Die erst 27-jährige, aber bereits international konzertierende Blockflöten-Virtuosin Tabea Debus umreisst ihr jüngstes Album folgendermassen: „Das Ziel dieser Aufnahme ist es, die musikalische Bandbreite nicht nur für die Blockflöte zu erweitern, sondern Hörgewohnheiten aufzubrechen und einen neuen Zugang zu der nur scheinbar alten Musik Telemanns zu eröffnen. Zugleich wird damit auch der durchaus klassische Ansatz verdeutlicht, inwieweit das Schaffen von Komponisten früherer Generationen zeitgenössische Kreativität beeinflusst und befruchtet.“
Ein Dutzend barocke, ein Dutzend zeitgenössische Werke
Anlässlich des letztjährigen 250. Todestages Telemanns hat die Londoner City Music Foundation nun für Debus zu jeder der zwölf Telemann‘schen „XII Fantasie per il Flauto senza Basso“ eine Auftragskomposition vergeben, wobei diese zwölf neuen Recorder-Soli auf thematisches, harmonisches oder rhythmisches Material einer der Fantasien Telemanns fusst – Telemann meets modern music sozusagen. Entsprechende Werke beigesteuert haben u.a. die Komponisten Moritz Eggert, Colin Matthews, Frank Zabel und Max de Wardener. (Das CD-Booklet dokumentiert sehr informativ die jeweiligen persönlichen Telemann-Bezüge und Intentionen der zwölf Komponisten). Teils wird melodisch variativ, harmonisch verfremdend, rhythmisch differenzierend auf die barocken „Vorlagen“ eingegangen, teils wird auch einfach die „Grundstimmung“ einer „Fantasie“ aufgenommen und völlig eigenständig ausgesponnen.
Virtuosität und Stilsicherheit: Die Blockflötistin Tabea Debus
Tabea Debus hat ihre Affinitität zu Telemann bereits in vielen Konzerten und Aufnahmen dokumentiert, und sie musiziert auch hier auf einer spieltechnisch tadellosen Ebene, dabei nicht nur den grossen barocken Affektreichtum Telemanns, sondern auch die teils klanglich nicht gerade leicht interpretierbaren Notenbilder der modernen Stücke realisierend. Insgesamt hochinteressante, die stilstisch notgedrungen tiefen musikhistorischen Gräben nicht zuschüttende, aber satztechnisch wie klanglich angenähert dokumentierende 24 Einspielungen, immer hörbar „verwandtschaftlich im Geiste“.
Blockflöten-Musik auf hohem Niveau
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Ein sehr innovatives Konzept also – allerdings wirklich glaubwürdig nur aufgrund der spielfreudigen wie einfühlsamen Virtuosität der Blockflöten-Protagonistin, deren barocke Stilsicherheit und technische Überlegenheit auf gleicher Höhe musiziert mit den klanglichen Anforderungen moderner, gänzlich anderer Kompositionssprachen. Zweifellos eine Recorder-Disk voller musikalischer Überraschungen, Entdeckungen und Aha-Erlebnisse – die Liebhaber hochstehender Musik für die altehrwürdige Blockflöte in ganz neuem Kleide kommen voll auf ihre Kosten. ♦
„Es gehört […] zum guten Ton, dass man diejenigen, die sich Musik anhören und die in der Lage sind, dies kritisch zu tun, das heisst, sich nicht nur berieseln zu lassen, als reaktionär und minderwertig beschimpft. Die Absurdität, dass man jemanden zum Trottel abstempelt, weil er einem etwas abkauft, was man verkaufen möchte (es ist unumgänglich, sich den Vorgang rein kaufmännisch darzustellen; anders wird das Groteske der Situation nicht ersichtlich), löst sofort Assoziationen an Brecht aus: ‚Das Volk ist schlecht, schaffen wir also das Volk ab.‘
Hierauf sei erwidert: Unser Publikum ist viel besser, klüger, kritischer und instinktsicherer, als man es wahrhaben will. Es vermag sehr wohl zwischen ästhetischem Objekt und predigender Belehrung zu unterscheiden. Es weiss auch, dass Musik heute anders klingen muss als zu Zeiten Mozarts. Und wenn ihm zu jener der Zugang noch versperrt ist, so ist die Zahl derer, welche diesen Zugang zu gewinnen wünschen, grösser als gemeinhin angenommen wird.
Hans Vogt (1911-1992)
Dass die Einheit Produzent-Publikum sich bisher selten ereignet, ist Tatsache, jedoch kein Anlass zur Resignation. Die Annahme, dass dies in früheren Epochen wesentlich anders gewesen sei, ist wohl ein Romantizismus. Auch die ‚Matthäuspassion‘ war nicht für jedermann geschrieben. Wer ihre Qualität erkennen, ihr gerecht werden wollte, hatte sich darum zu bemühen. Er hatte geistig wach und konzentrationsfähig zu sein, musste zuhören können. Wollen wir behaupten, dass es so etwas heute nicht mehr gäbe?“ ♦
Das neue Musik-Kreuzworträtsel im April 2018 hält ein paar leichte und ein paar sehr schwierige Begriffe für den musikalisch versierten Musik-Freund parat.
Das „Glarean“ wünscht viel Spass und Erfolg!
Das neue Musik-Kreuzworträtsel vom April 2018
Copyright by Walter Eigenmann / Glarean Magazin – 4/2018
Seit jeher haben es Komponisten Albions schwer auf „dem Kontinent“. Schon Elgar wird auf deutschen Podien – sieht man von den „Enigma-Variationen“, dem „Cellokonzert“ und dem Marsch „Pomp and Circumstance Nr. 1“ einmal ab – nicht eben häufig gespielt. Ralph Vaughan Williams‘ ergeht es noch schlechter, und von Holst, Bridge, Walton, Scott, Moeran, Alwyn, Brian, Arnold, Howells und vielen, vielen anderen muss man an dieser Stelle schweigen. Noch unbekannter sind die meisten schottischen Komponisten – Komponisten, für deren Werk sich seit vielen Jahren der britische Dirigent Marytn Brabbins einsetzt.
Einer jener grossen Unbekannten ist Erik Chisholm. Auf einer jüngst bei dem britischen Label Hyperion erschienenen CD präsentieren Brabbins und das BBC Scottisch Symphony Orchestra nun verschiedene Orchesterwerke des aus Glasgow stammenden Komponisten und Dirigenten. Es sind keine Werke, die in irgendeiner Form einen romantisierenden Schottland-Topos bedienen würden. Nicht umsonst nennt John Purser (in seinem hervorragenden einleitenden Essay) ihn darum „Den Modernen aus Schottland“.
Denn ein Moderner war Chisholm durch und durch. Als Konzertveranstalter hat er Bartók und Hindemith nach Glasgow geholt, hier hat er auch immer wieder Werke von Florent Schmitt und Karol Szymanowski und Casella aufgeführt, und als Komponist entwickelte er – wie es Purser zurecht anmerkt – eine moderne „Tonsprache ohne Vorbild“ und hinterliess ein Werk, das ein „wahres Abenteuer in emotionaler und intellektueller Hinsicht“ ist.
Grosses Interesse zeigte Chisholm sein Leben lang an gälischer und – nach seinem kriegsbedingten Aufenthalt in Bombay – an der reichen Musik Indiens. Und diese beiden Interessensschwerpunkte fokussiert auch die vorliegende CD.
Pendeln zwischen Meditation und Ekstase
Spezialist für die schottische Moderne: Dirigent Martyn Brabbins (Geb. 1959)
Das Violinkonzert aus dem Jahr 1950 bezieht sich im ersten und im dritten Satz auf zwei nordindische „Ragas“, dem Raga Vasantee und dem Raga Sohani. Aus beiden leitet Chisholm thematisches Material für seine Komposition ab. Gleich der Eingangssatz beinhaltet – gleichsam als Pars pro toto – die Bandbreite der Ausdrucksmöglichkeiten Chisholms. Es handelt sich hier um eine formal weiterentwickelte Passacaglia, die inhaltlich – dem Raga Vasantee gemäss – um den Frühling kreist. Dieser Frühling ist allerdings nichts weniger als eine romantische Vision. Vielmehr pendelt er – daran an Strawinskys „Sacre“ erinnernd – kontinuierlich zwischen Meditation und vehementer Ekstase, zwischen Depression und Manie hin und her. Chisholms Musik setzt ungeheuer stark auf Rhythmik, hat einen wilden Zug nach vorn, steht emotional unter enormen Druck, entlädt sich gleichsam zyklisch und fällt schliesslich immer wieder zurück in Momente des Dunklen und Düsteren. Ob eben in der eröffnenden Passacaglia, dem sich anschliessenden „Allegro scherzando“, der „Aria in modo Sohani“ und in der abschliessenden „Fuga senza tema“: Der Hörer erlebt im Rahmen des gut halbstündigen Violinkonzertes einen unablässigen Rausch, der seinesgleichen durchaus sucht.
Komponist von Musik mit weitem emotionalem Spektrum: Erik Chisholm (1904-1965)
Sowohl der Orchestersatz als auch im Besonderen der Solo-Part stellen dabei höchste Ansprüche an die Ausführenden. Glänzend bestehen hier das BBC Scottish National Orchestra und Geiger Matthew Trusler. Obwohl seinem Ton etwas der Körper abzugehen scheint, so ist er der Virtuosität der Partie vollkommen gewachsen und erweist sich als hervorragender Gestalter dieser hochkomplexen Herausforderung. Tatsächlich eignet sich die etwas flache, kühle Brillanz seines Tones als ideal für die Durchleuchtung dieses Werkes.
Weites emotionales Spektrum
Die auf dieser Hyperion-CD enthaltenen Werke des schottischen Komponisten Erik Chisholm werden mustergültig wiedergegeben. Chisholms Musik, hierzulande vollkommen unbekannt, entpuppt sich als echter Hinhörer, als stilistisch vollkommen genuine Musik der Moderne, die es wert ist, aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden.
Ähnliches kann man zu der sich mit traditionellen gälischen Musikformen auseinandersetzenden „Dance Suite for orchestra and piano“ aus dem Jahr 1932 (man beachte die ungewöhnliche, aber vollkommen richtige Reihung) sagen. Auch in diesem Werk, das eben kein Klavierkonzert ist, obwohl das Klavier – durchweg hervorragend zwischen Analyse und Verzückung gespielt von Pianist Danny Driver – durchaus eine wichtige Rolle spielt, wird ein weites emotionales Spektrum aufgezogen. So findet sich als ein Pol der zarte, impressionistische Beginn des zweiten Satzes, der sich in Struktur, Melodik und Stil mit der „Pìobaireachd“, der grossen gälischen Variationsform beschäftigt. Auf der anderen findet sich die atemlose Vehemenz des Eingangssatzes „Allegro energico“ und das in einem rasanten Reel gipfelnde brachiale Gelärme des letzten Satzes, der dem Hörer nur so um die Ohren fliegt. Zwischen diesen beiden Werken platziert finden sich drei von Chisholm orchestrierte aus den ursprünglich für das Klavier komponierten Preludes „From the True Edge of the World“ aus dem Jahre 1943. Hier zeigt sich ein musikalisch gemässigterer Chisholm, der sich mit altem gälischen Liedern auseinandersetzt, die aus Amy Murryas Buch „Father Allan’s Island“ stammen.
In „Song oft he mavis“ zieht Chisholm alle Register seiner Orchestrationskunst, um ein idyllisch-impressionistisches Frühlingsbild mit nachgeahmtem Drosselruf zu gestalten. Im „Ossianic lay“ zaubern Brabbins und das schottische Spitzenorchester eine legendenhafte, ja magisch-mythische Stimmung (der Ossian beschäftigte Chisholm auch ausführlich in seiner zweiten Symphonie) und der abschliessende Reel entpuppt sich als bodenständiger, wuchtiger aber dennoch mit wunderbaren Drive gesegneter Tanzsatz. Diese zweite Produktion aus dem Hause Hyperion mit Musik Erik Chisholms ist ein echter Hinhörer und es bleibt zu hoffen, dass sich das Label dazu entschliessen wird, die begonnene und bislang höchst gelungene Werkschau in Zukunft noch etwas zu erweitern. ♦
„Ich, auch ich war in Arkadien!“ Diese berühmte Schlusszeile aus Johann Gottfried Herders Gedicht „Angedenken an Neapel“ aus dem Jahr 1789 mag als Motto über die Biographie des italienischen Violinisten und Komponisten Alberto Curci gesetzt werden. Curci, der heute praktisch vergessen ist, wurde im Jahr 1886 im Schatten des Vesuvs geboren, studierte bei Henrich Vieuxtemps und Joseph Joachim, spielte im auf vielen bedeutenden Podien Europas, bevor ihn der Ausbruch des Ersten Weltkrieges dauerhaft zurück nach Italien führte, wo er sich schliesslich auf Drängen des Komponisten Francesco Cilea hin am Konservatorium in Neapel niederliess, um dort 40 Jahre lang talentierte Jungviolinisten zu unterrichten.
Man muss sagen: eine glanzvolle Karriere, deren Impetus jedoch offensichtlich nicht genügte, um den Namen Curci dauerhaft im kollektiven Gedächtnis der europäischen Musikwelt zu verankern.
Sonne des Südens in jedem Ton
Umso erfreulicher ist es, dass das Label FHR (First Hand Records) sich der bereits in den frühen 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entstandenen Aufnahmen der drei Violinkonzerte und der „Suite italiana in stile antico op. 34“ angenommen hat, um sie nun in einem Remastering von Jonathan Mayer und David Murphy erstmals auf CD vorzulegen.
Und was für wunderbare Musik ist das! Es lachte die Sonne des Südens quasi aus jedem Ton. Sicher ist Curcis Tonsprache – wie Tully Potter in seinem höchst informativen Einführungstext schreibt – keine ausgesprochen genuine, aber das wird wettgemacht durch seinen melodischen Erfindungsreichtum und den sicher auf den solistischen und orchestralen Effekt ausgerichteten Satz Curcis. Sei es im ersten Konzert d-Moll op. 21, das nicht umsonst den Beinamen „Concerto romantico“ trägt, sei es im zweiten d-Moll (op. 30) oder im dritten g-moll (op. 33): Der geneigte Zuhörer kann seine Freude haben an dem ausgesprochen gut gemachten Pendeln zwischen Virtuosität voller Italianità und schmelzenden „melodie lunghe lunghe lunghe“, ohne dass das Ganze jemals versatzstückartig und damit uninteressant werden würde.
Die Sprache der führenden Spätromantiker
Alberto Curci (1886-1973)
Man merkt: Auch wenn die Konzerte aus den Jahren 1944, 1962 und 1966 stammen, so hat man es keinesfalls mit „moderner“ Musik zu tun. Curci ist durch und durch Romantiker und seine Sprache ist diejenige Mendelssohns, Brahms‘ und – es ist kaum zu verhehlen – Edward Elgars, dessen grossformatiges Violinkonzert atmosphärisch bei der Komposition dieser Werke oft Pate gestanden haben dürfte. Vielleicht mag das auch dazu geführt haben, dass sein Oeuvre vollkommen aus den Konzertsälen verschwunden ist.
Ähnlich ist es ja auch anderen Spätestromantikern ergangen (man denke beispielsweise an den Schweden Kurt Atterberg). Die ebenfalls 1966 entstandene „Suite italiana in stile antico op. 34“ (im Grunde ein weiteres Konzerte für Violine) steht in einer Linie mit Komponisten wie Reger und Respighi, die ebenfalls Werke „im alten Stil“ schufen. Das ist zweifellos virtuose, historisierende Musik, bei der erneut die Violine im Zentrum des Geschehens steht, die aber an Ausdruckskraft etwas hinter den Werken der beiden genannten Komponisten und ganz besonders auch hinter den drei „offiziellen“ Violinkonzerten zurücksteht.
Alberto Curcis durch und durch romantischen Violinkonzerte sind klangschöne, melodieselige Kompositionen, voller Sentiment und Italianità. Die Wiedergabe durch den hervorragenden Geiger Franco Gulli lässt keinerlei Wünsche offen. Eine erfreuliche Wiederentdeckung durch das CD-Label First Hand Records FHR.
Doch gefällt die musikalische Darbietung insgesamt ausgesprochen gut. Das liegt insbesondere an dem wunderbaren Spiel des grossen italienischen Violinisten Franco Gulli, der den Werken alles entlockt, was da nur zu entlocken ist. Spielfreude, ein sich bisweilen zugegeben nahe am Kitsch bewegender Mut zum Sentiment, Virtuosität und ein weicher und dennoch stets leichter Ton sind die Kennzeichen seines Spieles in dieser Produktion. Begleitet wird er durch ein „Studio Orchestra“, zusammengesetzt aus hervorragenden mailändischen Musikern, das der bedeutende Operndirigent Franco Capuana sicher durch diese süffigen Partituren leitet. ♦
Alberto Curci: Violinkonzerte – Franco Gulli (Violine), Studio Orchestra, Franco Capuana, 72 Minuten, First Hand Records FHR CD-Label
„Die Musik von Komitas kommt“, – so Paul Griffeth in seinen Anmerkungen zu dem kürzlich bei ECM erschienenen Album „Komitas – Seven Songs“ – „was Raum und Zeit angeht, aus einer ungewöhnlichen Ecke der westlichen Musik: zum einen vom äussersten Rand dessen, was man westliches Gebiet nennen könnte – Armenien – und zum anderen auch aus den entferntesten Bereichen der romantischen Musiktradition des 19. Jahrhunderts.“ Tatsächlich haben es nur wenige Komponisten Armeniens bis ins Bewusstsein des europäischen Musikliebhabers geschafft – am ehesten vielleicht Alan Hovhaness, der (obschon Amerikaner) aus einer Familie armenisch-amerikanischen Ursprungs stammte und sich mit der Geschichte und Musiktradition seiner Vorfahren beispielsweise in seiner „Exile Symphony“ auseinandergesetzt hat.
Der armenischen Nationalmusik verbunden
Der Komponist, der ursprünglich Soghomon G. Soghomonian hiess und erst nach seiner Weihe zum Mönch gemäss der Tradition der armenisch-apostolischen Kirche als nun Neugeborener auf den Namen Komitas getauft wurde, war vielseitig begabt, wobei er sich speziell der armenischen Nationalmusik verbunden sah. Diese Nationalmusik sah er in den armenischen Volksweisen unmittelbar verkörpert, die er darum konsequent als Grundlage seiner meisten Kompositionen für Klavier wählte und sich somit bewusst oder unbewusst in die nationalromantische Musiktradition Europas einreihte.
Auf der hier vorgelegten CD nun finden sich – der Titel führt da etwas in die Irre – ausschliesslich Klavierkompositionen. Die den Titel für die Kompilation stiftenden „Seven Songs“ finden sich gleich zu Beginn. Als „Yot Yerg“ (= Sieben Lieder) hat sie Komitas 1911 sowohl als Werke für Gesangsstimme als auch für Klavier solo herausgebracht. Pianistin Lusine Grigoryan, die aus Armenien stammt, hat sie mit Bedacht an die erste Stelle des Programmes gestellt, offenbaren sie doch exemplarisch die typische Verfahrensweise des Komponisten, seine Klaviersätze so zu gestalten, dass sie klanglich an Instrumente der armenischen Volksmusik erinnern. Und so vermitteln die sieben kurzen Stücke für den Hörer Klänge, die eigentlich der Tar, der Daf, der Duduk oder der Zurna zugehören. Neben dieser gewissermassen didaktischen Dimension der hier vorgestellten Werke Komitas‘ hat es der Hörer mit einer Musik zu tun, die trotz ihrer am Volkslied orientierten Ausdruckweise alles andere als volksliedhaft im romantischen Sinne wirkt. Von nirgendwoher winkt ein Mendelssohn, ein Silcher, auch Schumann nicht, weder Brahms noch Vaughan Williams grüssen von fern.
Das Überraschende und enorm Spannende der auf dieser CD vereinten Miniaturen – von dem gut zehnminütigen Tanzszene „Msho Shoror“ einmal abgesehen dauert kaum ein Stück länger als drei Minuten – ist, dass ihr häufig Zeitlosigkeit vermittelnder, schwebender Charakter. Gern gebe ich zu, dass ich beim ersten Hören der hier versammelten Stücke zunächst vermutet habe, es handle sich beim Komponisten um einen gegenwärtigen, einen, der sich in der Tradition eines Pärt wähnt. Es ist schon verblüffend wie nahe sich Komitas‘ Idiom bisweilen an Stücken wie dessen „Für Alina“ oder „Spiegel im Spiegel“ bewegt. Die „Sieben Tänze“ („Yot Par“) oder die zwölf „Stücke für Kinder“ („Mankakan Nvag“) wirken aufgrund ihrer tänzerischen Rhythmik nur im ersten Moment anders, und das auch nur graduell und nicht im Kern. Die beiden Nuclei des Personalstils Komitas‘ bilden überall die seltsam schwebende Grundhaltung und einen der Welt etwas entrückten Tonfall – zwei Idiosynkrasien, die vom ersten Ton an zu fesseln vermögen.
Pianistin Lusine Grigoryan erweist sich als kongeniale Interpretin dieser Musik. Luftiges, glasklares Spiel, sanfteste Anschläge, silbrige Tongebung, eine enorm sicher austarierte agogische Arbeit und eben jenes Händchen für den ganz speziellen Ton der Werke ihres Landmannes fügen sich wie selbstverständlich zu einer ausgesprochen stimmigen Lesart, die es schafft, diese Musik noch lang im Inneren nachhallen zu lassen. ♦
Das Weihnachtsbaum-Musikrätsel 2017 (Copyright 12/17 by Glarean Magazin – W. Eigenmann)
waagerecht
1 Indie-Jazz-Pianist („Arpus“) (3)
3 Oper von Bizet: „?… der Schreckliche“ (4)
4 CD-Album des Sängers Dariush Eghbali (5)
9 Notenwert (7)
12 Figur in Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“
(6)
13 Italienischer Kastratensänger (1654-1732) (4)
15 Amerikanische Jazz-Sängerin (1929-2011) (3)
16 Autor des „Choralis Constantinus“ (5)
18 Album der Punk-Rock-Gruppe „Green Day“
(3)
19 Deutscher Rapper & Hip-Hop-Produzent (3)
21 Lied von J. Brahms: „In der ?…“ (6)
25 Deutscher Komponist & Nietzsche-Freund (4)
26 Kompositionslehrer von Richard Wagner (7)
28 Dreisaitige kroatische Lauten-Form (3)
30 Deutscher Schlager-Sänger (1961-2000) (3)
32 Jazz-Drummer aus New York (*1959) (5)
senkrecht
1 Foxtrott von Michael Jary (5)
2 Münchner Musiker & Politiker (*1967) (5)
5 Begriff aus der Gesangspädagogik (9)
6 Frauenchor-Werk von J. Golle (9)
7 Chorwerk von Gardner: „Good ?…“ (3)
8 Deutscher Komponist („Kain Abel“) (8)
10 Lauten-Solostück von John Gardner (6)
11 Operette von Delibes: „Fleur de ?…“ (3)
14 Song der Rock-Band Pink Floyd (2)
17 Abkürzung für Compact Disc (2)
18 Kanon von Hayes: „?… sunt gaudia“ (3)
20 Berliner Avantgarde-Pianist (4)
22 Chinesische Pop-Sängerin (*2000) (3)
23 Filmmusik von S. Ikebe: „The ?…“ (3)
24 Bekanntes Musik-Lexikon (Abk.) (3)
27 Ballade von Carl Loewe (4)
29 Operette von Robert Hornstein: „?… und Eva“
(4)
31 Dortmunder Songwriter & Gitarrist (3)
Das Cover der jüngst bei LAWO Classics erschienenen CD „Rikard Nordraak – Songs and and Piano Music“ ist eine Augenweide. Der Blick öffnet sich in einen norwegischen Fjord, im kristallklaren Wasser spiegeln sich die schneebedeckten Gipfel der umliegenden Berge. Ein Bild, das jeden Menschen, der den Norden liebt, unmittelbar in seinen Bann zieht. Es irritiert lediglich eines: der Name Rikard Nordraak. Wer ist das eigentlich? Was für Musik steckt hinter diesem Namen? Altes? Neues?
Vergessen von der Musikwelt: Rikard Nordraak
Nun – auf jeden Fall Unerhörtes! Denn Rikard Nordraak ist ein Komponist, den die (Musik-)Welt weitgehend vergessen hat. Nur in Norwegen wird seiner mit schöner Regelmässigkeit gedacht, und zwar immer, wenn die Nationalhymne „Ja, vi elsker dette landet“ auf einen Text seines Vetters Bjørnstjerne Bjørnson erklingt. Zugegeben: Er hat auch nicht viel hinterlassen. Das Oeuvre umfasst ein paar Lieder, ein paar Stücke für Klavier und zwei Bühnenmusiken zu Stücken Bjørnsons. Nur etwa 40 Kompositionen haben sich erhalten, kaum etwas wird je aufgeführt, so gut wie nichts wurde bislang eingespielt. Insofern füllt diese CD – und das grundsätzlich erfreulich – eine Lücke.
Zeittypisch und genrehaft
Rikard Nordraak (1842-1866)
Nordraak wurde 1842 in Oslo geboren. Seine Musikbegabung wurde schon in der Kindheit deutlich. Dennoch sollte er – man kennt dergleichen – eine „anständige“ Profession erlernen. In Kopenhagen sollte er eine Ausbildung zum Kaufmann absolvieren, stattdessen studierte er mehr oder minder heimlich Musik. Diese Studien führten ihn dann immer wieder auch nach Berlin, wo er 1864 an Tuberkulose erkrankte und ihr im darauffolgenden März erlag. Sein Freund Edvard Grieg war so erschüttert vom Tod des jungen Komponisten, dass er einen heute noch bekannten Trauermarsch für dessen Bestattung komponierte. Grieg hatte in ihm den Vorreiter einer echt norwegischen Musik gesehen: „Sein Name wird in unserer Welt der nordischen Kunst fortleben. Seine fesselnden Ideen werden ihn weit über das Nichts des Grabes hinaustragen, denn in sie eingeschrieben sind die Zeichen von Wahrheit und Ewigkeit.“
Hört man jedoch Nordraaks Musik heute, so ist es über die Zeitläufte hinweg und in Kenntnis der Werke seiner Zeitgenossen Johan Svendsen und Grieg selbst, nicht immer einfach jenen „speziell nordischen Klang“ zu erlauschen, den Grieg ihr zuschrieb. Besonders die Klavierwerke, denen wir auf dieser CD begegnen, und die unter den Fingern von Eugene Asti zweifelsohne schöne Klanglichkeit und Plastizität gewinnen, wirken letztlich wie hochromantische Petitessen, weniger innovativ als vielmehr zeittypisch und genrehaft. Der nocturneartige „Valse caprice“ erinnert stark an Fields und Chopin, die „Venskabs-Polka“ hätte auch Schubert schreiben können.
Mysteriöser nordisch-romantischer Tonfall
Die neue LAWO-CD mit „Songs and Piano Music“ von Rikard Nordraak dokumentiert: Nordraak war ein vorsichtiger Initiator, dessen Anregungen von seinen Zeitgenossen weiterführend aufgegriffen wurden. Darin liegt die wirkliche Bedeutung seiner Werke für die nordische Musik-Romantik.
Das Feuer der „Fire Dandse“ für Klavier brennt dann auch ausgesprochen gesittet im heimischen Salon zur unaufgeregten Erwärmung der gebildeten Gesellschaft. Anders die Lieder, die von Sopranistin Helene Wold durchweg klangschön, mit immer etwas abgedunkeltem Ton, höchstem Engagement und gestalterischer Feinsinnigkeit vorgetragen werden. Da hört man immer einmal wieder jenen mysteriösen nationalromantischen Tonfall, den man gern mit dem Begriff „nordisch“ bezeichnet, ohne so recht zu wissen, wie das nordische Klanggewand eigentlich entsteht. Balladeskes wie „Jeg har søgt“ oder die Romanzen „Ingerid Sletten“ und „Liden Gunvor“ aus dem Ole Bull zugeeigneten Opus 1 oder „Solvejge“ aus dem Opus 2 wirken besonders stark in diese Richtung. Auch das das zweite Opus eröffnende „Tonen“ und die sehr stark volksliedhaften Lieder „Træet“ und „Killebukken“ lassen schliesslich ganz gut erahnen, was Grieg in Nordraak sah. Er war ein vorsichtiger Initiator, dessen Anregungen von seinen Zeitgenossen aufgegriffen wurden, die Norwegen schliesslich ein musikalisches Gesicht verliehen. Darin – und weniger in der Qualität seiner Kompositionen – liegt wohl die wirkliche Bedeutung Nordraaks. ♦
„Musik ‚lebt‘ durch Emotionales, erst über Emotionen bekommen wir einen besonderen Zugang zur Musik. Für die Erfahrung von künstlerischen Qualitäten reicht es allerdings nicht aus, die Musikrezeption nur der emotionalen Wirkung zu überlassen. Erst wenn emotionale Anteile auch sprachlich reflektiert und bewertet werden können, gelangt man in seiner künstlerischen Wahrnehmung auf eine höhere Ebene.
In der Regel hat jede Musik eine emotionale Wirkung. Jede Musik beeinflusst Gefühle und setzt Empfindungen frei. Jeder Mensch empfindet sie anders und es ergibt sich ein Feld von individuellen Deutungen und Interpretationen, mit der Emotionen ausgedruckt werden können. Für die künstlerische Förderung von Schülern ist es wichtig, möglichst früh den Grundstein für eine Sensibilität dafür zu legen, eigene Gefühle und Empfindungen in die Musik zu tragen.
Nicolai Petrat
Musik wird zum grossen Teil von unseren Emotionen geleitet. So passiert es auch schnell, dass unser Körper emotional auf Musik reagiert, indem wir ‚Gänsehaut‘ bekommen, weil etwas besonders schön oder sehr schrecklich klingt. Jeder verbindet persönliche Erfahrungen mit Klängen, Farben und Melodien. Somit bleibt auch Musik, die wir selber spielen, ganz individuell und einzigartig, denn die eigenen Empfindungen werden von uns in die Musik gelegt. Um emotionale Eindrücke künstlerisch überzeugend auf dem Instrument wiedergeben zu können, sollte der Schüler seine persönliche Emotion zu dem Werk herausfinden und vor allem einmal versuchen, diese ausdrücklich zu beschreiben. Manches Phänomen kann man zwar kaum in Worte fassen. Aber bereits das Bemühen, dafür entsprechende Worte zu finden, verstärkt die künstlerische Aussage.
Künstlerische Wahrnehmung setzt eine besondere sinnliche Präsenz voraus. Durch Konzentration und Offenheit für Momente des Geschehenlassens gelangt man auf die Ebene des Intuitiven, wodurch viel Künstlerisches zum Vorschein kommen kann. Dazu gehört die Fähigkeit, sich (wieder) auf seine Intuition verlassen zu können, beispielsweise mit Musik improvisatorisch umzugehen, spontan zu bleiben, den Gesamtklang als anzustrebendes Ziel all unserer instrumentalen Aktionen zu betrachten.“ ♦
Das schottische Label Delphian steht seit mittlerweile 17 Jahren für aussergewöhnliche Musikproduktionen jenseits des sogenannten „Mainstreams“. Es sind besonders Konzeptalben – wie die kürzliche erschienene Steinzeit-CD „The Edge of Time“ und Plädoyers für bislang Unerhörtes wie „The Last Island“, das Miniaturen und kammermusikalische Werke des im vergangenen Jahr verstorbenen Komponisten Sir Peter Maxwell Davies präsentiert -, die Delphian sein charakteristisches Gepräge verleihen. Und so zeigen diese beiden Alben Möglichkeiten musikalischer Rede auf einer Zeitachse auf, die etwa 43’000 Jahre umfasst. Dergleichen bieten nicht eben viele Labels.
Musik aus dem Paläolithikum: „The Edge of Time“
„The Edge of Time“, das Volume 4 der insgesamt herausragenden Reihe „European Archeology Project“, wirft also den Blick zurück in eine Zeit, die wir uns – wenn wir ehrlich sind – nicht wirklich vorstellen können. Wir schreiben das Ende des Mittelpaläolithikums, befinden uns in einer Welt am Rand der letzten Eiszeit und auf einem europäischen Kontinent, auf dem erstmals der anatomisch moderne Mensch auftaucht. In den Höhlen „Geissenklösterle“ und „Hohle Fels“ auf der Schwäbischen Alb sowie in der in Südfrankreich gelegenen Höhle von Isturitz entdeckte man in den letzten Dezennien – neben anderen Funden – auch Flöten aus Tierknochen (Mammut, Schwan, Geier).
Uraltes Vokabular im Dialog mit der Moderne
Diese Flöten nun – genauer gesagt: die Rekonstruktionen dieser Instrumente – stehen im Zentrum der Einspielung. Die Flötistin Anna Friederike Potengowski hat sich mit diesen Instrumenten vom Rande der Zeit zwar wissenschaftlich auseinandergesetzt, das eigentlich Interessante aber ist, dass sie auch angegangen ist, ihnen Leben einzuhauchen und sie auf diese Weise der toten Welt des frühzeitlichen Raritätenkabinetts zu entreissen: „Die Idee des Projektes war es, die Gegenwartskultur mit ihren vergessenen Wurzeln in Kontakt zu bringen, etwas von dem uralten musikalischen Vokabular zurückzuholen und es in einen Dialog mit modernen musikalischen Ausdrucksformen zu setzen.“
Gemeinsam mit dem Perkussionisten Georg Wieland Wagner hat sich Potengowski also auf den nicht eben unproblematischen Weg der Nachempfindung begeben. Und diese Nachempfindung klingt in der Tat höchst faszinierend. Die Kombination der ein wenig scharfen, kratzigen, an die Panflöte erinnernden Knochenflötenklänge mit einer Gesangsstimme und den Naturmaterialien, die Wagner im Rahmen der Perkussion einsetzt (Holz, Stein, Heu, Wasser, Tierhaut), wirkt durchweg überzeugend. Aber auch, wenn plötzlich Marimba und Vibraphon zu Einsatz kommen, bleibt das, was die beiden Künstler an Musik erzeugen, atmosphärisch ausgesprochen dicht. Es wird eine Vielfalt an Stimmungen erzeugt, die der Hörer unmittelbar nachvollziehen kann: Heiterkeit, Klage, Meditation, Geheimnis, Magie – von all dem können diese uralten Knochen ebenso überzeugend singen wie die modernen Flöten, Oboen oder Englischhörner.
Begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten der Instrumente
Doch leider bleibt auch in Anna Friederike Potengowskis ansonsten durchweg informativen Einführungstext eine Frage unbeantwortet, die doch als Fixpunkt der Nachempfindung nicht unwichtig erscheint: In welchen Zusammenhängen spielten die frühen Menschen diese Instrumente? War es zum Zeitvertreib? War es um, nachts die grosse Stille der Welt zu vertreiben? Wurden sie im Rahmen von kultischen Handlungen eingesetzt? Hier wäre ein Hinweis auf Forschungsergebnisse informativ gewesen. Davon abgesehen ist das einzige Manko dieser an sich wirklich rundum gelungenen Produktion vielleicht die Spielzeit von gut 65 Minuten. Denn man kann nicht daran vorbeireden, dass sich nach nicht allzu langer Zeit des Hörens das Gefühl einstellt, dass die Möglichkeiten der Gestaltung von Musik mit diesen Instrumenten – so überzeugend diese an sich auch ist – auch ihre Grenzen hat. Und so schleicht sich nach einiger Zeit der ungute Eindruck der Redundanz und kreativen Ermüdung ein, aufgrund dessen man neben das „Sehr gut“, das diese Produktion im Ganzen verdient hat, wohl ein kleines „Minus“ setzen muss. 40 Minuten hätten gereicht. ♦
The Edge of Time, Palaeolithic Flutes of France & Germany, Anne Friederike Potengowski & Georg Wieland Wagner, Audio-CD, 64 Minuten, Delphian CD-Label
Am anderen Ende des Zeitstrahles nun findet sich jene Musik, die die CD „The Last Island“ vorstellt. Sie präsentiert kammermusikalische Kompositionen der Gegenwart aus der Feder des 2016 verstorbenen Komponisten Sir Peter Maxwell Davies. Viele der Werke, die auf dieser CD enthalten sind, sind über die Jahre für das schottische Hebrides Ensemble komponiert worden, das hier für die Gestaltung der zehn mehr oder minder knappen Stücke verantwortlich zeichnet. Der künstlerische Leiter des Ensembles, William Conway, war über 30 Jahre hinweg freundschaftlich mit dem Komponisten verbunden. In seinem einleitenden Text zur Aufnahme versucht er zu erklären, was das ganz besondere an den hier eingespielten Werken ist, die allesamt zwischen 1991 und 2016 entstanden sind: „Man kann es so sehen, dass die Kammermusik, von der eine Menge unter dem Schatten von Krankheit entstanden ist, […], Max‘ eigene letzte Insel war, seine Version der verzichtenden, freigebenden Gesten des Prospero […].“
Bezug zur Lebensumwelt des Komponisten
Greift man diesen Gedanken auf, so findet sich leichter ein Zugang zu diesen nicht selten bedrohlich-düsteren, unheimlich-magischen, sperrigen, aber auch nicht selten tiefe Melancholie offenbarenden Werken. Oft beziehen sich die Kompositionen, will man den Worten Davies‘ Glauben schenken, auf Erscheinungen der Lebensumwelt des Komponisten, der sich zu Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auf den Orkney Islands niedergelassen hatte. So ist das Streichsextett „The Last Island“ von zwei unbewohnten Inseln inspiriert, die in der Nähe seiner Wahlheimat Sanday sind.
Das ständige Changieren zwischen dunkel gehaltenen, weitgehend ruhigen Passagen, die sich nicht selten durch einen nostalgischen Ton auszeichnen, und erregten Abschnitten, die rauschen, tänzeln und schwirren, versinnbildlicht trefflich die beiden Felsen im tosenden Ozean. Eine echte Meeresmusik, die in ihrer gesamten Haltung von fern an Bax‘ Tondichtung „Tintagel“ gemahnt. Von der Orkney-Insel Sanday aus schreibt er auch musikalische Postkarten („Postcard from Sanday“) oder eine „Birthday Card for Jennifer“ – reizende Miniaturen, von Philip Moore am Klavier überzeugend in Szene gesetzt.
Spannungsfeld von Lyrik und Dramatik
Das Label Delphian ist immer für Entdeckungen gut. Zwei der jüngsten Veröffentlichungen verdeutlichen dies unmittelbar. Ob nun die Klänge urzeitlicher Flöten (The Edge of Time) oder die herb-schöne Tonsprache Peter Maxwell Davies‘ (The Last Island): Hier finden sich interessante Konzepte, die musikalisch, technisch und editorisch auf ausgesprochen hohem Niveau umgesetzt werden. Ein Muss für jeden, der sich einmal abseits der eingefahrenen Wege des Mainstreams umhören möchte.
Der Rest der hier zu hörenden Werke aber zeichnet sich durch eine Herbheit, Nervosität und Trancehaftigkeit aus, die insbesondere auf der Folie der von Conway angedeuteten Entstehungsbedingungen eine besondere Prägnanz und Dringlichkeit erhält. Ähnlich wie im Fall von Bruckners neunter Symphonie scheint hier ein Komponist am Abgrund fieberhaft zu Werke zu gehen. Für diesen Peter Maxwell Davies legen sich die Musikerinnen und Musiker des Hebrides Ensembles nicht nur ins Zeug: sie atmen ihn förmlich und legen eine rundheraus grandiose Interpretation dieser Werke vor. Man mag hinsehen (oder hinhören), wohin man möchte, und kann doch immer wieder nur zu dem einen Ergebnis kommen. Sei es Gestaltung der gespenstisch-gewichtigen „Nocturnes“ für Klavierquartett, des sich in einem enormen Spannungsfeld von Lyrik und Dramatik bewegenden „Oboenquartett“, der zwischen Unerbittlichkeit und romantischster Tonsprache schwankenden „Sonate für Violine und Klavier“ oder dem Streichquartettsatz aus dem Jahre 2016, dem letzten Werk, an dem Peter Maxwell Davies arbeitete: das Hebrides Ensemble und die Musik von Peter Maxwell Davies sind in jeder Hinsicht füreinander gemacht. Ob man dereinst eine weitere Aufnahme dieser Werke braucht? Ich bezweifle es. ♦
The Last Island, Chamber Music by Peter Maxwell Davies, Hebrides Ensemble, Audio-CD, 76 Minuten, Delphian CD-Label
Der ungarische Schriftsteller und Photograph Péter Nádas zählt nicht nur zu den produktivsten und vielseitig diskutierten, sondern auch zu den häufigst geehrten Autoren der Gegenwart. Sein vorzugsweise erzählendes Werk sowohl in Kurzprosa- wie in Roman-Form ebenso wie sein bedeutendes essayistisches Schreiben kreist einerseits um den existentiellen Einzelnen in gesellschaftlich deformierenden Systemen – beispielsweise dem Kommunismus -, anderseits behandelt es die individuell tragisch erfahrene Gefährdung des Lebens durch Krankheit und Tod (beispielsweise in „Der eigene Tod“).
Stilistische Virtuosität und philosophische Reflexion
In einem umfangreichen Konvolut von beinahe 1’300 Seiten breitet Nadas nun unter dem Titel „Aufleuchtende Details“ in geradezu fulminanter, um nicht zu sagen: monströser Epik die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Verwerfungen praktisch des gesamten letzten Jahrhunderts aus. Offiziell nennen sich diese „Lebenserinnerungen“ Memoiren, doch wie sein schriftstellerisches Oeuvre sind sie durchdrungen von grossartiger stilistischer Virtuosität ebenso wie von philosophischer Reflexion.
Der ausdrücklichen Intention des Autors nach sind die „Aufleuchtenden Details“ jedenfalls zwar eindringlich narrativ, doch gleichzeitig gemeint als eine Abkehr von aller Fiktion und eine Hinwendung zur geradezu enzyklopädischen Aufarbeitung seiner persönlichen (ungarischen) Familiensaga in einem bewundernswerten Erinnerungs-Spiegel, der zwei Weltkriege und die grossen Umwälzungen der Moderne beinhaltet.
Abwendung von der Ich-Aufgeblasenheit der aktuellen Epoche
In der „ZEIT“ fasste die Literatur-Kolumnistin Iris Radisch, die mit Nadas ein Gespräch führte, diese Zielsetzung des Schriftstellers folgendermassen zusammen (Zitat):
[Es] „entstand der Wunsch, endlich auf das Fiktive zu verzichten und das schriftstellerische Ego zu eliminieren. Er sagt das mit seiner wunderbar bebenden Ruhe in dieser Vorbuchmessen-Stille: ‚Sich von der schriftstellerischen Eitelkeit zu befreien ist ein grosses Erlebnis.‘ Die Ich-Aufgeblasenheit der aktuellen Epoche, in der die Selbstverwirklichung von Millionen sogenannter Individuen der letzte verbliebene Lebenssinn ist, hält er für eine Verirrung. In seinen Memoiren wollte er herausfinden, ‚wie ich bin ohne mein Ich‘, wollte die Grundmauern des Bewusstseins erkunden, in denen sich die Vergangenheit in Form von Tatsachen abgelagert hat, ‚an denen man nicht rütteln kann‘.“ ♦
Zürcher Festspiel-Symposium 2016: Das Groteske und die Musik der Moderne
Mit Beiträgen der Musiktheoretiker und -historiker Cord-Friedrich Berghahn, Federico Celestini, Mark Delaere, Andreas Dorsch, Friedrich Geiger, Inga Mai Groote, Andreas Jacob und Michael Meyer rückt eine Essay-Sammlung des Zürcher Festspiel-Symposiums 2016 ein Phänomen in den Fokus, das seinen Ausgang anfangs des letzten Jahrhunderts, nach dem Zusammenbruch aller festen Gefüge durch den 1. Weltkrieg hatte und in DADA seine theoretisch wichtigste Ausprägung fand: das Groteske.
Groteske Musik im Werk von Mahler bis Walton
In acht Artikeln fasst der Band „Das Groteske und die Musik der Moderne“ die Erörterungen des Zürcher Fespiel-Symposiums 2016 zusammen, das sich anlässlich der 100-Jahr-Feier von DADA – diese internationale Bewegung hatte just in Zürich ihre Ursprünge – unter dem Titel „Zwischen Wahnsinn und Unsinn“ mit den Spuren des dadaistischen Grotesken in der Musik der Moderne-Exponenten Mahler, Schönberg, Satie, Strawinsky, Bartok, Walton, Strauss und Hindemith auseinandersetzte.
In seiner Einführung hält Herausgeber Laurenz Lütteken fest: „Eigenartigerweise ist das Groteske im Blick auf die Musik bisher noch nie systematisch untersucht worden, allenfalls für das Werk einzelnern Komponisten wie Mahler oder Schostakowitsch, besonders im Falle Schönbergs. […] Es war daher das Ziel des Festspiel-Symposiums 2016, dieses Musikalisch-Groteske näher in den Blick zu nehmen. Darin lag auch die eigentliche Verbindung zum Festspielthema „100 Jahre Dada“, denn die Dada-Bewegung ist ihrerseits ein Spiegel dieses Willens zur Groteske – wenn auch unter weitesgehender musikalischer Abstinenz“.
Ein Blick auf den Inhalt des Buches
…zeigt eine zwangsläufig äusserst breite thematische Fokussierung hinsichtlich sowohl der Komponisten-Persönlichkeiten wie der stilistischen Zuordnungen. Wobei die Problematik des Begriffs des Grotesken im Zusammenhang mit Kunstmusik überhaupt schon längst bewusst ist. Denn wie bereits in Barck/Fontius/Schlenstedt’s Band 2 der „Ästhetische Grundbegriffe“ konstatiert wird, sind Bezüge auf das Groteske in der Musik am seltensten, „was damit zusammenhängt, dass die visuelle Referenz für das Groteske eine Vorrangstellung einnimmt.“
Radikale Infragestellung ästhetischer Normen
Gleichwohl wird in der vorliegenden Essay-Sammlung eindrücklich dokumentiert, dass auch in der musikalischen Moderne bei erstaunlich vielen Schlüsselwerken dem Grotesken ein konstituierendes Moment zukommt, das weit über das Karikierende bzw. Persiflierende hinaus eine ästhetische Infragestellung herkömmlicher ästhetischer Normen darstellt und derart weit vorangetrieben wird, dass es zum vom Neoklassizismus nicht mehr assimilierbaren Begriff wurde und seine gewollt subversive Intention realisieren konnte.
Das Uneigentliche zum musikalischen Eigenwert erhoben
Um in diesem Zusammenhang nochmals Lütteken zu zitieren: „[In der Musik wurde das Groteske zur Möglichkeit], aus den Normen von kompositorischer Syntax und Semantik auszubrechen. Das 19. Jahrhundert selbst hielt diese Möglichkeit shcon bereit, bei Hector Berlioz etwa oder bei Robert Schumann, doch am Ende im Sinne einer dialektischen Verstrebung mit dem Eigentlichen. Diese Einheit ist jedoch mit der heraufziehenden Moderne zerbrochen. Das Groteske als das Verschobene, das Verzerrte, das Verfremdete und schliesslich das Uneigentliche sollte einen musikalischen Eigenwert beanspruchen, der kein Korrektiv mehr kannte, sondern selbst zum Korrektiv geworden war“.
Der vorliegenden Sammlung gebührt das Verdienst nicht nur einer neuerlichen, nachhaltigen Initialisierung breiten Diskutierens über die bisher unterschätzte Bedeutung des Grotesken in wesentlichen Musik-Moderne-Werken, sondern auch einer teils (im Rahmen von Fallstudien erstaunlich) tiefen analytischen Durchdringung zahlreicher konkreter Untersuchungen von Strawinsky’s „Sacre“ bis zu Strauss‘ „Schlagobers“. Der Band möge zahlreiche weitergehende Betrachtungen nach sich ziehen. ♦
Laurenz Lütteken (Hrsg.): Das Groteske und die Musik der Moderne (Zürcher Festspiel-Symposien, Band 8 / 2017), 162 Seiten, Bärenreiter Verlag, ISBN 978-3-761-82158-9
Kein prächtiger Kolonialstil, sondern nur ein schlichtes Gipfelkreuz vor karger, in Nebel gehüllter Anden-Berglandschaft, daneben ein Plateau mit einer bescheidenen Missionskirche – so präsentiert das Label Cobra Records die zum 50-jährigen Jubiläum der Misa Criolla erschienene und nun neu aufgelegte Aufnahme des Ensembles Mùsica Temprana diese Misa Criolla des 2010 verstorbenen argentinischen Komponisten Ariel Ramirez. Anklänge an die Anfänge der frühen Christianisierung des lateinamerikanischen Kontinentes im 16. Jahrhundert – unter Aussparung der wenig christlichen, blutigen und unrühmlichen Begleiterscheinungen der Conquista.
Regionales Instrumentarium des Orchesters
Die Kreolische Messe, deren Text auf einen 1963 von der Liturgischen Kommission für Lateinamerika genehmigten kastilischen Text zurückgeht, stellt eine geschickte Verknüpfung von Melodien des Komponisten und traditionellen hispano-amerikanischen, vor allem argentinischen Formen und folkloristischen Rhythmen dar. Dabei greift der Komponist im Orchester auf typisch regionale Instrumente zurück, wie etwa regionale Schlaginstrumente, die Charango (Gitarre), die Quena (Bauernflöte) und die Siku (bolivianische Panpfeife).
Abseits kolonialer Herrlichkeit
Um es gleich vorwegzunehmen: Diese Misa Criolla ist ein grosser Wurf und eine längst überfällige Interpretation abseits kolonialer Herrlichkeit, solistischem Belcanto und europäischer Orchesterpracht. Das Ensemble Mùsica Temprana präsentiert eine den dürren Hochebenen der Anden und der Weite der trockenen Pampa angemessene rauhe und doch leidenschaftliche Misa, die überdies mit einem Vokalduett – hier Adriàn Rodriguez Van der Spoel und Alvaro Pinto Lyon – aufwartet.
Das Ensemble Musica Temprana (Quelle: CD-Booklet „Misa Criolla“)
Die werkgetreue Aufnahme betont daher die ‘devocion popular‘, die absolute Hingabe des völkischen Gesangs und versteht sich als säkulare Brücke zwischen katholischer Tradition und ökumenisch-universaler Friedensbotschaft. Man höre nur das in dämmriger Demut verklingende „danos la paz“, das statt klerikalem Dogma unmittelbare Seelenlandschaft darstellt.
Lateinamerikanische Gesänge der Christianisierung
Diese Aufnahme von Ramirez‘ „Misa Criolla“ u.a. lateinamerikanisch-christlichen Gesängen ist eine authentische, überzeugende, weil werkgetreue Aufnahme – und eindrucksvolles Zeugnis populärer, folkloristischer Kultur Südamerikas in der Berührung mit christlich-europäischer Tradition. Eine Brücke zwischen den Welten.
Unentbehrlich wird die Aufnahme auch noch durch die passende Voranstellung lateinamerikanischer Gesänge vom 16. – 20. Jahrhundert, die zweifellos – das ist nicht zu verkennen – Inspiration für Ramirez‘ berühmtes ‚obra devota‘ war. Beginnend mit der instrumentalen, bolivianischen Apachita wird das Hören dieser CD zu einem historischen Gang durch die lateinamerikanischen Gesänge der Christianisierung – bis zum musikalischen Höhepunkt, der Misa Criolla. Dass Ramirez sein Werk ursprünglich zwei deutschen Mönchen gewidmet hat, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um Opfer des Nationalsozialismus zu retten, darf dabei sogar in den Hintergrund treten. ♦
Der im Januar 1719 gegründete und somit älteste Musikverlag der Welt Breitkopf & Härtel hat sich für sein bevorstehendes 300-Jahr-Jubiläum insbesondere für den Chorgesang – schon immer eine tragende, intensiv gepflegte Domäne dieses Verlages – ein ehrgeiziges Projekt vorgenommen. Denn in einer sog. Chorbibliothek will er auf schliesslich mehreren tausend Seiten mit geplanten zehn Bänden sein komplettes Chornoten-Angebot als eine Art Basisrepertoire des Genres neu auflegen. Dabei soll das originale Notenbild der einzelnen Werke beibehalten werden, „um die weiterhin lieferbaren Einzelausgaben parallel zu den Bänden nutzen zu können“.
Männerchor-Lieder des 19. Jahrhunderts
Die neue „Chorbibliothek“ für Männerchor aus dem Musikverlag Breitkopf & Härtel: Klick auf das Bild führt zu Leseproben
Der jüngste Band dieser 10-teiligen „Chorbibliothek“ ist der Männerchor-Literatur vorwiegend des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet. Die entsprechenden Komponisten der Romantik (als der Blütezeit des Männerchores) heissen also v.a. Franz Schubert, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Robert Schumann; das vergangene Jahrhundert ist (in wenigen Liedern) mit den „Spätromantikern“ Johann Nepomuk David, Jean Sibelius und Othmar Schoeck vertreten, während das aktuelle Männerchor-Schaffen nur gerade durch Siegfried Thiele (geb. 1934) marginal gestreift wird.
Insofern ist also der Titel der Ausgabe: „Chorbibliothek – Für Männerchor“ leicht irreführend und hätte das präzisierende Stichwort „Romantik“ gut vertragen. Im Sinne einer puren „Verlagschronik“ in Sachen Männerchor mag man diesen „Etikettenschwindel“ durchgehen lassen; dass hingegen dutzende bedeutender Männerchor-Komponisten der zweiten Hälfte im 20. Jahrhundert komplett ignoriert werden, macht den Band für heutige Männer-Gesangsvereine leider eher unattraktiv…
Schubert & Co. verstaubt?
Eine der Keimzellen genialer Männerchor-Literatur: Die legendären „Schubertiaden“ (Der Meister mit Brille am Klavier)
Es stellt sich überhaupt die Frage, wer sich diese Sammlung eigentlich zulegen soll. Zuallerletzt werden die Männerchöre selber (bzw. ihre Verantwortlichen) diese „Chorbibliothek für Männerchor“ kaufen! Denn die in ihrem Repertoire betont traditionell ausgerichteten Chöre haben alle diese zahllosen Trink-, Jagd-, Tanz-, Natur- und Liebeslieder von Schubert & Co. längst jahrzehntelang und tausendfach rauf- und runtergenudelt (und darob ihre Konzertsääle leerer und leerer erleben müssen), während die eher popmusikalisch oder gesangsperkussiv bzw. „crossover“ orientierten Chöre von diesem vorgeblich „verstaubten“ Liedgut ohnehin längst die Finger bzw. Kehlen lassen.
Der Männerchor im Sinkflug
Geniale Männerchor-Musik mit prophetischem Titel: Der Anfang von Schuberts „Im Gegenwärtigen Vergangenes“ für vier Männerstimmen und Klavier D710, nach Goethes „West-Östlicher Diwan“ (Quelle Chorpartitur: Breitkopf & Härtel Verlag)
Ein weiteres Handicap für diesen Band ist ein musiksoziologisches: Entgegen andererslautender Beteuerungen, ja Beschönigungen der traditionellen Chorverbände befindet sich der „organisierte“ (und in teils starren Vereinsstrukturen verhaftete) Gesang im Sinkflug – allen voran die Männergesangsvereine, die wegen grassierendem Mitgliederschwund mehr und mehr fusioniert oder gleich ganz aufgelöst werden müssen. Dem Männerchor sterben die Sänger weg, gerade auch in seinen Stammlanden Deutschland, Österreich und der Schweiz. Es mag noch ein paar Jahre dauern, aber der Zeitpunkt ist absehbar, da der traditionelle, einst so enorm verbreitete, in der Bevölkerung stark verwurzelte, nicht selten mit 100-köpfigen Mitgliedschaften auftrumpfende Männerchor als der Dinosaurier des Gesangs von der Bildfläche verschwinden wird.
Exkurs: Gehört die Zukunft dem projektbezogenen Singen?
Der Vereinsgesang überhaupt erlebt momentan eine schmerzliche Baisse, die nachstehende Statistik spricht da eine unmissverständliche Sprache. Wir sehen also das widersprüchliche Phänomen, dass einerseits in allen Ländern den grossen TV-Casting-Shows die sangesfreudige Jugend abertausendfach entgegenströmt, während die etablierten, organisierten Chorgemeinschaften aller Genres über mangelnden Zuwachs klagen.
Deutlich rückläufige Entwicklung der Anzahl Chormitglieder in Deutschland (Quelle: de.statista.com 2016)
Ein Hoch erleben demgegenüber alle gesangsmusikalischen Bestrebungen, die dezidiert als Projekte angelegt werden. Der zeitlich befristete, maximal ein paar Monate dauernde Aufwand im sog. Projektchor scheint dem modernen, ungebundenen Sing-Lifestyle des „Reinschnupperns und Weiterziehens“ so sehr zu entsprechen, dass diese Form des organisierten Gesangs das Nachwuchsproblem nicht kennt. Ebenso wenig wie übrigens der Kinderchor, dem allerdings in Schule und Freizeit ein gezieltes bildungspolitisches „Staats-Sponsoring“ widerfährt und schon deswegen eine stabile Entwicklung aufweist.
Sogar grosse, anspruchsvolle Klassik- oder Musical-Chor-Events auf Stadt und Land finden nach wie vor ihre ambitionierte und zahlreiche Sängerschaft. Einzige Voraussetzung: Befristetes Engagement…
Qualitätsvolles Kompendium des „klassischen“ Männerchorgesanges
Zurück zur „Chorbibliothek“ und abgesehen von pessimistischen Prognosen: Diese neue Lieder-Sammlung ist in ihrer musikalischen Substanz sehr wohl ein höchst qualitätsvolles Kompendium all jener Männer-Chormusik, die Jahrhunderte lang die melodische, harmonische und satztechnische Genialität und Dominanz der grossen Romantiker dokumentierte. Der 366 Seiten starke Konvolut ist als Konzentrat einer ganzen Sing-Epoche tatsächlich ein Basisrepertoire des Männerchors, auch hinsichtlich der Vielfalt der Kompositionsverfahren, Sprachbehandlung und Stilistik. Thematisch zudem sehr breit gefächert fasst er von Schuberts „Entfernten“ über Mendelssohns „Wer hat dich du schöner Wald“ bis hin Sibelius‘ „Finnlandia“-Hymne, vom dreistimmigen „Cherubinischen Wandersmann“ von David bis zurück zum vierstimmigen „Walzerlied“ von Lortzing, und vom simplen „Volkslied“ bis zum Bläser-begleiteten „Über allen Gipfeln ist Ruh“ eines Franz Liszt die ganze Faszination eines Genres zusammen, das musikalisch bleibende Schöpfungen von einzigartiger Ausdruckskraft generierte. ♦
Die okzidental-neuzeitliche Vorstellung, wonach „musikalische Kreation“ (= Komposition) auf dem Notenpapier stattfinde, läuft auf eine Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses hinaus. Der Begriff „Komposition“ liesse sich mit einigem Recht auch auf schriftlos konzipierte musikalische Abläufe anwenden. So ist in einer Darstellung der indischen Musik von „improvisierter Komposition“ die Rede und eine vokale oder instrumentale Improvisation, deren Ausführung mehrere Stunden dauern mag, wird als Komposition bezeichnet.
„Fortschritt und zugleich Zwangsjacke“: Die abendländische Musik-Notation
Die in Indien entwickelte Notation ist zwar als Mittel der Erinnerung geeignet, doch hat sie sich nicht zu einer vollständigen Darstellung entwickelt. Voraussetzung für das notenschriftliche Denken, wie es sich im Okzident etabliert hat, ist die Rationalisierung und Standardisierung des Tonsystems. Dieser Gedanke lag schon den Überlegungen Max Webers zugrunde, der in der Rationalisierung des Tonsystems und der ihm entsprechenden Rationalisierung der Notenschrift ein spezifisches Merkmal der abendländischen Musik erblickte. Die neuere Soziologie der „musikalischen Sprachen“ greift diese Idee wieder auf – wenngleich ohne Berufung auf Max Weber, jedoch gestützt auf die Befunde der Ethnomusikologie. Die abendländische Notation wird in ihrem Doppelcharakter erkannt: als „Fortschritt“ und zugleich als „Zwangsjacke“. Die Notation stellt sich danach als eine Art von historischem Filter dar, der eine Auswahl bewerkstelligt zwischen den Elementen, die als musikalisch bedeutsam notiert werden, und jenen, die nur unangemessen oder gar nicht notiert werden können und die nur „sekundäre Bedeutung für die Wahrnehmung von Musik“ haben.
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Wir müssen uns also Rechenschaft darüber ablegen, dass die in unserem Tonsystem und unserer Notation enthaltenen Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks in mancher Hinsicht geringer sind als das expressive Potential von Musikkulturen, die den Zwang solcher Systeme nicht kennen. Der Verlauf eines Prozesses der Akkulturation unter westlichem Einfluss kann also in dieser Hinsicht keineswegs als „Fortschritt“ bezeichnet werden, sondern eher als Verarmung. ♦