast.

Der Ausgangspunkt der Poesie: Angst

Ingeborg Bachmann - Glarean Magazin
„ohne sorge sei ohne sorge“: Ingeborg Bachmann

Hier, an diesem Schnittpunkt von Moral, Religion, Psychologie, Politik und Spracharbeit beginnt die Provokation. Wir wissen: Es gibt eine literarische Wirklichkeit, das ist papierene Phantasie. Und es gibt die wirkliche Wirklichkeit, das ist das dumpfe Gebräu der Schändungen und Niederträchtigkeiten, der Niederwerfung einzelner Menschen oder ganzer Völker; das ist ein Netz aus dummer Überheblichkeit, Selbstzweifel und Angst.
Ja, immer wieder Angst, Angst ist in uns, Angst ist um uns, Angst beunruhigt uns mit Fragen, Angst nötigt uns, Antworten zu suchen. Kaum haben wir sie gefunden, ach was, vor lauter Bedrängtheit hervorgestammelt oder herausgeschrieen, kaum haben wir uns ein wenig entspannt auf den sanften Kissen einer beiläufigen Gewissheit, dann beginnt sie von neuem, die Verwandlung. Unruhen dringen durch, bemächtigen sich unser aus allen Richtungen des Ruhelagers und verwandeln es in ein Nagelbett neuer, schmerzender Fragen. An diesem Ort, in dieser Verwandlung, in diesem Schmerz beginnt die Provokation der Poesie. In dieser Metamorphose beginnt die Poesie der Provokation. Wir alle kennen die nachklingenden Fragen, die an solchen Orten des Zusammenströmens für das Sein in der Welt formuliert worden sind. Ich erinnere an Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“, welches Wahrheit (um nichts weniger geht es!) ausschliesslich im Fragen und Befragen sucht:

Reklame

Wohin aber gehen wir
ohne sorge sei ohne sorge
wenn es dunkel und wenn es kalt wird
sei ohne sorge
aber
mit musik
was sollen wir tun
heiter und mit musik
und denken
heiter
angesichts eines Endes
mit musik
und wohin tragen wir
am besten
unsre Fragen und den Schauer aller Jahre
in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge
was aber geschieht
am besten
wenn Totenstille

eintritt

Ich rufe in Erinnerung die erste der „Duineser Elegien“ von Rainer Maria Rilke, die anhebt mit der Frage:

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen?

Aus dem berühmten „Liebeslied“ desselben Autors zitiere ich jene Fragen, die das Gedicht eröffnen und die es beschliessen:

Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
[…] Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Spieler hat uns in der Hand?
O süsses Lied.

Erich Fried - Glarean Magazin
„Was werde ich ganz zuletzt sagen oder schreiben?“: Erich Fried

Ich erinnere an das Gedicht „Entscheidungsfrage“ von Erich Fried. Der Autor schrieb es bei vollem Bewusstsein angesichts seines bevorstehenden Todes, der Körper war schon befallen von Krebs, aber noch in Atem gehalten mit Hilfe schneller Rituale der Rettung, mit retardierender, schmerzlindernder Medizin.

Entscheidungsfrage

Was werde ich
ganz zuletzt
sagen
oder schreiben?

Sagen:
„Ich habe doch eigentlich
schon alles geschrieben?“

Oder schreiben:
„Ich habe doch eigentlich
noch gar nichts
gesagt?“

Ich erinnere an das Gedicht „Die Lösung“ von Bertolt Brecht. Bekanntlich demonstrierten am 17. Juni 1953 streikende Arbeiter in der Stalinallee in Ostberlin für die Behebung ihrer materiellen Not. Der Arbeiterdichter Kuba, zu jener Zeit staatshöriger Sekretär des DDR-Schriftstellerverbandes, verteilte ein Flugblatt an die Streikenden, in dem er schlichtweg die Berechtigung des Streiks verneinte, und in dem er den „Maurern, Malern und Zimmerleuten“ Vertrauensbruch vorwarf und ihnen ein schlechtes Gewissen einzureden versuchte. Brecht reagierte mit einem Gedicht, das am Ende mit einer derben, sarkastisch-ironischen Frage nichts weniger anzweifelt als das gesellschaftliche System der DDR:

Die Lösung

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Liess der Sekretär des Schriftstellerverbandes
In der Stalinallee Flugblätter verteilen,
Auf denen zu lesen war, dass das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

Anmerkung am Rande: Brecht starb 1956; das Gedicht wurde zu seiner Lebzeit bekanntlich nicht veröffentlicht…

Im Zentrum der Poesie: Die Frage

Bertold Brecht - Dramatiker - Dichter - Glarean Magazin
„Wäre es nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“: Bertold Brecht

Man sieht, Provokation in der Poesie ist überall: In den Versen über den Zauber der Liebe bei Rilke; in der Reihe ernster, existentieller Fragen „angesichts eines Endes“ bei Ingeborg Bachmann; in den rückbesinnenden Fragen angesichts des Todes bei Erich Fried; nicht zuletzt in der scharfzüngigen Reflexion der politischen Verhältnisse im real existierenden Sozialismus, auf dem Poesiepodest dargeboten von Bertolt Brecht.
Leicht ist erkennbar, was diese vier Gedichte gemeinsam haben. Jedes Gedicht endet mit einer Frage, und somit endet keines. Jedes Gedicht weist vielmehr weit über sein Thema hinaus, es gibt die Mühe der Antwortsuche weiter. Es ist Zwischenstation auf einem langen Weg, an dessen Ziel die Vollendung verheissungsvoll leuchtet – Lichtjahre entfernt.
Den Gedichten gemeinsam ist also der Duktus der Beunruhigung. Das vermeintlich Vertraute wird auf Gefährdungen hin abgetastet – das Für-Wahr-Gehaltene Neue wird mit einer Gegenfrage entblösst und als Machtmissbrauch gespiegelt.
Moderne Gedichte, wollen sie in einer modernen Welt zu Wort und zu Wert kommen, sind meist Fragegedichte. Ausgerichtet auf Gültigkeit, sind sie nicht angewiesen auf das ausserliterarische Merkmal der Dauer. Die Vorstellung, das gültige Gedicht müsse bis ans Ende aller Tage gültig sein, ist Ausdruck der Geisteshaltung jener, welche die Kunst aus dem Leben auslagern, sie gewissermassen auf eine Insel verbannen. Dort kommunizieren die Kunstprodukte nur noch künstlich miteinander, sie sind verloren in sich selbst, und sie gehen schliesslich am ausgehenden Atem eines verlotterten, dem König Kommerz unterworfenen Kulturbetriebs zugrunde – sang- und klanglos, ohne Bedeutung. Diese moderne Totenfeier der Lyrik, der Literatur schlechthin, ist gekennzeichnet vor allem durch das Bekenntnis zum Bekannten. Die solchen Versen unterlegten Rechtfertigungen sind unschwer als Tautologien zu entlarven: Das Alte ist gut, weil es alt ist; das Gute ist gut, weil es gut ist. Und umgekehrt heisst das dann fraglos: Das Neue ist schlecht, weil es neu ist. An diesem von Wahrheitssuche und Streitkultur befreiten Ort kommt nur eines zur Welt: die lyrische Totgeburt. Wir alle kennen den 100’000sten Aufguss jenes Novembergedichtes, das unerschrocken verkündet: „Nebel ist. Das Jahr geht zu Ende. Das Leben geht zu Ende.“ Das ist natürlich eine Entdeckung, das hat noch niemand empfunden… Und Rilke, George, Hesse, Kaschnitz und andere haben das alles noch nicht gesagt… Hier findet Tradition in der Lyrik im schlechten Sinne statt, denn hier wird nachgemacht, ja nachgeäfft, die Peinlichkeit nimmt zu mit jeder weiteren nachgestellten Pose.

Der Antrieb der Poesie: Das Lesen

Die Pflege der Traditionen um der Tradition willen ist nicht die Berufung der Poeten. Da sehe doch lieber der örtlich zuständige Gesangverein zu. Halt aber: Auch die Sänger in dieser Runde empfinden den Verwesungsgeruch solcher Lieder, die uns heutigen Menschen nichts mehr zu sagen haben. Lust und Laune schwinden dahin, nur der Reiz der schönen Melodie, vor allem aber die Resonanz der Seele auf die Schwingungen des Stimmschosses im Chor retten den Text bis in unsere Tage.
Wer also der Behäbigkeit und der geistigen Engführung dieser schlechten Tradition entkommen will, muss vor allem eines: Lesen. Immer wieder lesen, kreuz und quer lesen, drunter und drüber lesen, vor und rückwärts lesen: Hymnen von Hölderlin; Gesänge von Pablo Neruda; Spottverse von Bertolt Brecht oder Erich Mühsam; religiöse Gedichte von Dorothee Sölle; politische von Hans Magnus Enzensberger, Peter Paul Zahl, Volker von Thörne oder Erich Fried; artistische Semantiksezierungen von Jandl; Liebesgedichte von Wolf Wondratschek, Angela Hoffmann, Ingeborg Bachmann oder Ulla Hahn; Aphorismen von Georg Christoph Lichtenberg oder Arnfried Astel; Seefahrergedichte von Johannes Schenk; Psalmen von Ernesto Cardenal; poetische Brosamen von Rose Ausländer – und so weiter.

Ja, wir müssen es zur Kenntnis nehmen: Das Feld der Poesie wurde schon vor uns bestellt. Das Gedicht, das jemand schreiben möchte, steht vielleicht schon auf einem anderen Blatt, mag dort zu Ruhm und Ehre gekommen oder auch still verwelkt sein. Nicht nur die Sprache, auch die Poesie ist ein System von Zitaten. Darin liegt die Gefahr: nur Traditionelles im Sinne der Nachbildung zu schaffen. Darin liegt zugleich die Provokation: Neues, bisher nicht Gesagtes, Unerhörtes zu entdecken.

Rainer Maria Rilke - Glarean Magazin
„Wie soll ich meine Seele halten, dass sie nicht an deine rührt?“: Rainer Maria Rilke

Wenn es Tradition im schlechten Sinne gibt, dann muss es auch eine Tradition im guten Sinne geben, so könnte man vielleicht mutmassen. Diese Frage ist mit einem deutlichen Ja zu beantworten. Tradition im guten Sinne findet sich in jener Lyrik, die sich immer wieder aufs neue den noch nicht eingelösten, den vom Leben noch nicht eingeholten Utopien widmet. Und die Haltung solcher Gedichte ist jene, welche die vier obenstehenden Gedichte von Rilke, Bachmann, Fried und Brecht durchzieht: eine fragende, beunruhigende.
Dabei geht es natürlich nicht darum, zu beunruhigen um der Beunruhigung willen. Wer diesen Automatismus unterstellen wollte, gäbe sich selbst als Automat zu erkennen. Das Wort ist ein Vermächtnis der Schöpfung, es ist ein Segen und zugleich eine Last. Wenn es uns zum Segen gereicht, dann ist das Wort Hilfe, in sich tragend den Zauber des Verwandelns. Das segensreiche Wort kann Trost sein, niemals aber V ertröstung. Das tröstende Gedicht ist immer ein provokatives Gedicht. Die Provokation kommt aus jenen Bezirken unseres Seins, die zwar beschrieben, nicht aber gelebt sind.
Dabei geht es keineswegs um formale, handwerkliche Experimente. Über Bauformen und Techniken muss der Lyriker verfügen, um für sein Gedicht dessen einzigartiges Sprachkleid zu entwerfen. Bleibt das Gedicht jedoch reine Formsache, so hat es nichts, aber auch keinen Gran zu tun mit gültiger Provokation. Diese nämlich spricht aus dem Gedicht nach Massgabe des Inhalts, des Themas. Und weil das Thema der Poesie das Leben ist, und weil wir hoffen darauf, dieses Rätsel Leben mit Worten würdig zu begreifen, zu gestalten, so versteht sich ein zweiter Tatbestand von selbst: Jedes Wort ist poesiefähig. Das vermeintlich private Wort, das politische Wort, das anständige und das unanständige Wort, das hässliche Wort, das Zauberwort, das Sehnsuchtswort, das fromme Wort, das gotteslästerliche Wort, das Alltagswort, das Freudenwort, das Trauerwort, das Sterbenswort – mit diesen und anderen Worten gibt das provozierende Gedicht zu erkennen: Ich bin auf dem Weg. Und auf die Frage „Wohin?“ antwortet es: Auf dem Weg zu nichts weniger als einer besseren Welt. Das provozierende Gedicht lässt nichts und niemanden in Ruhe, es ist unermüdlich. Wir aber, wenn unser Fleisch müde, unser Geist schlaff ist, wir mögen der verständlichen Versuchung erliegen und ausrufen: „Wann schreibt endlich jemand etwas Schönes?! Wo bleibt das Positive?!“ Darauf gibt es nur eine gültige Antwort: Das Schöne ist von der Suche nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe nicht zu trennen. Das Schöne ist immer im Werden, es ist allgeschlechtlich, es ist Mühe und Arbeit – es ist auf dem Wege. Wer das Positive liebt – und wer wollte es nicht beanspruchen! -, der soll zunächst die Negation im Gedicht kenntlich machen. Die Negation im Gedicht ist reine Provokation, stets gerichtet auf einen Erkenntnisentwurf für das Positive: aus dem Lebenswort kann Lebenswert werden für Leib und Seele.

Das Ziel der Poesie: Der Wandel

"Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte": Ernst Bloch
„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte“: Ernst Bloch

Mit der Zeit ändert sich die Poesie. Mit der Zeit ändert sich die Theorie der Poesie. Folglich ändert sich auch das Wertgefüge der Ästhetik. Wilhelm von Zuccalmaglios „Kein schöner Land in dieser Zeit“, von irgendeinem Chor vielleicht nur des Chorzaubers wegen ohne Nachdenken gesungen, ist angesichts sterbender Wälder, versalzener Flüsse, erstickender Meere und Neonazi-Verblendung bereits wieder eine Utopie, mithin eine Provokation. Es gibt grosse Beispiele für die Provokation durch das Wort. Zu hoffen ist, und dies trotz des rituellen Rummels und der anheischigen Anbiederungen in den Kirchen, dass eine christliche Autorenseele sich immer noch und immer wieder von der Unruhestiftung „Bergpredigt“ erschüttern lässt. Zu hoffen ist auch, dass ein poetischer Geist unter uns AutorInnen sich immer wieder beunruhigt, also provoziert fühlt, etwa von Kants Frage: „Was ist Aufklärung?“, oder von Blochs Philosophie, an deren Ende eine Provokation steht, nämlich:

Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heisst sich an der Wurzel fassen.
Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gelegenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäusserung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat. (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1974)

Wenn wir an diesem mit Heimat bezeichneten Ort angelangt sein werden, wird Poesie als Provokation, wird Sprache überhaupt verzichtbar sein. Vielleicht, wäre hinzuzufügen; denn auch im Paradies könnte es notwendig sein, nach jenen Versuchungen Ausschau zu halten, an deren Ende der Rückfall in die Barbarei stünde.
Die Poesie und die Theorie der Poesie müssen befragbar erscheinen und wandelbar, und dies so, wie das Menschenbild im Poetischen befragbar und wandelbar zu entwerfen ist. Aus der Befragbarkeit und aus dem Wandel bezieht die moderne Poesie ihre Gültigkeit. ♦


Johann Voss

Geb. 1951 in Theene/D; Germanistik- und Sport-Studium; zahlreiche Lyrik-Veröffentlichungen in Büchern und Zeitschriften, Arbeiten für den Rundfunk; lebt als Lehrer und Schriftsteller in Wefensleben/D

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Schreiben von Lyrik“ auch den
Aufsatz von Vera Simon: Was macht ein gutes Gedicht aus?

500 Jahre Reformation: Bücher zu Luther, Zwingli & Co.

Die Reformation und ihre Protagonisten

von Günter Nawe

Was am 31. Oktober 1517 geschah, hatte den Charakter einer „Revolution“; der Anschlag der 95 Thesen an der Schlosskirche in Wittenberg sollte die Welt verändern. Martin Luther (1483 bis 1546), der ehemalige Mönch, setzte mit diesen 95 Thesen die Reformation in Gang. Und setzte dabei die Einheit der Kirche aufs Spiel, provozierte politische Ereignisse und hat mit seiner Bibelübersetzung sozusagen die deutsche Sprache „erfunden“. Damit begann ein Modernisierungsprozess in Kirche, Staat und Gesellschaft – mit weltweiten Auswirkungen bis heute.

Martin Luther (1483-1546 - Lucas Cranach d.Ä.)
Martin Luther (1483-1546 – Lucas Cranach d.Ä.)

Auslöser des Ganzen waren Luthers Thesen zum Ablass, ein Verfahren der Kirche, mittels dessen die Gläubigen gegen Geld Vergebung ihrer Sünden erlangen sollten. Luther monierte dieses Verfahren und forderte stattdessen, dass die Kirche die Gläubigen lehre, das „Evangelium und die Liebe Christi“ zu lernen. Was sich daraus entwickelte, war vergleichbar einem Erdbeben mit unabsehbaren Folgen.
Dieser Mann war Vieles in Einem: Reformator, Mönch und Theologe, Mystiker, Professor, Fürstenfreund und Bauernfeind, Antisemit, Vater und Ehemann, Übersetzer und Schriftsteller und Publizist. Ihm widmete die Evangelische Kirche, die Christenheit insgesamt und Deutschland im Besonderen ein ganzes Gedenkjahr.
Vor allem waren (und sind es noch immer) Bücher und Artikel, Biographien und historische sowie theologische Abhandlungen, die versuchen, Martin Luther auf die Spur zu kommen, die Bedeutung der Reformation für Religion und Geschichte auszuloten und nicht zuletzt Luthers überragende Leistung als Sprachschöpfer zu würdigen.

Ein deutscher Rebell: Martin Luther

Heimo Schwilk: Luther - Der Zorn Gottes
Heimo Schwilk: Luther – Der Zorn Gottes

Als einen „deutschen Rebellen“ sehen ihn Autoren wie Willi Winkler und Heinz Schilling. In ihren ausgezeichneten Biographien, zu denen auch die grossartige Arbeit von Lynda Roper, und die Luther-Arbeit von Volker Reinhardt zu zählen ist, zeigen sie ihn uns als ein Mann der Zeit, geben Orientierung und bringen uns den Menschen Luther näher. Das gilt auch für die Biographie von Heimo Schwilk: Luther – Der Zorn Gottes, der seiner Arbeit den Untertitel „Der Zorn Gottes“ gibt und damit aufzeigt, dass Luther vom „Furor des Gottsuchers“ angetrieben sowohl Gottesbindung als auch Obrigkeitstreue als wichtige Elemente seines Lebenswerks sah. So gelingt es Schwilk, dem Leser deutlich zu machen, was Luther bewegt hat. Seine Biographie bietet wenn schon nicht einen ganz neuen, doch einen frischen Blick auf den Reformator, auf sein Leben, seien Theologie und sein Werk.

Die Entwicklung der Reformation und ihre Folgen

Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte - Eine Geschichte der Reformation
Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte – Eine Geschichte der Reformation

Die volle Wucht der Reformation können wir erahnen, wenn wir über ihr Entstehen, ihre Entwicklung und die Folgen Bescheid wissen. Einen solchen Bescheid vermittelt uns Thomas Kaufmann: Erlöste und Verdammte. Kaufmann hat ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung abgeliefert. Kaum einer weiss mehr über das Thema – und kaum einer weiss besser darüber zu erzählen. So haben wir die Geschichte der Reformation, einer Epoche voller Dramatik, bisher noch nicht gelesen: faszinierend geschildert, kenntnisreich, packend und kritisch.

Johannes Calvin (1504-1569 - Hans Holbein d.J.)
Johannes Calvin (1504-1569 – Hans Holbein d.J.)

Wenn wir aber schon von Reformation reden, ist ein Blick von Wittenberg nach Zürich und nach Genf unausweichlich. Denn Luther war kein einsamer Gestalter. In der frühen Neuzeit gab es religiöse Bewegungen und Zeitgenossen wie Philipp Melanchthon und Thomas Müntzer, im weitesten Sinne auch Erasmus von Rotterdam, vor allem aber Huldrych Zwingli (1484 bis 1531) und Johannes (Jean) Calvin (1509 bis 1564), deren Denken und Tun für die Zeit ebenso prägend und folgenreich war. Beide begründeten mit Luther und doch unabhängig von ihm einen recht eigenständigen Protestantismus.

Besonders strenger Bibel-Interpret: Johannes Calvin

Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend - Calvin und die Reformation in Genf
Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend – Calvin und die Reformation in Genf

So ist es nur recht und billig, im zu Ende gehenden Reformationsjahr auf sie mehr als nur hinzuweisen. Volker Reinhardt, mit Luther ebenso vertraut wie mit Johannes Calvin, hat in seinem bereits 2009 erschienenen Buch Die Tyrannei der Tugend – Calvin und die Reformation in Genf aufgezeigt, wie der Prediger Johannes Calvin, Reformator der zweiten Generation, zum Begründer des Calvinismus, einer besonders strengen Auslegung der Evangelien, wurde. Mehr noch, so Reinhardt, hat Calvin, hat der Calvinismus nicht nur die Welt durch seine Sittenstrenge, Askese und Bilderfeindlichkeit verändert, sondern auch zur Entstehung des Kapitalismus wesentlich beigetragen. Reinhardt erzählt zudem anschaulich, wie es dem wortgewaltigen Prediger Calvin gelungen ist, Genf zu einem „reformierten Rom“ zu machen.

Schlüsselfigur der Reformation: Erasmus von Rotterdam

Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch - Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation
Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch – Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation

Die Zürcher Reformation und überhaupt die Reformation hat ohne Zweifel Erasmus von Rotterdam (mit-) geprägt. Nicht zuletzt durch seine Bibelübersetzung aus dem Griechische ins Lateinische (Novum Instrument – Neues Testament), die auch zur Grundlage der lutherischen Übersetzung ins Deutsche wurde. So hat er den Anfang des Johannes-Evangeliums nicht mit dem üblichen „Im Anfang war das Wort“ übersetzt, sondern mit „Im Anfang war das Gespräch“. Dies ist auch der Titel eines kleinen Büchleins von Ueli Greminger: Im Anfang war das Gespräch – Erasmus von Rotterdam und der Schatten der Reformation. Er zeichnet im Rahmen eines Gesprächs zwischen einem Theologen und einem Psychologen das Menschen- und Gottesbild des Erasmus und lässt damit den Denker als eine Schlüsselfigur der Reformation erkennen.

Älteste protestantische Bibel-Übersetzung: Huldrych Zwingli

Peter Opitz: Ulrich Zwingli - Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus
Peter Opitz: Ulrich Zwingli – Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus

Eine Schlüsselfigur der Reformation ist zweifellos auch Huldrych Zwingli. Ihm hat die protestantische Welt die Zürcher Bibel zu verdanken. Sie entstand bereits fünf Jahre vor Luthers Übersetzung und gilt als die älteste protestantische Übersetzung der gesamten Bibel. Damit nicht genug: In 67 Thesen (auch hier gibt es Parallelen zu Martin Luther), die in mehreren Disputationen zur Diskussion gestellt wurden, hat er seine Ansichten deutlich gemacht. In seinem Kommentar zum wahren und falschen Religion zeigte Zwingli sich in vielen Punkten mit Luther einig. Was die Liturgie betraf, war er radikaler als Luther. Und was das Abendmahl betraf unterschied er sich wesentlich vom deutschen Reformator. Nachzulesen ist dies und mehr in der Biographie des Zwingli-Forschers Peter Opitz: Ulrich Zwingli –  Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus.

Die Frauen an der Seite der Reformatoren

Luther, Zwingli, Calvin – alle drei Reformatoren hatten Frauen an ihrer Seite. Über Luthers Frau Katharina Bora, die ehemalige Nonne, gibt es Literatur in Hülle und Fülle. Wogegen wir von Idelette Calvin, der Frau des Genfer Reformators, relativ wenig wissen. Und Zwingli? Er war neun Jahre, von 1522 bis 1531, mit Anna Reinhard verheiratet. Sie, die als Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators wurde, war die starke Frau an seiner Seite. Am Ende verlor sie Mann und Sohn auf dem Schlachtfeld von Kappeln.
Ihrem Leben und Wirken ist die Romanbiografie von Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli gewidmet. Sigrist, Pfarrer am Grossmünster in Zürich und damit Nach-Nachfolger des Leutpriesters Zwingli, hat, wie Klara Obermüller in ihrem Vorwort schreibt, „einer Frau, die im grossen Schatten ihres Mannes zu verschwinden drohte, ihre Stimme und ihr Gesicht zurückgegeben. Und er lässt uns den Mann, Zwingli, noch einmal ganz neu sehen durch die Augen seiner Frau.“

Reformatorisches Liebespaar: Anna und Ueli

Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli
Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli

Sigrist hat eine fiktive Biographie geschrieben, die in Form eines Tagebuchs nachträglich das Zusammenleben vorstellbar macht. Anna, der ihr Ueli fehlt, schreibt über ihre Liebe zueinander, über die Kinder, das Hauswesen, aber auch über seine Theologie und ihr Verständnis davon – und das beileibe nicht unkritisch. So gelingt Sigrist ein brillantes Psychogramm des Reformators und eines aussergewöhnlichen Paares in aussergewöhnlicher Zeit. Beide, Ulrich und Anna, treten auch in dem Mysterienspiel Die Akte Zwingli auf, für das Christoph Sigrist den Text geschrieben hat und Hans Jürgen Hufeisen die Musik. Das Libretto ist – sie schön ergänzend – der Romanbiografie angefügt.

Am Ende: Ohne das gedruckte Wort hätte es wohl keine Reformation gegeben. Bücher und Schriften, Flugblätter, Pamphlete und Karikaturen verbreiteten die Ideen und Überzeugungen der Reformatoren in Windeseile. Grossmeister des Metiers war zweifellos Martin Luther. Und 500 Jahre danach sind es wieder Medien der unterschiedlichsten Art, die uns die Reformation, dieses Weltereignis, und ihre Protagonisten einmal mehr näher bringen. Historisches, Theologisches, Biographisches – alles zu diesem Thema ist mehr oder weniger lesenswert. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Mittelalter und Renaissance“ auch das
Interview mit Rebecca Gablé („Der dunkle Thron“)

… sowie zum Thema Mittelalter auch über
Martin Grubinger: Drums `N` Chant (Audio-CD)

Bachtyar Ali: Die Stadt der weissen Musiker (Roman)

Über die Macht und Magie der Musik

von Sigrid Grün

1970 wird in einer nicht näher identifizierten Stadt ein Kind geboren, das sich als musikalisches Ausnahmetalent entpuppt. Auf der Flöte eines Selbstmörders bringt es schon früh die wundersamsten Melodien hervor und verzaubert damit seine Mitmenschen. Auch sein Freund Sarhang Qasm ist ausgesprochen talentiert. Eines Tages taucht ein alter Musiklehrer namens Ishaki Lewzerin in der Stadt auf. Er nimmt die beiden Jungen mit, um sie zu unterrichten. In den Bergen lehrt er sie, „die Sprache der Welt [zu] verstehen“. Die Jungen lernen, dem Regen zu lauschen und dem Wind, sie nehmen die Sonne in sich auf und reifen zu Musikern heran, deren Kunst nicht von dieser Welt scheint.

ABachtyar Ali - Die Stadt der weissen Musiker - Roman - Unionsverlagls der Krieg ausbricht, werden der Lehrer und seine beiden jugendlichen Schüler gefangengenommen und getötet. Doch wie durch ein Wunder erwacht Dschaladat in einer Stadt in der Wüste, die eigentlich gar nicht existiert. An einem Verkehrsknotenpunkt haben sich Prostituierte niedergelassen, die die Soldaten und andere Reisende befriedigen. Dalia Saradschadin ist eine von ihnen, und sie pflegt Dschaladat mit Hilfe des Arztes Musa Babak wieder gesund.

Zum Überleben die Musik verlernt

Um zu überleben, muss der begabte Musiker die Musik verlernen, denn die Klänge von überirdischer Schönheit würden ihn im Krieg nur verraten. Dschaladati Kotr tötet also den Musiker in sich, um nicht aufzufallen. Der Arzt Musa Babak zeigt ihm eines Tages sein Museum, das er in einem riesigen Keller angelegt hat. Er sammelt die Werke zeitgenössischer Künstler, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Dschaladat verliebt sich unsterblich in Dalia und verbringt mehrere Jahre in der gelben Stadt der Prostituierten.
Als ein ehemaliger Offizier namens Samir auftaucht, der intensiv nach Orangen riecht und eine grausame Vergangenheit hat, erfährt der junge Musiker erst, dass er bereits tot war und wieder zum Leben erwachte. Sein Mörder, der auch Sarhang Qasm und Ishaki Lewzerin getötet hat, war gleichzeitig sein Retter. Er freundet sich mit Samir von Babylon an und verlässt mit ihm die Stadt, als diese den Flammen anheimfällt. Die beiden reisen gemeinsam in den Norden, in Dschaladats alte Heimat, die ihm fremd geworden ist. Er kommt in einem Obdachlosenheim unter und verdingt sich mit Gelegenheitsarbeiten – doch die Kunst lässt ihn niemals los. Und der Musiker, den er einst getötet hat, erlebt seine Wiederauferstehung in der Stadt der weissen Musiker…

Poetische Sprache von opulenter Schönheit

„Die Stadt der weissen Musiker“ ist ein Roman von überwältigender poetischer Schönheit. In einer Rahmenhandlung berichtet der Schriftsteller Ali Sharafiar, der gerade eine Sinnkrise erlebt, von einer mysteriösen Begegnung am Flughafen von Amsterdam. Ein Wildfremder überreicht ihm einen Beutel mit Musikaufnahmen und Noten. Er soll sie nach Kurdistan bringen und einer ganz bestimmten Person überreichen. Auf diese Weise lernt der Erzähler schliesslich Dschaladati Kotr kennen, einen legendären kurdischen Musiker...
„Die Stadt der weissen Musiker“ ist ein Roman von überwältigender poetischer Schönheit. In einer Rahmenhandlung berichtet der Schriftsteller Ali Sharafiar, der gerade eine Sinnkrise erlebt, von einer mysteriösen Begegnung am Flughafen von Amsterdam. Ein Wildfremder überreicht ihm einen Beutel mit Musikaufnahmen und Noten. Er soll sie nach Kurdistan bringen und einer ganz bestimmten Person überreichen. Auf diese Weise lernt der Erzähler schliesslich Dschaladati Kotr kennen, einen legendären kurdischen Musiker…

Bachtyar Ali, 1966 im nordirakischen Sulaimaniya geboren, lebt heute in Köln. In den frühen 80er Jahren nahm er an den Studentenprotesten der Kurden gegen die irakische Zentralregierung unter Diktator Saddam Hussein teil. Er brach sein Studium ab und widmete sich der Poesie. Bisher sind lediglich zwei seiner Romane in deutscher Sprache erschienen: „Der letzte Granatapfel“ (2016) und „Die Stadt der weissen Musiker“ (2017). Bachtyar Ali bekommt in diesem Jahr den Nelly-Sachs-Preis 2017 verliehen.

Der Autor schreibt über das Selbstverständnis eines Künstlers, über die Unsterblichkeit des Kunstwerks, und über einen Musiker als Vermittler zwischen den Welten. Dschaladat ist ein Qaqnas, ein Phoenix, der aus der Asche wiedergeboren, ein Grenzgänger, der zur mythologischen Gestalt wird.
Die Sprache ist durchgehend poetisch, von einer opulenten Schönheit, die den Leser in eine andere Welt entführt. Selbst die Grausamkeit des Krieges wird in Kunst transformiert und damit unsterblich. Mich hat der Stil an den grossen serbischen Erzähler Milorad Pavic erinnert. Bachtyar Ali ist ein Autor, den ich den Liebhabern poetischer Literatur nur ans Herz legen kann. ♦

Bachyar Ali: Die Stadt der weissen Musiker, Roman, 432 Seiten, Unionsverlag, ISBN 978-3-293-00520-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema „Literatur aus Kurdistan“ auch über den
Roman von Elif Shafak: Ehre

Kai Engelke: Kaminski wandert (Kurzprosa)

Kaminski wandert

Kai Engelke

Es sind die Winzigkeiten, hinter denen sich das Grosse verbirgt.
(Klaus C. Jacobsen )

Draussen in der freien Natur, abseits der Zentren und Metropolen, wo es grün und still ist, dort fühlt Kaminski sich am wohlsten. Hier kann er tief durchatmen, in sich hineinhorchen und zu sich kommen.
Kaminski hat die Menschen nicht gezählt, die er unter die Erde gebracht hat.

Er ist froh, als er in der Gemeinde Burgen an der Mosel das kurze Stück an der viel befahrenen Strasse entlang, Richtung Macken, vorbei an der Schmausemühle, hinter sich gebracht hat, denn dort geht’s gleich rechts in den Wald hinein. Direkt auf den Forellenweg im Baybach-Tal.
Die Blätter der Bäume verschlucken sehr schnell die meisten Strassengeräusche, eine Elster warnt, ein Zaunkönig zwitschert, über dem glucksenden Bach jagt eine Libelle nach Insekten.
Obwohl die Sonne scheint, ist es nicht sehr hell. Der Weg ist schmal, knorrige Wurzeln erfordern angestrengte Aufmerksamkeit. Ein dunkler Blättertunnel, ähnlich einem Geburtskanal, wie zu Beginn einer Lebenszeit.
Kaminskis Geschäft ist der Tod.

Wenn er beim Gehen den Blick direkt vor seine Füsse richtet, sieht er viele kleine Steine, Grasinseln, Blätterreste, krabbelnde Käfer, zertretene Käfer, Borkenstücke, Holzsplitter.
Vom gegenüberliegenden Ufer des Baybachs winken hochgewachsene Pflanzen mit ihren Blättern herüber. Wahrscheinlich Lerchensporne. Kaminski winkt zurück.
Kaminski mag den Geruch frisch gegrabener Erde. Daher schreckt ihn auch die Vorstellung nicht, eines Tages selbst zu Erde zu werden.
Und überhaupt, sagt Kaminski, wenn ich tot bin, mach ich, was ich will. Aber noch bin ich am Leben und kümmere mich um die Toten.
Kaminski hat sich an sich gewöhnt.

Links taucht zwischen den Bäumen ein aus groben, ockerfarbenen Steinen errichtetes, allein gelegenes Haus auf, der Berghof. Der war einmal ein Hotel, ein Restaurant, ein Café, vor vielen Jahren. Ursprünglich beherbergte dieses prächtige Gebäude mit dem markanten Mansardendach und den seitlichen Fassadentürmen eine Ölmühle.
Alle ehemaligen Bewohner sind verschwunden. Nun ist das Haus gestorben. Die Natur nimmt es in ihren Besitz. Wildes Brombeergestrüpp kriecht die Mauern empor. Zwischen hohen Gräsern leuchten Buschwindröschen.
Kaminski hat sich arrangiert mit der Unvermeidbarkeit des Todes.
Wir brauchen nichts so sehr, wie den Mut zur Vergänglichkeit, sagt Kaminski.

Dann wird es hell. Der Blick weitet sich. Der Weg wird bequemer, es lässt sich unangestrengter vorankommen. Rechts der Laubwald, auch ein paar Nadelhölzer dazwischen, links eine Obstwiese mit alten Birnen- und Apfelbäumen.
Kaminski setzt sich auf eine Bank, schliesst die Augen und fühlt sich für eine kurze Weile völlig mit diesem friedvollen Ort verbunden. Man kann auch sagen: Kaminski ist glücklich.
Plötzlich tauchen Bilder auf, düstere Bilder. Kaminski hat es immer wieder erfahren: Es ist nur ein dünner Firnis, der den Menschen von der grausamen Tat trennt. Gefühlskälte, Egozentrik und Rücksichtslosigkeit – diese drei Eigenschaften reichen aus für einen Mord. Wenn man all die Nachrufe und Grabsprüche für Dahingeschiedene liest, dann fragt man sich, wo eigentlich die fiesen, die bösartigen Menschen begraben sind.
Kaminski weiss es.

Kaminski kommt an eine Kreuzung. Verschiedene Wegweiser zeigen in alle möglichen Richtungen. Er muss sich entscheiden. Lauter Abzweigungen. Wo soll er hin? Wo will er hin? Geradeaus geht’s zur Forellenzucht. Er könnte sich eine frisch gebackene Forelle in ausgelassener Butter servieren lassen und dazu einen gekühlten Riesling-Wein trinken. Das wäre der angenehmste, der einfachste Weg.
Links geht’s nach Macken, aber wie von dort wohin weiter?
Nach rechts würde er das Baybach-Tal verlassen, um ein paar Stunden später wieder in Burgen anzukommen. Er könnte den Kreis schliessen.
Kaminski wendet sich nach rechts. Schon bald geht es ungewöhnlich steil bergauf. Jedes Mal, wenn er glaubt, den unangenehmsten Teil geschafft zu haben, geht es hinter der nächsten Wegbiegung noch ein wenig steiler bergan. Die Anstrengung raubt ihm fast den Atem. Sein Herz klopft rasend. Immer wieder muss er stehenbleiben, um sich ein wenig auszuruhen.
Hier ganz in der Nähe gibt es eine Höhle, die einem Verfolgten als Versteck diente, dem Schinderhannes. Die Menschen haben ihn in Geschichten und Anekdoten zu einem Hunsrücker Volkshelden gemacht. In Wahrheit war er wohl bloss ein Räuber, ein Strauchdieb, ein Mörder.
Kaminski spürt die Begrenztheit seiner Kräfte. Er empfindet die Endlichkeit seines Daseins.
Aber er ist frei von Angst.
Wenn ich bedenke, sagt er, wie lange ich tot war, bevor ich geboren wurde, dann muss ich sagen: das Tot sein hat mir nicht geschadet.

Kaminski ist bald oben angekommen. Er hat gekämpft. Er hat gezweifelt. Er hat es fast geschafft. Je höher er steigt, desto müder und kurzatmiger wird er, doch sein Blick weitet sich. Immer mehr erkennt er das Ganze. Ferne Gebirgszüge, Täler und Orte wirken erhabener als die nahegelegenen. Zeitweilige Distanz ermöglicht Übersicht.
Kaminski geniesst den weiten Blick.
Er ahnt Zusammenhänge.

Und dann geht es bergab. Kaminski macht kleine Schritte, um nicht auf dem Schotterweg ins Rutschen zu geraten. Der steile Abstieg verursacht Schmerzen in den Beingelenken. Das Ende der Wanderung ist in Sicht.
Kaminski, warum sprichst du so selten über deinen Beruf, fragen die Menschen seiner näheren Umgebung.
Man muss ja nicht gleich immer mit der Leiche ins Haus fallen, sagt Kaminski und lächelt.
Manchmal rufen sie ihm zu: Kaminski, nicht vergessen! Heute Nacht werden die Urnen umgestellt!
Oder:
Kaminski, was ist das? Es ist klein, grün und liegt im Sarg, na?
Eine Sterbse! Ha, ha, ha!
Aber es kommt auch vor, dass sie ihm Fragen stellen. Ernsthafte Fragen. Leise und verstohlen.
Kaminski, was ist mit der Seele? Du musst das doch wissen!
Die Seele, sagt Kaminski, ist der Lebensatem, der aus dem Sterbenden fortfliegt, und erst dann als Seele erkennbar ist. Der Unterschied zwischen Leben und Tod.
Am Lebensatem erkennt man, was eine Seele ist oder war.

Die Wanderung ist nun zu Ende. Viel schneller als gedacht. Kaminski ist müde. Todmüde. Er legt sich nieder und schliesst die Augen. Kaminski schläft ein. Viel zu früh. Er wacht nicht mehr auf.
Er wusste: Der Tod ist kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt: Nicht Exitus (Ausgang), sondern Introitus (Eingang).
Die Sonne sank, bevor es Abend wurde. ♦

Für Klaus Jakob (1961-2017), Bestatter aus Giessen


Kai Engelke - Glarean Magazin (2)

Kai Engelke

Geb. 1946, Pädagogikstudium in Hildesheim, Grundschullehrer im Emsland, zahlreiche Buch-Veröffentlichungen und -Herausgaben, drei CDs, Beiträge in mehr als 100 Anthologien, lebt als Schriftsteller und Musikjournalist in Surwold/D

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Kurzprosa von
Nora B. Hagen: Das Fenster

Ines Oppitz: Bild-Meditation über „Landschaft mit Laternen“

inmitten / abgewandt

Bild-Meditation über „Landschaft mit Laternen“ von Paul Delvaux

Ines Oppitz

Paul Delvaux - Landschaft mit Laternen - Ölbild 1956 - Glarean Magazin
Paul Delvaux – Landschaft mit Laternen – Ölbild 1956

müdigkeit auf den lidern wie schnee fällt und wind sich senkt in die felle / schwer die lider die erinnerung licht / jetzt die erinnerung gelichtet der abend in die helle genommen die dahinziehenden wände / umschliessung wie in nach unten weit geöffneten armen / in diesem schutz tritt sie / im ausgegossenen licht / wachsamen laternenspalier / zierlich auf abstand distanz wie gemessen / tritt sie ins bild / ein wenig verkürzt der saum das schwarze gewand ein wenig im nirgendwo über dem bildrand / nur ein schritt könnte sagen woher / zurück nur ein schritt ohne nachrücken des bildes / ein schritt oder zwei oder und… tritt sie ins bild fehlendes saumstück / der saum das pflaster umschwebend dunkel die schwere das kleid die schleppe schmal hin zur mitte des leibes zart aufsteigendes spiel um die schultern / alabaster der nacken / geknotet das monddurchsponnene haar / die gestalt aufrecht undeutbar / licht über den wänden wie tag / trapeze / astgewirk an den stämmen der pappeln / aufwärts als wäre der himmel zu tragen / tiefschwarz der himmel seelenkleid schwarz die blicke der wände ins innere eines gehöfts / breit fliesst der weg / strömt abwärts unmerklich in streng quadratisch abgezirkelten steinen schwärzlich gefügt / strömt abwärts der weg auf seinem rücken das licht das abnimmt hinaus in das tal / am unteren bildrand steht sie tritt in das bild rücklings eine andere wirklichkeit / abgewandt / erhöht steht sie in der szene des bilds der dämmrigen landschaft zu / der fahlen wiese dem milchigen see der blassen kahlheit der berge / stille ist / ruhe / knistert leise das licht / fängt sie frieden ein in der brust / mit übereinander liegenden händen ist es wie immer ersehnt im einklang des abends im versiegenden schläfrigen tag / ruhe ist… oder erschreckend / schrecken abwehrende geste …

falbweiss zur mitte des bildes hin zwei gestalten nahe am wasser / der schritt ohne hast / im gleichmass der schritt das gehen gravitätisch hintereinander / zwischen ihnen die bahre hoch gebauscht darauf gellend weiss das schreiende tuch… ♦


Ines OppitzInes Oppitz - Lyrik-Autorin im Glarean Magazin

Geboren in Wels/A, Ausbildung zur Lehrerin in Linz, anschliessend sechs Jahre Schuldienst an Volks- und Hauptschulen; Studium der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und Philosophie, Ausbildung zur diplomierten Literaturpädagogin; Verschiedene Buchpublikationen, zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien, Literatur- und Kulturzeitschriften; lebt als freiberufliche Literaturpädagogin in Wels

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Bild-Meditation auch Johanna Klara Kuppe: Über Bilder von Böcklin und De Chirico

Kopf des Monats: Miguel de Cervantes (Scherenschnitt)

Zum 470. Geburtstag von Miguel de Cervantes

29. September 1547: Happy Birthday Don Quijote !

Die Mainzer Schriftstellerin und Künstlerin Simone Frieling stellt im Glarean Magazin jeweils einen „Kopf des Monats“ in Form von Scherenschnitten vor.

Miguel Cervantes - 470. Geburtstag - Kopf des Monats - Scherenschnitt - Simone Frieling - Glarean Magazin
Miguel Cervantes – 470. Geburtstag – Kopf des Monats – Scherenschnitt – Simone Frieling – Glarean Magazin

Deutschland hat seinen „Faust“ von Goethe, Spanien seinen
„Don Quijote“ von Cervantes

© Copyright 09/2017 by Simone Frieling

Besuchen Sie im Glarean Magazin auch den
Kopf des Monats (August 2017): J. W. von Goethe

Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben

Sprachwandel oder Sprachzerfall?

Wie Jugendliche heute schreiben

von Mario Andreotti

„Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben; sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur und Sprache zu erhalten.“ Worte eines frustrierten Lehrers, werden Sie jetzt vielleicht denken. Weit gefehlt. Das ist nicht die Klage eines Zeitgenossen; die Klage findet sich vielmehr auf einer rund 3000 Jahre alten babylonischen Tontafel.
Warum führe ich das an? Aus dem ganz einfachen Grunde, weil die ältere Generation zu allen Zeiten über den Zustand der jüngeren geklagt hat. Uralt schon ist dieses Reden vom Sprachzerfall, und hätte es zu jeder Zeit zugetroffen, so würden uns heute fast gänzlich die Worte fehlen und unsere Kommunikation wäre wohl nur noch auf ein Stammeln, ein Grunzen oder Pfeifen reduziert.
Stimmt es aber, dass die sprachlichen Fähigkeiten unserer Jugendlichen derart zurückgegangen sind, wie man immer wieder hören kann? Um es gleich vorwegzunehmen: Die Antwort auf diese Frage wird nicht ein Ja oder Nein, sondern ein differenziertes Urteil sein.

Jugendliche schreiben heute mehr als früher

Jugendliche - Girls - Handy - Kommunikation - Glarean Magazin
Jugendliche schreiben heute mehr als je zuvor: Young Ladies beim Konsultieren ihres Lieblingsspielzeuges

Beginnen wir mit einem vielgehörten Vorurteil, das da lautet, Jugendliche würden ausserhalb der Schule kaum noch schreiben; sie sässen in ihrer Freizeit vielmehr vor dem PC, den sie vor allem für Spiele und für das Surfen auf Unterhaltungsseiten im Internet nutzten. Ein Vorurteil, das so nicht stimmt, denn die Fakten sprechen eine andere Sprache: Jugendliche schreiben heute mehr als je zuvor. Ob sie mit Klassenkameraden chatten, E-Mails verfassen, Mitteilungen über SMS machen, sich an Online-Spielen beteiligen, ihr Profil auf Facebook aktualisieren oder einen Kommentar in einem Blog veröffentlichen: Sie schreiben. Selbst das Handy dient Jugendlichen, anders als das Telefon früher, vorzugsweise zum Schreiben, nicht zum Sprechen. Ja, es wird im privaten Raum heute derart viel geschrieben, dass wir Germanisten geradezu von einer „neuen Schriftlichkeit“ sprechen. Nur ist es ein etwas anderes Schreiben, als es sich besorgte Eltern, Lehrer und Arbeitgeber wünschen – ein Schreiben, das von ihnen häufig als defizitär bezeichnet wird. Doch wie sieht dieses Schreiben unserer heutigen Jugendlichen konkret aus?

Aneinanderreihung von Hauptsätzen

Bevor ich diese Frage beantworten kann, gilt es, darauf hinweisen, dass frühere Generationen ihr Schwergewicht zum einen auf die geschriebene Sprache legten und zum andern diese geschriebene Sprache häufig mit der hohen Sprache der Dichtung gleichgesetzt haben. Im Schüleraufsatz eines 16-jährigen Jugendlichen aus den 1950er Jahren tönte das dann, recht abgehoben, etwa so:

Dann betraten sie das kühle, dämmerige, kerzenerleuchtete Kirchenschiff. Wärme zog ein in ihre erkalteten Herzen und verbreitete den heissen ersehnten inneren Frieden.

Ganz anders ein paar Sätze aus einem 2015 entstandenen Aufsatz zum Thema „Eifersucht“ einer ebenfalls sechzehnjährigen Schülerin:

Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule, es war mir peinlich als Frau Schmidt (die Direktorin) mich der Klasse vorstellte, sie sagte: „So, das ist die neue Schülerin Vanessa“! Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir, das ich mich zu Kevin setzen soll, das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igelhaare, er hätte auch super coole Klamotten an, er sah echt süss aus. In der ersten Woche waren alle auch sehr nett zu mir, vor allem Kevin. In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.[…]

Duden - Sprache - Rechtschreibung - Lesen - Lupe - Glarean Magazin
Hat Pause, wenn es bei Jugendlichen um genauen Ausdruck und korrekten Satzbau geht: Der Duden

Das ist, wie man sofort bemerkt, nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich ein ganz anderer Text. Was an diesem Text, neben den Orthografie- und Grammatikfehlern, sofort auffällt, die fast ausnahmslose Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die jeweils weder durch ein Satzschlusszeichen abgeschlossen noch ausreichend kausallogisch miteinander verknüpft werden. Man beachte beispielsweise nur schon den ersten Satz „Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule“, der kausallogisch korrekt folgendermassen heissen müsste: „Weil wir umgezogen waren, kam ich in eine neue Schule.“ Auch die beiden Sätze „Ich kam mir echt blöd vor“ und „dann sagte Frau Schmidt zu mir […]“ sind unsauber miteinander verknüpft: „dann“ ist eine temporale Partikel; zwischen den beiden Sätzen besteht aber kein temporaler Bezug.

Merkmale des Sprechens in die Schriftsprache transferiert

Und noch etwas muss uns aufgefallen sein, die Tatsache nämlich, dass der Text der Schülerin typische Merkmale der gesprochenen Sprache aufweist. Beachten wir nur, wie die einzelnen Aussagen und Sätze weniger einer grammatischen Logik als vielmehr einem vagen Assoziieren folgen, so wie sich die Gedanken der Schreiberin im Augenblick gerade ergeben. Besonders schön zeigt sich dies in den beiden bereits vorhin genannten Sätzen „Wir sind umgezogen und ich kam in eine neue Schule“ und „Ich kam mir echt blöd vor, dann sagte Frau Schmidt zu mir usw.“, die nicht durch logische Konjunktionen, sondern rein assoziativ miteinander verbunden sind. Überhaupt fehlen im Text die Konjunktionen, die ja eine Art Scharnier zwischen den einzelnen Aussagen bilden, fast ganz. Sehen wir uns dazu beispielsweise die folgenden drei Sätze an, die durch keinerlei Scharniere miteinander verknüpft, nebeneinander stehen: „das ist ein Junge mit blauen Augen und blonde Igelhaare, er hätte auch super coole Klamotten an, er sah echt süss aus.“ Kausallogisch sauber verbunden, könnten die drei Sätze etwa folgendermassen lauten: „Das ist ein Junge mit blauen Augen und blonden Igelhaaren, der super coole Klamotten trug, so dass er echt süss aussah.“
Zur mehr assoziativen als logischen Schreibweise unserer Schülerin tritt aber noch etwas Weiteres: Warum wohl sagt die Schreiberin „er hätte auch super coole Klamotten an“ und nicht „er trug super coole Klamotten“? Ganz einfach deshalb, weil es in unserer Mundart auch heisst „Er hett super cooli Klamotte a“. Die Schülerin gleicht also den hochdeutschen Satz an die Mundart, unser mündliches Sprechen an. Ganz ähnlich verfährt sie mit dem Satz „In der Pause hängte ich immer mit Kevin rum.“ Das ist eine dem Dialekt angenäherte Umgangssprache, welche die Schülerin anstelle des hochsprachlich formulierten Satzes „In der Pause halte ich mich zum blossen Zeitvertreib mit Kevin auf“ wählt.

Unlogische Konjunktionen zwischen zwei Aussagen

Was wir im Text unserer Schülerin vorfinden, ist eine Schreibweise, wie wir sie in vielen Texten Jugendlicher antreffen. Sie zeigt sich vor allem in fehlenden oder unlogischen Konjunktionen zwischen zwei Aussagen, in einem häufig unlogischen Gedankengang, in langen Sätzen mit wenig gliedernder Interpunktion, in einem vagen Assoziieren, in einer oftmals ungenügenden äusseren Gliederung und nicht zuletzt in einer gewissen Geschwätzigkeit. Fassen wir diese Ergebnisse zusammen, so lässt sich sagen, dass sich bei unsern Jugendlichen eine zunehmende Angleichung der geschriebenen Sprache an die gesprochene Sprache vollzieht, in der wir ja in der Regel auch nicht stringent logisch, sondern vielmehr assoziativ argumentieren, indem wir immer wieder von einem Gedanken zum andern springen. Die Germanistik bezeichnet diese Tendenz zur Vermündlichung der Sprache, die übrigens nicht nur bei jugendlichen Schreibern, bei diesen aber besonders ausgeprägt, feststellbar ist, mit dem Begriff „Parlando“ – einem Begriff, der aus der Musiktheorie stammt und dort eine musikalische Vortragsweise meint, die das natürliche Sprechen nachzuahmen versucht.

Unter Jugendlichen gibt es mit Blick auf ihre Parlando-Texte so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, das aus folgenden vier Schreibanweisungen besteht:

  1. Nimm das einzelne Wort, den einzelnen Satz nicht allzu wichtig. Schreib weiter.
  2. Gehe davon aus, dass der Leser das, was Du schreibst, auch so versteht wie Du.
  3. Rechne mit dem gesunden Menschenverstand des Lesers; vermeide unnötige Differenzierungen.
  4. Nimm den Inhalt wichtiger als die Form.

Inhalt wichtiger als die Form

Handy - Smartphone - Jugendliche - Instagram - Glarean Magazin
Beeinflussen wesentlich das Sprachverhalten der Jugend: Das Handy und die Social Media

Diese letzte Anweisung „Nimm den Inhalt wichtiger als die Form“ ist dabei die wichtigste dieser vier Schreibanweisungen. Sie ist ganz wesentlich verantwortlich für den häufig sorglosen Umgang mit den Normen und Ansprüchen der geschriebenen Sprache, wie das Erwachsene, vor allem Eltern, Lehrer und Arbeitgeber, bei den heutigen Jugendlichen mit einem gewissen Entsetzen feststellen. So machen Schüler heute, wie der Vergleich von Schulaufsätzen aus drei Jahrzehnten gezeigt hat, doppelt so viele Rechtschreib- und vor allem Interpunktionsfehler als noch vor vierzig Jahren, wobei die Mädchen statistisch immer noch besser abschneiden als die Jungen. Und so hapert es denn auch bei der Grammatik, der Stilistik und der Sprachlogik zum Teil gewaltig, so dass wir in Schulaufsätzen beispielsweise Sätze wie die folgenden zu lesen bekommen:

Der Blitz hat uns erschrocken.
Er hing die Bilder an die Wand, aber sie hängten schief.
Graubünden ist ein gebirgiges Volk, das sich vorwiegend von Touristen ernährt.
Unsere Welt nimmt in erschreckendem Masse zu.
Fünf Prüfungstage mit weichen Knien sind abgeschlossen.

Sorglosigkeit der Sprache gegenüber

Bemerkenswert ist dabei, dass all diese Fehler weniger mit mangelnder Sprachbeherrschung zusammenhängen als vielmehr mit einer gewissen Sorglosigkeit der Sprache gegenüber. Besonders schön zeigt sich das an den auffallend vielen Rechtschreibfehlern in Wörtern, die eher einfach zu schreiben sind: Ich fant die Läute gemein.
Wie erklärt sich diese Vernachlässigung der sprachlichen Form, wie wir sie in Parlando-Texten unserer Jugendlichen, geradezu gehäuft vorfinden? Dafür gibt es selbstverständlich verschiedene Gründe; die drei wichtigsten möchte ich kurz nennen:
Der erste Grund – wie könnte es anders sein – ergibt sich aus dem Aufkommen neuer, elektronischer Medien wie E-Mail, SMS, Chat, Facebook, Whatsapp usw., wo das ungeschriebene Gesetz der Sprachökonomie gilt, d.h., wo alles möglichst schnell, kurz und der mündlichen Redesituation angepasst sein muss. So tippen Jugendliche in ihren Mails beispielsweise nur das Kürzel gn8, wenn sie dem Freund „Gute Nacht“ wünschen, oder OMG (oh my god), wenn für sie etwas furchtbar ist oder hdgdl, wenn sie jemandem sagen wollen: „hab dich ganz doll lieb“. Und gegrüsst wird nur noch mit Kürzungen wie LG (liebe Grüsse) oder „hegrü“, falls man sich überhaupt noch Zeit für einen Gruss lässt. Kommas lässt man selbstverständlich möglichst weg; sie kosten ja auch nur Zeit. Schliesslich schreiben Jugendliche etwa beim Chatten konsequent klein; das geht schneller, als wenn sie zwischen gross- und Kleinbuchstaben abwechseln müssen.

Persönliche Erfahrung als Massstab des Schreibens

Dass dieses informelle, verkürzte Schreiben in den neuen Medien das Schreiben in den übrigen Texten, etwa in Schulaufsätzen, beeinflusst, steht ausser Frage, auch wenn dieser Einfluss, wie neuere linguistische Studien gezeigt haben, nicht überschätzt werden darf. Es gibt da nämlich noch ein weiteres wichtiges Moment, das sich auf die Schreibweise unserer heutigen Jugendlichen auswirkt. Wurde früher, etwa in Schulaufsätzen an der Oberstufe die Darstellung schulischer Inhalte gefordert, lautete ein Thema etwa „Der Freiheitsbegriff in der Schweizerischen Bundesverfassung“, so wird heute eine stärker eigenständige Auseinandersetzung mit Themen verlangt. So z.B. „Welchen Wert hat der Sport für mich?“. Persönliche Erfahrungen werden für die Jugendlichen so vermehrt zum Massstab ihres Schreibens. Sie äussern sich in der Formulierung einer Ich-Perspektive, zeigen sich im Anspruch der Jugendlichen, authentisch zu sein, was dazu führt, dass sich ihr Schreiben der gesprochenen Sprache stark annähert. Das hat einerseits zur Folge, dass die Texte spontaner, ja lebendiger wirken, dass andererseits aber ihre formale Korrektheit abnimmt, was Grammatik, Rechtschreibung und vor allem die Interpunktion betrifft.

Verwischung der Sprachebenen

Sprechen - Verständigung - Mann und Frau - Missverständnis - Glarean Magazin
Für sprachbewusste Erwachsene bloss Fragezeichen, für inhaltsbewusste Jugendliche no problem: „Hey Kellner, schwing mal a cold one rüber.“

Schliesslich gibt es da noch einen dritten Grund für den häufig sehr sorglosen Umgang unserer Jugendlichen mit der Sprache. Er besteht in einer gewissen Demokratisierung der Sprache. Was ist damit gemeint? Ich sage es: In der deutschen Sprache haben Normen in der Grammatik, vor allem aber in der Rechtschreibung, anders als etwa im Englischen, einen sehr hohen Stellenwert, weil wir ihre Beherrschung als Zeichen für Intelligenz und schulischer Bildung nehmen. Machen wir die Probe aufs Exempel: Ich frage meine Leserinnen und Leser: Würden Sie als Arbeitgeber jemanden für einen verantwortungsvollen Posten einstellen, der in seinem Bewerbungsschreiben Grammatik- oder gar Orthografiefehler macht? Höchstwahrscheinlich nicht. Zu wichtig sind Ihnen nämlich sprachliche Normen. Und genau gegen diese Normen, die sie als elitär empfinden, rebellieren viele unserer Jugendlichen. Sie neigen zu einer Sprache, die nicht mehr grammatisch korrekt, stilistisch rein sein will, sondern in der sich verschiedene Sprachebenen gewissermassen verwischen, die – mit einem Wort – demokratisch ist. Das zeigt sich zum einen in ihrem häufig spielerischen und sorglosen Umgang mit der geschriebenen Sprache, und dies alles mit einer starken Orientierung an der Mündlichkeit, und zum andern in einem zunehmenden Einbezug der Mundart. Ohne die geringsten sprachlichen Skrupel können sie dann beispielsweise „I bi xi“ anstatt hochdeutsch „Ich bin gewesen“ schreiben. Das schafft für sie offenbar Nähe.

Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt verwischt

Bei Jugendlichen läuft der private schriftliche Austausch – per SMS, Chat, Mail, Whatsapp usw., aber auch in vielen nichtelektronischen Texten – heute fast ausschliesslich in der Mundart ab; für sie existiert der Unterschied zwischen Hochsprache und Dialekt nicht mehr, so dass die Linguisten längst von einem „Schriftdialekt“ sprechen. Interessant ist dabei, dass diese Tendenz zur Dialektisierung der Hochsprache zunehmend auch junge Erwachsene erfasst. Als unsere Tochter Flavia, die Lehrerin ist, für ihre beruflichen Leistungen vom Schulrat mit einer Prämie belohnt wurde, gratulierte ihr unser 28jähriger Sohn Fabio, der Jurist ist, mit folgender Mail:

Sehr geilö Flav
gratuliere vu herze
lg Fab (Herzchen)

Was an dieser Mail auffällt, sind nicht nur die Mundart und die Kürzung lg für „Liebe Grüsse“, sondern auch der typisch jugendliche Ausdruck „geilö“, der hier nichts weiter meint, als dass man etwas gut findet, und das Herzchen am Schluss, das nicht fehlen darf. Denn Jugendliche empfinden eine Nachricht als unvollständig, wenn nicht mindestens ein Smiley oder ein Herzchen gesetzt wird. Die Linguisten sprechen inzwischen gar von einer „Gefühlsstenografie“. Zu ihr gehört auch, ganz nach amerikanischem Vorbild, die informelle, stark emotional gefärbte Anrede, die inzwischen mehr und mehr auch von Erwachsenen, ja selbst von Unternehmen praktiziert wird, wie das folgende Beispiel zeigt, das übrigens meine Frau in St. Gallen entdeckt hat:

"Informelle und stark emotional gefärbte Anrede": An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache
„Informelle und stark emotional gefärbte Anrede“: An Jugendliche gerichtete Plakat-Sprache

Man beachte in dieser etwas kumpelhaften Anwerbung nicht nur die typische Jugendsprache, sondern auch die mit ihr zusammenhängenden Anglizismen „hey“ und „cool“. Dass englische Wörter unsere deutsche Sprache zunehmend vereinnahmen, ist längst eine Tatsache. Dass sie bei Jugendlichen besonders beliebt sind, hängt unter anderem damit zusammen, sich als Gruppe von den Erwachsenen abgrenzen zu können. Dazu kommt das hohe Prestige des Englischen, wirkt es doch so modern, so snappy, so sexy, wie es Deutsch offenbar nicht kann. „Tschau Simon, see you later“ verabschieden sich Jugendliche untereinander heute. Und wenn sie etwas essen, dann „fooden“ sie, und wenn sie beim Essen ein Bier bestellen, dann rufen sie nicht einfach nach einem Bier, sondern dann heisst es „Hey Kellner, schwing mal a cold one rüber.“ Und wenn sie schliesslich etwas nicht hinbekommen, dann sagen sie nicht „Scheisse“, sondern „Shit“.

Jugendliche passen die Sprache der Situation an

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Jugendliche schreiben heute informeller als noch vor 30 Jahren, machen z.T. auch deutlich mehr grammatische und orthografische Fehler. Das ist wahr. Dafür schreiben sie aber auch viel kreativer, wie neuere Studien gezeigt haben. Zudem können sie sehr wohl unterscheiden, ob sie eine SMS oder einen Deutschaufsatz schreiben. Sie passen ihre Sprache der Situation an. Und vergessen wir zum Schluss nicht: Die sprachlichen Anforderungen sind heute in einem Masse gestiegen, dessen wir uns erst allmählich bewusst werden. Was früher nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung sprachlich zu leisten war, wird heute von vielen gefordert. Daher kommt dem Auf- und Ausbau der Sprachfähigkeit unserer Jugendlichen in der Schule, aber auch später eine fundamentale Rolle zu. ♦


Mario Andreotti - Literatur-Autor im Glarean MagazinProf. Dr. Mario Andreotti

Geb. 1947, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, 1975 Promotion über Jeremias Gotthelf, 1977 Diplom des höheren Lehramtes, danach Lehrtätigkeit am Gymnasium und als Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, langjähriger Referent in der Fortbildung für die Mittelschul-Lehrkräfte und Leiter von Schriftstellerseminarien, seit 1996 Dozent für Literatur und Literaturtheorie an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Linguistik; Verfasser mehrerer Publikationen und zahlreicher Beiträge zur modernen Dichtung, darunter das Standardwerk: Die Struktur der modernen Literatur; Mario Andreotti lebt in Eggersriet/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin auch von Mario Andreotti:

Aspekte und Tendenzen der neueren und neuesten Schweizer Literatur

Ist Dichten lernbar?

Ausserdem zum Thema Kulturgeschichte über die Albert-Schweitzer-Monographie von Claus Eurich: Radikale Liebe

Martina Sahler: Die Stadt des Zaren (Roman)

„Hier werde eine Stadt am Meer“ – Sankt Petersburg

von Günter Nawe

Jeder, der schon einmal in der Stadt am Finnischen Meerbusen war, hier die Weissen Nächte erlebt, das Flair dieser einzigartigen Metropole gespürt hat und um die aufregende Geschichte der Gründung weiss, ist der Faszination Sankt Petersburgs erlegen.
So ist es nach eigenem Bekunden auch der Schriftstellerin Martina Sahler gegangen. „Die Peter-Paul-Festung auf der Haseninsel ist die Keimzelle der Stadt St. Petersburg. Als ich die Insel umrunde, die Wälle und Bastionen hinaufblicke, durch das Tor mit dem doppelköpfigen gekrönten Adler spaziere und die Aussicht über die Newa auf den Winterpalast auf mich wirken lasse, weiss ich, dass ich die Geschichte dieser Stadt erzählen muss“.

Gut recherchierter Roman

Martina Sahler - Die Stadt des Zaren - Der grosse Sankt-Petersburg-Roman - List-Ullstein-VerlagUnd sie hat die Geschichte erzählt. Das Ergebnis: Der spannende historische Roman „Die Stadt des Zaren“ – ihr grosser Sankt-Petersburg-Roman. Martina Sahler beschreibt die Gründung der sozusagen ab urbi condita, historisch gut recherchiert. Und sie erzählt um die Fakten herum interessante fiktive Ereignisse und Geschichten. In der Summe: ein aufregender, informativer und sehr unterhaltsamer Roman.

Den Auftakt macht die Autorin mit den Ereignissen und der Legende um die Gründung von St. Petersburg. 1703 setzte Peter, der später der Grosse genannt werden sollte, den ersten Spatenstich. Der Zar hatte sich in der Welt umgesehen und festgestellt, das sein Russland erheblichen Nachholbedarf hatte. So sollte seine Stadt nach dem Vorbild grosser europäischer Städte entstehen. Ein Wahnsinns-Vorhaben, betrachtet man die Gegebenheiten, unter denen gebaut werden soll.

Aber all das schreckt ihn nicht. Sümpfe müssen trocken gelegt werden, aus dem Nichts und quasi mit Nichts sollen Häuser und Paläste entstehen. Genie, Kampfgeist und wilde Entschlossenheit – und eine gewisse Rücksichtslosigkeit denen gegenüber, die ihm untertan sind und untertan gemacht werden, machen es möglich.

Krieg, Morde, Katastrophen

Weisse Nächte in Sankt Petersburg - Glarean Magazin
Die Weissen Nächte von Sankt Petersburg

Vor allem bediente sich Zar Peter ausländischer Hilfe. Fachleute jeglicher Profession: Ärzte, Baumeister, Tischler, Stukkateure werden benötigt und engagiert. Verpflichtet werden auch die Gefangenen aus dem zurzeit tobenden Krieg zwischen Russland und Schweden. Sie alle spielen entscheidende Rollen – auch in diesem Roman. Da ist der deutsche Arzt Dr. Albrecht mit seinen Töchtern. Vom Zaren hoch geschätzt kümmert er sich um die vielen Erkrankungen und wird für ebenso viele Menschen zu Lebensretter. Seine Frau verehrt ihn und den Zaren. Seine Tochter Paula verliebt sich in den holländischen Schreiner Willem, Tochter Helena in den schwedischen Gefangenen Erik, der einerseits zum Mörder, andererseits bei einer Naturkatastrophe ebenfalls zum Lebensretter wird. Eine grosse, eine heimliche Liebe mit Happy End.
Kein Happy End gibt es für die Familie des Grafen Fjodor Bogdanowitsch und seine intrigante Frau, die ihre Tochter gern mit dem Zaren verbandeln möchten. Das allerdings sollte gründlich misslingen – unter wenig erfreulichen Umständen.

Eine der schönsten Städte der Welt

Ein monumentales Vorhaben - die Gründung einer Stadt aus dem Nichts. Gelungen ist dies Peter dem Grossen mit St. Petersburg. Davon erzählt Martina Zahlerin ihrem Roman "Die Stadt des Zaren" voller Abenteuer, voller grosser Gefühle und interessanter Charaktere.
Ein monumentales Vorhaben – die Gründung einer Stadt aus dem Nichts. Gelungen ist dies Peter dem Grossen mit St. Petersburg. Davon erzählt Martina Sahler in ihrem Roman „Die Stadt des Zaren“ voller Abenteuer, voller grosser Gefühle und interessanter Charaktere.

Martina Sahler erzählt die Geschichte der Gründung von St.Petersburg in vielen teilweise sehr dramatischen Geschichten. Wie die der Leibeigenen Zoja aus dem Besitz des Grafen Bogdanowitsch. Oder von den italienischen Architekten, die ihre Heimat verlassen haben und am Ende doch wieder von der Vergangenheit eingeholt werden. Nicht zu vergessen den Gottesnarren Kostja, dem keine Intrige, kein Liebesschwur und keine Meucheltat entgeht. Er steht unter besonderem Schutz des Zaren Peter.

So entsteht vor den Augen des Lesers Stein für Stein diese Stadt, die irgendeinmal zu einer der schönsten der Welt zählen sollte. Im Mittelpunkt aber all dieses Geschehens der Zar. Martina Sahler stellt ihn uns als faszinierende Persönlichkeit dar, als einen Mann mit all seinen Widersprüchen: hart gegen sich selbst und andere. Und weich in den Armen einer Frau; fantasievoll und visionär, gerecht und ungerecht.
Ein spannender Roman voller Abenteuer, voller grosser Gefühle und interessanter Charaktere. Und: Am Ende ist dieses Buch auch eine wunderbare Liebeserklärung an die Stadt an der Newa. ♦

Martina Sahler: Die Stadt des Zaren, List-Verlag (Ullstein Berlin), 520 Seiten, ISBN978-3-471-35154-3

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