Mathias Ninck: Mordslügen (Roman)

Gutes Handwerk – mit Luft nach oben

von Bernd Giehl

„Medien“ können heutzutage fast alles. Sie können eine 16-jährige Schülerin, die freitags vor ihrer Schule sass und für das Klima „streikte“, zu einem Star machen, den jeder in Europa kennt, und deren Nachnamen nicht einmal genannt werden muss („Greta“). Und umgekehrt können sie mächtige Männer wie den Filmproduzenten Harvey Weinstein oder Regisseure wie Woody Allen ins Nichts oder gar ins Gefängnis schicken (#MeToo).

Mathias Ninck - Mordslügen - Roman-Krimi-Literatur - Cover - Glarean MagazinAber natürlich sind das nicht mehr dieselben Medien, die wir Älteren noch aus unseren frühen Zeiten kennen, also Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen; das Internet ist hinzugekommen – und mit ihm das, was wir heute „soziale Medien“ nennen. Alles ist mittlerweile miteinander „vernetzt“. Grenzen, die es früher einmal gab, existieren nicht mehr. Auch jene Menschen, die früher keinen Einfluss hatten, sondern sich allenfalls per Leserbrief äussern konnten, vermögen heutzutage eine Lawine loszutreten, können sich Gehör verschaffen und notfalls sogar eine Kanzlerin stürzen. Sie müssen nur laut genug brüllen und genug andere finden, die mitbrüllen.

„Das wahre Leben“

Man kann das gut finden. Man kann sagen, endlich kämen auch jene zu Wort, die früher nur ohnmächtig die Faust in der Tasche ballen konnten. Man kann aber auch argumentieren, die Medien, die eigentlich nur den Auftrag hatten, über das zu berichten, was gerade passiert, würden nun selbst aktiv eingreifen und das Geschehen mit beeinflussen. Was stimmt? Vermutlich beides.

Mathias Ninck - Schriftsteller - Glarean Magazin
Debüt-Romanautor Mathias Ninck

Der Roman-Krimi „Mordslügen“ von Mathias Ninck beschäftigt sich mit dieser Welt. Seine Hauptfigur Simon Busche steckt da mitten drin. Busche ist ein sympathischer Mensch, Reporter bei einem halbseidenen Internet-Magazin mit dem Titel „Das wahre Leben“, zuständig für die „weichen Themen“ – was bedeutet, über weltbewegende Geschichten zu schreiben wie z.B. über einen Lehrling, der beim Pinkeln aus dem Bus fällt. Hauptsache, die Story generiert Klicks.
Busche könnte sich ein anderes Leben vorstellen, aber er ist mittlerweile 42, davon 17 Jahre beim „Wahren Leben“. In einem Facebook-Eintrag eines pensionierten Kollegen hat er den Satz gelesen, ein Journalist brauche „eine Haltung“; den Facebook-Eintrag hat er mit „Gefällt mir“ bewertet. Aber er weiss auch, dass es bei seinem Arbeitgeber auf vieles ankommt, aber ganz bestimmt nicht auf Haltung. Diese muss man sich erst einmal leisten können. Schliesslich muss jeder Miete zahlen, sich ein Essen kochen und abends einmal in die Kneipe gehen und ein Bier trinken können.

Drei Morde gestanden, aber nicht begangen?

Dies alles kann sich aber von einem Moment auf den anderen ändern, wie schon der alte Heraklit wusste. Busche wird von der Psychiaterin Olivia Pfeiffer kontaktiert, die behauptet, dass eine Frau namens Sandra Dubach seit 25 Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt, weil sie drei Morde gestanden, aber nicht begangen habe. Die Psychiaterin glaubt den wahren Mörder zu kennen. Er sei einer ihrer Patienten, ein Manuel Schindler (genannt Manu), der gewalttätig sei, schon mehrere Male vor Gericht gestanden habe, dessen Freundin sich gerade von ihm getrennt habe, und der ihr nun von seinen Mordphantasien erzählte.
Zwei Tage später wird die Leiche einer Frau vor dem Haus gefunden, in dem Manus Ex-Freundin wohnt. Es handelt sich zwar nicht um die Ex-Freundin, aber dennoch ist die Psychiaterin davon überzeugt, dass ihr Patient den Mord begangen hat. Schliesslich ist er schon einmal verdächtigt worden, seine Freundin getötet zu haben. Damals war er 14 Jahre alt gewesen und hatte mithilfe seines Vaters für lange Zeit nach Südamerika verschwinden können. 12 Jahre später taucht er mit neuem Namen wieder in der Stadt auf und begibt sich in Olivia Pfeiffers Behandlung.
Die Psychiaterin hat Zweifel, ob sie mit ihrem Verdacht zur Polizei gehen soll. Es gibt schliesslich das Arztgeheimnis, und obendrein könnte sie das nächste Opfer des vermutlichen Mörders werden. Schliesslich gibt sie der Polizei verdeckt einen Tipp, und Manu landet auf der Liste der Verdächtigen. Aber dann, als Sandra Dubach die drei Morde gesteht, verschwindet er wieder von dieser Liste…

Das Imperium schlägt zurück

Viele Jahre später stürzt Olivia Pfeiffer in einen Gully, hat Todesangst, wird gerettet; Simon Busche schreibt einen Bericht im „Wahren Leben“ über den Unfall, so dramatisch wie sonst nur die „Bildzeitung“ das kann – inklusive Ratten, die schon an ihr nagen -, und so kommt die Handlung in Schwung. Busche übernimmt (nach anfänglichen Zweifeln) die Recherche, besucht Sandra Dubach im Hochsicherheitstrakt, nimmt sich eine Auszeit vom „Wahren Leben“ und ist schliesslich davon überzeugt, dass Dubachs Geständnis tatsächlich falsch ist.
Dubach ist Borderliner; sie fühlte sich in der Gesellschaft anderer nicht wohl; im Gefängnis, das sie schon von früheren Aufenthalten kannte, hatte sie ihre Ruhe. Sie hat einen Zerstörungstrieb in sich, mit dem sie nur schwer umgehen kann. Jedenfalls passt für Busche alles zusammen: Dubach hat die Morde nicht begangen, für die sie seit zwanzig Jahren sitzt.
Busche kann zwar seine Geschichte am Ende nicht im „Wahren Leben“ veröffentlichen, aber es gibt ja noch die Zeitungen auf Papier, in seinem Falle die „Neue Tageszeitung“. Diese veröffentlicht Busches Artikel, danach ist Busche für ein paar Tage berühmt – bis das Imperium zurückschlägt…

Handwerklich einwandfrei, aber…

Die Handlung ist gut erzählt. Matthias Ninck versteht sein Handwerk. Dennoch haben sich mir beim Lesen ein paar Zweifel im Kopf festgesetzt. Dass eine dreifache Mörderin im Hochsicherheitstrakt einsitzt, isoliert von allen anderen Gefangenen, leuchtet nicht ein. Vielleicht liegt es daran, dass ich als Deutscher beim Thema Hochsicherheitstrakt an Stuttgart-Stammheim denke und an die RAF-Mitglieder Baader, Raspe und Ensslin, die nach der Entführung und Befreiung der Lufthansa Maschine in Mogadischu 1977 in einer Nacht gemeinsam Selbstmord begingen, obwohl sie doch – zumindest offiziell – keinen Kontakt zueinander aufnehmen konnten. (Oder die vielleicht auch ermordet wurden, was aber bis heute nicht geklärt ist). Also, bei allem Respekt: das waren andere Kaliber.
Und dann wäre da auch noch der Titel: „Mordslügen“. Eine Headline, wie sie die „Bildzeitung“ nicht besser erfinden könnte. In Verbindung mit dem Thema Medien denkt man gleich an die AFD und ihre Pauschalbehauptung von der „Lügenpresse“, mit der all jene gemeint sind, die sich kritisch über die AFD und die Rechten äussern.

… am Grundthema vorbei

Weiter: Das Thema, wie wir alle von den Medien manipuliert werden, weil etwas künstlich aufgeblasen wird und alle Welt darüber in eine Riesenerregung verfällt, das wird im Buch nicht aufgenommen. Als Beispiel sei Friedrich Merz genannt, bis 2002 Vorsitzender der CDU-Fraktion im Bundestag, der damals von Angela Merkel abgesägt wurde und im letzten Jahr Parteivorsitzender der CDU werden wollte, aber gegen Annegret Kramp-Karrenbauer unterlag, und der neulich von den „Nebelbänken“ sprach, die die Kanzlerin erzeuge und von der „grottenschlechten“ Arbeit der Regierung. Und dann wird dieser völlig überzogene Kommentar eines Privatmanns, der selbst gern Kanzler werden würde, nicht etwa unter der Rubrik „Vermischtes“ vermeldet, sondern er wird in allen Talkshows der Republik diskutiert. Wundert es jemanden, dass hernach die Hälfte der Bevölkerung davon überzeugt ist, dass die Arbeit der Regierung „grottenschlecht“ ist?

Das ist der eigentliche Skandal. Zeitungen und Fernsehen eifern den „sozialen Medien“ nach, erzeugen Riesenwellen, und wenn die Aufregung immer grösser wird, fragen sie, wer daran schuld sei.
Womöglich ist es ungerecht, von einem Autor zu erwarten, der doch nur einen Krimi aus dem Bereich des Internetjournalismus schreiben wollte, dass er das Thema in dieser Dimension bearbeite. Das ist, zugegeben, schon ziemlich anspruchsvoll. Aber wenn man die Welle reiten will und dann die Erwartungen, die man geweckt hat, nicht bedienen kann, muss man sich eine solche Kritik gefallen lassen. ♦

Mathias Ninck: Mordslügen – Roman, 232 Seiten, Edition 8 Verlag, ISBN 978-3859903814

Lesen Sie zum Thema Krimi auch über Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)

… sowie über den neuen Thriller von Jean-Christophe Grangé: Die Fesseln des Bösen

Anton „ViscaBarca“ Rinas: Realtalk (Rezension)

Psycho-Striptease eines Gaming-Influencers

von Heiner Brückner

Der YouTube-Fame als greller Schein. Ist das Kunst oder ehrgeizige Individualinszenierung? Nein, es ist für den einen oder anderen tragische Realität. Aber diese Offenbarung, die „ViscaBarca“ zum eigenen Whistleblower macht oder zum Seelenstripper, wie Anton Rinas selbst sagt, ist heilsam – für ihn selbst, und hoffentlich für viele Follower.
Sicherlich ist mit Kulturarbeit und Kunst kein Staat zu machen, aber es handelt sich dabei um konkretes Leben und nicht um eine virtuelle Scheinwelt, selbst wenn sie Visionäres und Fantastisches projiziert und prolongiert.

Viscabarca - Anton Rinas - Realtalk - Mein Leben als Influencer - Cover - Rezension Glarean MagazinAnton Rinas alias ViscaBarca konnte sich den Lebenstraum vieler junger Menschen erfüllen. „Als erfolgreicher YouTuber und Social Medias Performer begeistert er über eine Million Abonnenten, verdient mit 17 bereits fünfstellige Summen im Monat“, kündigt der Verlag das Werk über „Trug, Schein und Schulden“ eines Gamers an. Dann kam der Absturz des digitalen Modephänomens als Influencer. Ich lese die Bekennergeschichte mehr als diagonal, weil mich das Thema reizt, weil ich den Herkunftsort des Autors kenne, und weil ich auf die Verlockungen der Verlagsanpreisung hereingefallen bin. Bin ich der Influenz erlegen? Noch will ich mich erwehren durch das Lesen der veröffentlichten Fakten.

Wer füttert den Beeinflusser?

Fussball-Fans FC Barcelona - Glarean Magazin
„Es lebe Barca, die tolle spanische Fussballmannschaft“: Das Massen-Game als Social-Multiplikator

Wer füttert den Beeinflusser, von wem lässt er sich beeinflussen? Wen hat er im Visier, auf wen oder was zielt er ab? Das sind Hintergrundfragen, die entscheidend sind, weil sie den Schein hinter allem aufdecken. Freimütig zählt Rinas seine Fake-Accounts genauso auf wie seine millionenfachen Likes. Sein Aka-Name ViscaBarca ist Programm und eigentliche Lebenssehnsucht, die er sich wegen körperlichen Handicaps nicht mehr erfüllen kann: Es lebe Barca, die tolle spanische Fussballmannschaft.
Wessen entledigt er sich also bei seinem öffentlich gemachten Höllentrip durch eine Influencer-Biografie unter dem Titel „Realtalk“?

Down To Earth und Back To Life

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Das erste Kapitel fasst zusammen, wie der Offenbarungseid in ein 15-minütiges Realtalk-Video als „Balsam für meine Seele“ gepackt werden sollte. Das letzte schilderte, wie er nach dem Absturz wieder „down to earth“ kommen konnte. Dazwischen wird die Chronologie seines Auf- und Abstiegs ausgebreitet: die chaotischen Zustände in Familie, Erfolg und Misserfolg in Gaming-WGs, und wie die geliebte Schwester und ihr Mann, sein Schwager, ihn finanziell bis in den Ruin auspumpen. Dreimal stellt er eine Liste der Ausgaben von 4000 bis auf 205’000 Euro Schulden auf. Nach dem Absturz findet er in München „mit Disziplin und Fleiss“ wieder „back to life“, wird wegen des „Schwester-Videos“ als „InzestBarca“ beschimpft und erleidet wirtschaftlich den nächsten Rückschlag wegen einer undurchsichtigen Steuerberaterin.

Den „ganzen Scheiss“ hinausgekotzt

Viscabarca - Anton Rinas - Ich durfte beim Barca-Spiel auf dem Rasen stehen - Glarean Magazin
„Ich durfte beim Barca-Spiel auf dem Rasen stehen“: FC-Barcelona-Fan Viscabarca alias Anton Rinas

Reden wir Klartext („Realtalk“) und nicht lange um die 271 Seiten herum, so wie es das Elaborat auch tut: verzweifelter Seelenstrip, Digga, literarisch bescheiden, moralisch als abschreckendes Exempel einsetzbar, aus der katastrophalen finanziellen Notlage geboren.
ViscaBarca lamentiert in seinem Schriftstück nicht gefühlsduselig, will auch nicht „rumheulen“, er kotzt den „ganzen Scheiss“ offensichtlich ungeschminkt heraus. Der seelische Auswurf ist ein notgedrungenes, eigentlich nicht druckreifes Drauflos-Quasseln in der lässigen YouTube-Sprechweise bzw. Social Medias Plattformen. Häufige Wiederholungen, teils Widersprüche, chaotisches Hin- und Her-Springen entlarven die ganze Summe der Entscheidungsflexibilität eines unschlüssigen jungen Mannes, der am Ende seiner eigenen Hilfswerk-Biografie zu einem allgemein hinreichend bekannten Fazit gelangt. Nämlich, dass sein süchtiger Spielkonsum nur eine Flucht vor der eigenen Leere gewesen sei.

Nie wieder Fake Shit

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Rinas ringt sich zum Einsichtsvorsatz durch: „… ich würde nie wieder fake shit machen, um etwas vorzuleben, das nichts mit mir und meinem Herzen zu tun hat.“ Und er hat Ratschläge parat: „Lass dich nicht von anderen abhalten, deine Träume zu verwirklichen. […] Das Leben wird noch hart genug, auch wenn wir nicht aufeinander rumhacken.“
Genusslesen war das nicht, weder inhaltlich noch sprachlich (z. B. „Ich kam nicht mehr auf mein Leben klar!“ – „Auf die Situation kam ich echt nicht klar.“) noch vom Erkenntnisgewinn her betrachtet. Abschreckend ist wohl der einzige positive Aspekt an diesem „Teil“ (Zitat Rinas), das ohne die mitschreibende Hilfe seines Bekannten Josip Radovic „niemals so cool“ geworden wäre.

An erster Stelle dankt er den Zuschauern und YouTube-Kollegen für ihre Treue. Nach Mitleid heischt er nicht, der Leser muss nicht in wehleidiges Mitklagen verfallen. Vielmehr darf er sich über die schnelle Vergesslichkeit der YouTube-Follower beim Neubeginn des Influencers wundern. Es ist frappierend, was da abging und worauf man leicht hereinfallen kann.
Kurzum: „Realtalk“ ist die öffentlich gemachte private Bekennerstory des Influencers Anton Rina aka ViscaBarca in 22 Kapiteln über einen ganz persönlichen Psychoterror als Gaming-Zocker mit Computerspielen in flapsigem YouTube-Speech. ♦

Anton Rinas „ViscaBarca“: Realtalk – Trug, Schein und Schulden / Mein Leben als Influencer, 272 Seiten, Community Editions, ISBN 978-3960961055

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Digitale Welt 2.0 auch das „Zitat der Woche“ von
Felix Stalder: Kultur der Digitalität

ausserdem zum Thema Sprachzerfall den Essay von
Mario Andreotti: Wie Jugendliche heute schreiben.

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Ausstellungs-Katalog „Schach und Religion“ (Ebersberg)

Geistesgeschichtlicher Blick auf das Schachspiel

von Thomas Binder

An wenigen Tagen im August 2019 fand im Rathaus des oberbayrischen Ebersberg eine Ausstellung unter dem Titel „Schach und Religion“ statt. Trotz Erwähnung auf gemeinhin einflussreichen Homepages hat sie in der klassischen Schach-Öffentlichkeit nur wenig Widerhall gefunden. Nun hat die ausrichtende Schach- und Kulturstiftung ein Begleitbuch zu dieser Schau herausgebracht, das weit über einen Ausstellungskatalog hinaus geht.
Katalogcharakter im herkömmlichen Sinne haben nur die letzten knapp 40 Seiten, auf denen die ausgestellten Exponate (vorwiegend Gemälde und Figurensätze) abgebildet werden. Für diejenigen Werke, die im Textteil des Buches nicht näher besprochen werden, sind die Informationen in diesem Abschnitt leider etwas knapp.

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Cover - Glarean MagazinKommen wir also zum gut 100 Seiten langen Textteil. Hier werden wir nicht etwa auf theologische Abhandlungen stossen, sondern erfahren unter dem Obertitel „Schach und Religion“ viel Interessantes aus der Geschichte unseres Spiels. Der religiöse Aspekt dient dabei mal mehr, mal weniger als Leitfaden, wird aber oft genug verlassen, und der Blick reicht deutlich weiter.
Wer sich fragt, was denn wohl Schach und Religion miteinander zu tun haben, dem sei aus der Einleitung zu einem Beitrag des früheren DSB-Präsidenten Herbert Bastian zitiert: Er bezeichnet Schach und Religion als „… zwei Kulturfaktoren mit weltumspannender Bedeutung […] Beide geben ihren Anhängern Halt und etwas Familiäres.“

Leseprobe

Schach und Religion - Kulturstiftung GHS - Ausstellungs-Katalog - Leseprobe - Glarean Magazin
„Schach und Religion“ der Kulturstiftung GHS: Leseprobe aus dem gleichnamigen Ausstellungs-Katalog (Ebersberg 2019)

Autoren mit wissenschaftlichem Anspruch

Den Leser erwarten insgesamt acht Artikel von unterschiedlichem Umfang, denen freilich gemein ist, dass sie von sachkundigen Autoren mit durchaus wissenschaftlichem Anspruch geschrieben wurden. Das mag es dem Leser, der in die Materie gerade erst eintauchen will, hier und da etwas schwer machen. Angesichts der thematischen Vielfalt wird aber wohl jeder historisch interessierte Schachfreund Erkenntnisse und Denkanstösse mitnehmen.

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Der Salzburger Kulturhistoriker Rainer Buland hat mit „Schach – Spiel – Religion“ den Leitartikel (oder neudeutsch: die Keynote) geschrieben. Er gliedert seine Arbeit in fünf Ebenen. Zunächst widmet er sich der Figur des Läufers, der ja in manchen Sprachen eigentlich ein Bischof ist. Dann verweist er darauf, dass viele Theologen dem Schachspiel zugetan waren, es dabei aber im grösseren Zusammenhang als Allegorie verstanden und in ihre Lehre einbanden. Dann geht Buland darauf ein, dass das Spiel durchaus zeitweise als Laster angesehen und gegen solche Vorwürfe verteidigt werden musste. Einen grossen Umfang nehmen die sehr interessanten Untersuchungen zu der Radierung „Die Schachspieler“ von Moritz Retzsch (1779 – 1857) ein. Schliesslich stellt sich der Autor noch der Frage, ob man das Schachspiel selbst als Religion verstehen kann.

Profunde Artikel für Laien und Experten

Herbert Bastian - Schach-Funktionär Buchautor - Glarean Magazin
Verbandsfunktionär, Internationaler Meister, Schachhistoriker: Herbert Bastian

Im zweiten umfangreichen Beitrag beleuchtet Herbert Bastian das Verhältnis von Schach und Religion an Beispielen von den ersten Erwähnungen an bis zur Gegenwart. Bastian ist als profunder Kenner der Kulturgeschichte des Schachspiels nicht zuletzt durch eine umfangreiche Artikelserie in der Zeitschrift „Rochade Europa“ ausgewiesen. Daher an eine breite Leserschaft gewohnt, ist sein Text für den interessierten Laien sogar etwas einfacher nachzuvollziehen, als die doch sehr wissenschaftlichen Ausführungen bei Rainer Buland – gut, dass wir in diesem Katalog beide Herangehensweisen finden.
Den dritten, sehr umfangreichen Artikel verfasste der Altphilologe Wilfried Stroh. Er bietet eine Neuübersetzung (aus dem Lateinischen) sowie eine ausführliche Interpretation der „Schachode“ des Jesuiten und Dichters Jacob Balde (1604 – 1668). Wenn im Vorwort von einem „berühmten Gedicht“ gesprochen wird, verdeutlicht dies die angesprochene Zielgruppe. Als sehr wohl schachhistorisch belesener Interessent, waren mir diese Ode und ihr Autor – Asche auf mein Haupt – bislang völlig unbekannt und selbst der Wikipedia-Eintrag über Balde erwähnt die Schachode mit keinem Wort. Spätestens jetzt ahnt man also, dass die Neuübersetzung und Interpretation dem kritischen Blick der Fachwissenschaft Stand halten wird, ja wohl richtungsweisenden Charakter einer Neubewertung hat. Dementsprechend anspruchsvoll ist für literaturwissenschaftliche Laien allerdings auch die Lektüre des 20 Seiten umfassenden Artikels.

Schachmatt - Geistliche Würdenträger beim Schachspielen - Holzstich von Thure Cederström 1880 - Glarean Magazin
„Schachmatt“ nach einem Holzstich von Thure Cederström 1880: Geistliche Würdenträger beim Schachspielen

Luther und Augustinus beim Schachspielen

Eingebettet in diese drei „grossen Brocken“ finden wir fünf kürzere und in all ihrer Unterschiedlichkeit anregende Texte.
Lokalkolorit zum Ort der Ausstellung steuert Georg Schweiger (Vorstand der ausrichtenden Stiftung) mit dem Artikel über die Schachfiguren der Falkensteiner Grafen bei. Bis ins 12. Jahrhundert lässt sich nachweisen, welche Bedeutung das Spiel in dieser Herrscherfamilie und darüber hinaus für Adel und – als Bezug zum Titel der Ausstellung – für den Klerus hatte. In seinem zweiten Beitrag erläutert Schweiger, warum die Heilige Teresa von Avila (1515 – 1582) die Patronin der Schachspieler ist. Auch hier ist Ihr Rezensent peinlich berührt von einer bisherigen Wissenslücke, hatte ich doch bisher nur Caissa gekannt.

Glarean Magazin - Muster-Inserat - Banner 250x176Mit zwei kurzen Beiträgen ist der Historiker sowie engagierte Schachspieler und -organisator Konrad Reiss vertreten. Reiss dürfte einer grösseren Öffentlichkeit vor allem als Leiter des Schachmuseums in Löberitz bekannt sein. Die beiden Artikel verbinden Schach und Religion in kongenialer Weise mit Reiss‘ mitteldeutscher Heimat. Er stellt uns die Schachallegorie im Dom zu Naumburg vor: Zwei schachspielende Affen an einem Pfeilersims laden zu jeder Art von Interpretation ein. Seinen zweiten Beitrag widmet Reiss der Legende über eine Schachpartie Martin Luthers gegen eine Gruppe von als Bergleute verkleideten Studenten.
Noch weiter zurück führt uns die Kuratorin der Ausstellung Natascha Niemeyer-Wasserer mit ihrem kurzen Exkurs über ein Gemälde von Nicolo di Pietro vom Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, das den Heiligen Augustinus beim Schachspiel zeigt.

Vielfältiger Blick auf die Schachgeschichte

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Ich hoffe, diese kurze Inhaltsübersicht konnte die Neugier der Leser wecken, sich näher mit den Beiträgen dieses Begleitbuchs zur Ausstellung „Schach und Religion“ zu beschäftigen. Den nicht ganz geringen Preis rechtfertigen neben dem Inhalt der Arbeiten auch die zahlreichen Abbildungen und die insgesamt hochwertig anmutende Gestaltung.
Fazit: Weit über einen Ausstellungskatalog hinaus gehend, bietet das Buch vielfältige Blicke auf die europäische Schach-Frühgeschichte. Die Bezüge zur Religion sind dabei Richtschnur, schränken aber die Vielfalt der Betrachtungen nicht ein. Auch wer sich schon intensiver mit der Historie des königlichen Spiels beschäftigt hat, wird viele neue Erkenntnisse gewinnen, muss sich freilich an einigen Stellen auf das sprachliche Niveau einer wissenschaftlichen Arbeit einstellen. ♦

Schach und Religion – Katalog zur Ausstellung in Ebersberg, Schach- und Kulturstiftung G.H.S., 144 Seiten, ISBN 978-3-00-063173-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachgeschichte auch über
Gerhard Josten: Auf der SeidenStrasse zur Quelle des Schachs

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Musik-Kalender 2020 – „Beethoven und ich“

53 Bekenntnisse zu Beethoven

von Walter Eigenmann

Im kommenden Jahr 2020 begeht die Musikwelt einmal mehr ein Jubiläum der Superlative, nämlich das 250. Geburtsjahr von Ludwig van Beethoven. Die Musikforscher werden sich überschlagen mit neuen Analysen der Werke des „Titanen“, die Labels werden ihre alt-verstaubten Gesamtaufnahmen seiner Sonaten und Sinfonien aus ihren Vinyl-Gräbern schaufeln, die Mono- und Biographen zum x-sten Male die Entstehungsgeschichte von „Für Elise“ aufkochen, die Merchandise-Industrie ihre T-Shirts mit „Ode an die Freude“ oder „Eroica“ drauf in die Kleiderläden bugsieren, und es wunderte nicht, wenn auch die Film-Regisseure den einen oder anderen neuen Beethoven-Streifen ins Kino hievten.

Der Musik-Kalender 2020 - Beethoven und ich - Cover - Glarean MagazinKein Zweifel besteht jedenfalls darüber, dass die Konzertsäle bald weltweit überquellen werden vor lauter Beethoven. Denn für den Kult um solche ausholenden, extrem dominanten Jahrhundert-Genies wie Beethoven ist unsere 2.0-Welt wie geschaffen. Ob heutzutage derartige Jubiläen einer solch singulären Erscheinung wie Beethoven allerdings auch nur ansatzweise gerecht werden können, oder ob’s bei den üblichen pietätvollen Häppchen in den Social Medias bleibt, muss je am Einzelergebnis solcher „Erinnerungsarbeit“ festgemacht werden. Immerhin sind allenthalben regelrechte Monster-Zyklen angekündigt im Beethoven-Jahr 2020, wie beispielsweise bei der deutschen Beethoven-Jubiläums-GmbH (BTHVN 2020).

Zitaten-Schatz der Zeitgenossen

Eine Möglichkeit, zumindest skizzenhaft den Einfluss Beethovens seinerzeit und heute zu umreissen, ist jene, die der Verlag „Edition-Momente“ beschritt mit seinem neuen Musik-Kalender 2020 unter dem Titel „Beethoven und ich“, nämlich jene Leute zu Worte kommen zu lassen, die professionell und unvermittelt mit dem Menschen Beethoven und seinem Werk befasst waren oder sind: Seine (komponierenden oder interpretierenden) Zeitgenossen, seine heutigen Realisierenden in den Orchestern und Kammerensembles, kurzum jene Musik-Verständigen, die an ihm in den Konzertsälen, Plattenstudios und Bücherstuben unmöglich vorbeikamen und noch immer nicht vorbeikommen.

Hymnen und Erinnerungen im Wochentakt

Probeseite aus Musik-Kalender 2020 - Beethoven und ich - Edition Momente - Glarean Magazin
Probeseite aus dem „Musik-Kalender 2020“ mit einem Statement von Luigi Nono

Beginnend mit dem ersten Januar-Blatt und dem legendären Beethoven-Konzert, das der Pianist Arturo Benedetti Michelangeli 1942 in Rom gab, bis hin zur letzten Dezember-Woche bzw. zum Zitat des Cellisten Pablo Casals, das Beethovens 9. Sinfonie als „Wunder“ verherrlicht, bindet der Kalender auf 53 Wochenblättern einen eindrucksvollen Strauss von Erinnerungen, Gesprächen, Bekenntnissen, Zitaten, Bildern, Fotos, Zeichnungen, Notizen und Anekdoten von Claudio Arrau und Leonard Bernstein oder Johannes Brahms über Sergiu Celibidache oder Clara Haskil bis hin zu Gustav Mahler, Gioacchino Rossini oder Günter Wand.

Ob Komponisten oder Dirigenten oder Instrumentalisten – sie alle zollen einem ganz grossen der menschlichen Kulturgeschichte ihren Respekt, und nicht immer ist endgültig klar, ob die Verehrung einem Künstler oder nicht doch eher einem Gott gilt… Womit wir wieder glücklich im Musik-Olymp und bei den Podesten gelandet sind, auf die solche Exemplarischen halt – erst recht aus so grosser Zeitdistanz – immer noch gerne gestellt werden.

Beeindruckendes Puzzle über einen Giganten

Ungeachtet aller Glorifizierung verdichtet diese facettenreiche Kalender-Sammlung aber durchaus zahlreiche Puzzle-Stücke zu einer eindrücklichen Gesamtschau, die sich dem Menschen Beethoven und seinem Werk unterhaltsam, reichhaltig, vielseitig, ja schillernd, und teilweise beeindruckend nähert.

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Der Kalender kommt layouterisch sehr ästhetisch daher, mit intelligent ausgewählten Bezügen, seien diese direkt-musikalischer oder „nur“ biographischer Natur, und mit sehr ansprechendem, teils unbekanntem Bild-Material. ausserdem fällt verdienstvoll ins Auge: Die 60-blättrige Anthologie versammelt nicht nur männliche Beethoven-Adepten, sondern auch zahlreiche Frauen mit ihren bedeutungsvollsten Beiträgen, musikalischen Bezügen, und ja: menschlichen Beziehungen über und zu Beethoven. Namentlich seien nur Fanny Hensel (Komponistin), Jenny Lind (Sopranistin) oder Myra Hess (Pianistin) hervorgehoben.

Informativer und ästhetischer Tour d’Horizon

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Ein jeder der Kalender-Tage 2020 ist über den je ganzseitigen Fokus hinaus mit den entspr. Geburts- bzw. Todeszahlen von hunderten weiterer Musik-Berühmtheiten aus vergangener und jüngster Zeit garniert.
Alles in allem ein Musik-Kalender, der weniger als hübscher Memory-Wandschmuck taugen will denn als ästhetischer und informativer Tour d’Horizon über einen Komponisten, der Musikgeschichte geschrieben hat wie kein zweiter – und seit 250 Jahren ausstrahlt bis in unsere Tage hinein. ♦

Edition Momente: Der Musik-Kalender 2020 – Beethoven und ich, 60 Blätter, ISBN 978-3-0360-3020-3

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema auch über
Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille – Beethovens Sinfonien

… sowie als grafische Ehrerbietung den neuen künstlerischen Scherenschnitt von Simone Frieling: Ludwig van Beethoven

Weitere Beiträge über Beethoven im Internet:

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Lothar Becker: Das Erzgebirge, die Stasi und ich (Satire)

Das Erzgebirge, der Wald, die Stasi und ich

Lothar Becker

Ich war ein Idiot. Und was für einer! Im Oktober 89 habe ich angefangen, für die Stasi zu arbeiten. Im Oktober 89. Wie kann man nur so blöd sein, werdet ihr fragen. Im Oktober 89 ist doch mit der DDR schon alles vorbei gewesen. Ich weiss, ich weiss. Rückblickend bin ich ja derselben Ansicht.
Aber ich schwöre, damals habe ich nichts geahnt. Wirklich. Ich dachte, das geht immer so weiter mit der Zone und mit den Ostmächten und mit den Westmächten und mit dem Eisernen Vorhang und alledem. Die Betonköpfe sind nicht reformierbar, habe ich gedacht. Die kleben an ihrer Macht. An den Verhältnissen wird sich in den nächsten fünfhundert Jahren nichts ändern. Warum ich das gedacht habe, weiss ich bis heute nicht. Vielleicht habe ich mich etwas zu oft im Wald aufgehalten und deswegen das eine oder andere nicht mitbekommen.
Ich bin eben ein Erzgebirgler wie er im Buche steht. Naturverbunden, heimatliebend. Im Wald war die DDR noch stabil. Da war es wie immer. Im Wald gab es keine politischen Eruptionen. Im Wald gab es keinen Gorbatschow und kein Neues Forum. Manchmal kam einer vorbei, der sah aus wie Rainer Eppelmann. Aber er war es dann doch nicht. Ich muss sagen, im Wald habe ich mich nicht eingesperrt gefühlt.
Aber sonst immer. Eingesperrt und beobachtet. Und belauscht. Vor allem belauscht. Weil ich Musik gemacht habe, Songs geschrieben und so. Protestsongs. In erzgebirgischem Dialekt. Denn ich wollte Freiheit, die Umwälzung, den Kapitalismus. Natürlich, was denn sonst. Das wollten ja alle damals. Aber ich hatte keine Ahnung, dass im Oktober 89 politisch schon einiges im Gange gewesen ist. Die Perestroika hatte ich irgendwie verpasst. Im Wald sind die Verhältnisse wie all die Jahre davor gewesen, und ich habe mit meinen Liedern gegen diese Waldverhältnisse angekämpft. Auf erzgebirgisch. Ich war ein Mundart-Dissident.

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Aber warum bist du dann zum Stasi gegangen, werdet ihr fragen? Das ist kompliziert. So kompliziert wie alles damals. Ich will versuchen, es euch zu erklären. Damals musste man um die Ecke denken, wenn man die Machthaber austricksen wollte, man musste für etwas sein, wenn man gegen es sein wollte, und umgekehrt musste man gegen etwas sein, wenn man dafür sein wollte. Versteht ihr? Also wenn man so tat, als wäre man für die bestehenden Verhältnisse, konnte man leichter gegen sie sein, und genau das habe ich gemacht.
Im Klartext: Zur Stasi bin ich gegangen, weil ich in den Westen wollte. Natürlich nur zu Besuch. Mit einem Visum. Ich wollte auf jeden Fall wieder zurückkommen. Ohne mein Erzgebirge wäre ich ja zu Grunde gegangen. Trotzdem musste ich mal rüber. Aus künstlerischen Gründen. Ich hatte von Gundermann gehört, der aus demselben Grund mit der Stasi zusammengearbeitet hatte. Gerhard Gundermann, der singende Baggerfahrer. Gundermann wollte im Westen auftreten und berühmt werden. Das wollte ich auch. Im Westen konnte man Karriere machen. Wer es im Westen schaffte, war der Held. Und der wäre ich gern gewesen.
Also habe ich mich in Annaberg als IM bei der Stasi beworben. Mein Führungsoffizier hiess Ralf und trug zwei Parteiabzeichen, um seine unverbrüchliche Treue zum Arbeiter- und Bauernstaat zu zeigen. „Ich zahle auch zwei Mal die Mitgliedsbeiträge“, sagte er, „die Partei ist mein Ein und Alles.“ Ralfs Deckname war Rolf. Ich musste ihn Rolf nennen, damit seine Identität nicht aufflog.
„Warum willst du innoffizieller Informant werden?“, fragte Rolf.
„Wegen Dings, na hier Sieg des Sozialismus und so“, sagte ich.
„Dufte“, sagte Rolf, „und wie willst uns helfen?“
„Als Spitzel“, sagte ich, „indem ich den Klassenfeind denunziere!“
„Jemand bestimmtes?“, erkundigte sich Rolf.
„Nee, generell“, sagte ich.
„Namen“, sagte Rolf, „wir brauchen Namen.“
„Hm“, sagte ich und überlegte. Ich kannte nur Sven. Sven hatte zusammen mit Vojtech, einem Bekannten aus Teplice begonnen, T-Shirts aus sudanesischen Textilabfällen herzustellen. Weitere Stoffreste erhielten sie vom afghanischen Militär und einer albanischen Fabrik für protestantische Herrenunterwäsche. Sven und Vojtech schrieben „Schwerter zu Pflugscharen“ oder „Lieber tot als rot“ auf die Stoffe, und drei tschechische Näherinnen sassen Tag und Nacht an ihren Nähmaschinen, denn die Nachfrage nach T-Shirts war in Ostdeutschland überwältigend. Sven und Voijtech befanden sich auf dem besten Weg, mit ihren Produkten reich zu werden. Dass sie damit der Volkswirtschaft und dem Ansehen der Republik und allem schadeten, war ihnen egal.

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Zufälligerweise wusste ich, dass Sven am 28. Oktober eine neue Lieferung über den Grenzübergang Oberwiesenthal geplant hatte. Ich wusste es deswegen, weil ich mir bei ihm ein T-Shirt mit der Aufschrift „Stasi in den Tagebau“ bestellt hatte, und es noch am selben Abend in Crottendorf abholen wollte.
Rolf freute sich. „Dafür stellen wir einige Genossen ab!“, bestimmte er, „wenn die Sache funktioniert, dann können wir auch was für dich tun!“ Na, das lief doch prima!
Tatsächlich hatte sich Sven dann am 28. Oktober mit seinen drei Näherinnen, Olga, Larissa und Jana in einem bis unter die Decke mit T-Shirts vollgepackten Tatra von Teplice zum Grenzübergang Oberwiesenthal auf den Weg gemacht. Nun weiss ich nicht, wer von euch schon einen Tatra gesehen hat, aber allen, die das Fahrzeug nicht kennen, kann ich versichern, es war der schwerste PKW seiner Zeit. Ein russisches Produkt, das gemacht wurde, um sich durch den sibirischen Schnee zu fräsen, und nebenher alles von der Fahrbahn zu schleudern, was dort nicht hingehörte: kraftstrotzende Wildrinder, Elche oder Bären zum Beispiel, wirklich alles.
Dummerweise war Sven während des steilen Anstieges zum Zollgebäude der Sprit ausgegangen. Das mag am zusätzlichen Gewicht der viertausend, ins Wageninnere gepressten T-Shirts gelegen haben, aber auch an Olga, die nicht ganz so dürr wie Larissa und Jana gewesen ist. „Scheisse!“, hatte Sven gerufen, „Olga, Larissa, Jana! Aussteigen und schieben!“ Olga, Larissa und Jana stiegen aus und begannen, den Skoda die steil ansteigende Strasse von Bozi Dar zum Grenzübergang nach oben zu schieben. Sven sass hinter dem Steuer und lenkte, und nur, wenn Larissa, Olga und Jana zu schnell waren, bremste er ein wenig.
Die Zollbeamten kriegten sich kaum ein vor Lachen, als Olga, Larissa und Jana das Auto vor ihnen abstellten, aber dann winkten sie Sven zur Seite, und nahmen den Wagen gründlich auseinander. „Zoll?“, fragte einer der tschechischen Beamten.
„Nix Zoll!“, erboste sich Sven, „Eigenbedarf. Das ziehe ich alles selber an!“
„Ha, ha!“, sagten die Zollbeamten und konfiszierten den gesamten Wageninhalt. Dann sperrten sie Sven, Larissa, Olga und Jana zwei Stunden lang ein, telefonierten mit ihren Vorgesetzten und liessen sie schliesslich wieder gehen. Ohne die T-Shirts versteht sich. Da schüttelte Sven resigniert den Kopf, setzte sich hinters Steuer und liess sich von Olga, Larissa und Jana zurück nach Teplice schieben.

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Unten in Crottendorf warteten ich und die anderen Genossen der Stasi bis zum Morgengrauen auf Sven und die T-Shirts, aber als abzusehen war, dass er nicht mehr auftauchen würde, blies Rolf den Einsatz ab. „Na, das war ja wohl nichts!“, konstatierte er, „ich hoffe, wir haben keinen Verräter in unseren Reihen!“ Damit war ich gemeint. Da habe ich „Ach, so ist das!“ gerufen, und bin gegangen. Wenn eine Tür da gewesen wäre, hätte ich sie zugeknallt. War aber nicht.
Ein paar Wochen später fiel die Mauer. Nach der Wende interessierte sich kein Mensch mehr für singende Mundart-Dissidenten. Weder im Osten noch im Westen. Fragt Gundermann! Wie so viele andere auch musste ich mich im Arbeitsamt in Annaberg melden. Und nun stellt euch einmal vor, wer mir da als Sachbearbeiter gegenübersass: Es war Rolf!
„Mensch Rolf!“, rief ich, „das ist ja vielleicht eine Überraschung!“
„Tut mir leid, hier gibt es keinen Rolf!“, sagte Rolf, „ich heisse Ralf!“
„Alles klar, Ralf!“, sagte ich, „ich brauche einen Job, hörst du?“
„Schwierig, schwierig“, murmelte Rolf, „mit deiner Vergangenheit! Du warst doch bei der Stasi, oder?“
„Andere doch auch!“, sagte ich.
„So? Wer denn?“, ereiferte sich Rolf.
„Das weisst du doch ganz genau!“, sagte ich.
„Ich?“, brüllte Rolf, „Ich soll was wissen? Das ist doch wohl die Höhe! Mein ganzes Leben lang habe ich gegen das Regime gekämpft, niemand war aktiver im Untergrund als ich! Das fehlte noch, dass ich von einem Stasi-Spitzel als Stasi-Spitzel denunziert werde! Ausgerechnet ich, eine Säule des Widerstandes. Und ich soll dir einen Job versorgen? Das kannst du ein für alle Mal vergessen. Und jetzt raus hier, aber dalli!“
Da habe ich mich wortlos umgedreht, die Tür hinter mir zugeschlagen, und bin wieder in den Wald gegangen. Im Wald waren die Verhältnisse wie immer. Im Wald war es noch wie im Osten. Manchmal kam einer vorbei, der sah aus wie Ibrahim Böhme. Aber er war es dann doch nicht. ♦


Lothar Becker - Schriftsteller Publizist - Glarean MagazinLothar Becker

Geb. 1959 in Limbach-Oberfrohna/D, zahlreiche Lyrik- und Prosa-Publikationen in Büchern und Zeitschriften, Veröffentlichungen von Musical- und Theater-Stücken, lebt als Jugend-Sozialpädagoge, Musical-Komponist und Band-Musiker in Lembach/D

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema DDR-Mauerfall auch über den Roman von
Roswitha Quadflieg und Burkhart Veigel: Frei

ausserdem zum Thema Politik und Gesellschaft eine weitere Satire von
Lothar Becker: Hitler in der U-Bahn

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Das Musik-Kreuzworträtsel im Oktober 2019

Der neue Musik-Rätsel-Spass im Glarean Magazin

Das Musik-Kreuzworträtsel im Oktober 2019 aus dem Hause GLAREAN bietet den Crossword-Fans wieder eine breite Palette von Begriffen aus der Welt der Musik.

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Vom Volkslied und Schlager über das Rock- und Pop-Album bis zur Opernbühne ist alles dabei…
Übrigens, in den letzten Jahren hat das Glarean Magazin zahlreiche Musikkreuzworträtsel publiziert – hier geht’s zu der ganzen Rätsel-Sammlung.

Wir wünschen viel Spass beim Knobeln!

Musik-Kreuzworträtsel - Oktober 2019 - Music Crossword Puzzle - Aufgaben -Glarean Magazin

Hier kannst Du das Musik-Kreuzworträtsel downloaden/ausdrucken (PDF)

Hier geht’s zur Auflösung des Rätsels —> „weiterlesen“

Knobeln Sie im Glarean Magazin auch das
Musik-Kreuzworträtsel vom Mai 2017 und das
Musik-Kreuzworträtsel vom Juli 2013

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Jo Nesbø: Messer (Harry-Hole-Krimi Band 12)

„Ein Leben, schlimmer als der Tod“

von Isabelle Klein

Es wird eng für Harry Hole, den berühmten Hauptkommisar des norwegischen Kult-Krimi-Autors Jo Nesbo, ganz eng – in seinem Fall Nummer 12: „Messer“.
Das Dutzend ist also voll, und es muss (so das Gesetz der Serie, vgl. unten) ein Paukenschlag her. Für den, der (wie ich) getrost den Klappentext hat Klappentext sein lassen und sich völlig blank ins Lese-Schmankerl gestürzt hat, bietet dieser 12. Band eine völlig unerwartete Entwicklung im Harry-Hole-Universum, die für künftige Bände einiges erahnen lässt.

Jo Nesbo - Messer - Ullstein Verlag Cover - Krimi-Literatur-RezensionenRakel ist tot. Ermordet, brutal erstochen. Diese Hiobsbotschaft ereilt Harry am absoluten Tiefpunkt seines wechselhaften Lebens: Job an der Hochschule weg, Frau weg (sie hatte ihm Monate vorher die Koffer vor die Tür gestellt).
Klar, was Harry macht – das, was er nach Serienmörder fangen am besten kann: Saufen (sorry, aber jedes andere Wort wäre unzutreffend).
Seinen Alkoholkonsum finanziert er mit einer einfachen Polizistentätigkeit, als Partner von Truls Berntsen; Selbst für Alkohol ist nicht genügend Geld da. Trost findet er bei der Forensikerin Alexandra und später auch bei der uns bekannten Kaja Solness, die hier mal wieder kurz in der Heimat weilt. Harry beschliesst also, sich erst mal mit seinem Freund Alkohol zu betäuben, so dass Schmerz und Leere ausgeblendet werden – der Rausch als Hilfsmittel.

„Harry fucking Hole“

Erste Verdächtige zeigen sich am Horizont, Harry ermittelt! Haben Gesetz und Ordnung Harry schon jemals von etwas abgehalten? Zusammen mit Kaja, Alexandra und Bjorn nimmt er den Kampf gegen den Mörder der geliebten Frau auf. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

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Und getreu dem Motto ist „Harry fucking Hole, oder der ‚demolition man'“ (S. 49). In diesem 12. Harry-Hole-Fall bleibt nichts dem Zufall überlassen, alles ist perfekt inszeniert, manchmal vielleicht sogar ein klein wenig überkonstruiert. Harry durchlebt Leiden epischen Ausmasses, die Auflösung kommt einer griechischen Tragödie gleich.
Uns bleibt aber auch nichts erspart, mag der eine denken, oder: JN zieht zwar weite Kreise, aber einmal mehr ist ihm ein geniales Werk des Harry-Hole-Zyklus gelungen, in dem er uns, wie eigentlich in jedem Werk seit „Koma“, atemlos im Ungewissen lässt. Zumindest ist diesmal eines sicher: Harry lebt…

Billy Wilder (Drehbuchautor für viele exzellente Screwballs der 30er und 40er Jahre) sagte einmal ungefähr, dass die Kunst darin bestehe, die Zuschauer glauben zu lassen, dass er einen Wissensvorsprung habe, was jedoch durch die Autoren intendiert ist und eben durch unvorhergesehene twists and turns wieder genommen wird. Selbiges betreibt Nesbø. Er nimmt Anlauf, obwohl er uns durch die durchzechte Nacht, Blackouts, blutige Kleidung und ein verstecktes Messer usw. Böses erahnen lässt, und zieht einen weiten Bogen, bis er zum allesklärenden Ausgangspunkt zurückkehrt.

Grausame Realität des Lebens

So stellt sich Harry, zumindest vorläufig, der grausamen Realität eines Lebens ohne Rakel. Wer anders könnte es sein als seine Nemesis, der der Autor in „Durst“ viel Raum gewidmet hat.
Svein Finne, der Rache an dem Tod seines Nachkommens nehmen will: Wie könnte er Harry besser treffen, als ihm das Wertvollste zu nehmen? Doch als der Serienvergewaltiger ein Alibi hat, wird es eng, und Harrys Augenmerk richtet sich auf den undurschaubaren Chef Rakels, Roar Bohr, ein posttraumatisch belastungsgestörter Kriegsveteran.

Jo Nesbo - Krimi-Autor von Harry Hole - Filmszene Der Leopard - Glarean Magazin.png
„Smarter killt keiner“ – Film-Szene aus „Der Leopard“ von Jo Nesbo

Hat er ein Motiv? Durch ihn und Kaja teilt Nesbø die Schrecken der Afghanistan-Einsätze. Und schliesslich – es scheint, als wären auch hier aller guten Dinge drei – materialisiert sich ein weiterer Verdächtiger: Harrys Nachfolger als Kneipenbesitzer.

Die Themen sind breit gefächert, und wie so oft heissen sie Abhängigkeit, Gewalt, Krieg, Suff, Untreue. Gemeinhin die Fehler der Vergangenheit, die einen bzw. einen jeden in diesem Buch, der Schuld auf sich geladen hat, einholen.

Entwicklung in weiten Kreisen

Der Aufbau ist ausufernd, falsche Fährten und Nebenschauplätze nehmen viel Raum ein. Man mag bemängeln, dass dies alles im Endeffekt zu künstlich sei, dass der rote Faden fehle. Als (mittlerweile) grosser Hole-Fan kann ich dies durchaus verstehen. Trotzdem: Genau das ist die nesbøsche Kunst und zeichnet das hohe Niveau der Serie auch nach 12 Teilen aus. Er versteht es, den Leser bei der Stange zu halten. Genau das beherrschen viele Autoren nicht…
Und letztlich fügt alles sich durchaus harmonisch zusammen – das fasziniert und macht betroffen zugleich. Nesbø ist einfach die Drama-Queen der aktuellen Thrillerwelt, er wirft die Angel aus, und schon wird eine Entwicklung in Gang gesetzt, die weite Kreise zieht, auch wenn sie mitunter übers Ziel hinausschiesst. Das macht in sich Sinn und generiert den ganz besonderen Reiz des HH-Kosmos‘.

Zu gewaltverherrlichend, zu sexlastig?

Jo Nesbo - Schriftsteller - Krimi-Autor von Harry Hole - Glarean Magazin
Krimi-Bestseller-Autor und Harry Hole-Erfinder Jo Nesbo (geb. 1960)

Die Kritik liegt sicherlich im Detail: Zu gewaltverherrlichend, zu sexlastig. Wie kann Harry, gleich Inspektor Lynley, so kurz nach Rakels Tod bzw. der Trennung in fremde Betten hüpfen? Wie kann Harry sich gottgleich aufschwingen, dabei jedes Rechtsempfinden hinter sich lassen? Oder auch: zu ausschweifend (Schilderung der Gräuel der Blauhelmeinsätze) – usw. All das mag durchaus seine Berechtigung haben, und doch empfinde ich „Messer“ keineswegs als Reinfall, sondern als ausgemachtes Meisterwerk.
Betrachtet man allein die mögliche Entwicklung Harry Holes für die folgenden Fälle (die es dann doch hoffentlich geben wird), hat man ungeahnte Optionen. Denn Harry ist eine Schlange, die sich häutet. Er lässt sich nicht in Kategorien einteilen, er ist schillernd und unberechenbar und dadurch doch fast wieder berechenbar. Und sind wir mal ehrlich: Nordische Krimis waren schon immer „mehr von allem“: Mehr von detaillierter Gewalt, von häufigem und beiläufigem Sex, ausufernd in Länge und Motivationslagen – das wissen wir spätestens seit Stieg Larsson und Adler Olsen, um nur mal zwei zu nennen.

Regeneration einer ganzen Roman-Serie

FAZIT: Der neueste Krimi von Jo Nesbø: Messer ist ein grosser Wurf und dürfte die Geschicke des Nesbo-Protagonisten Harry Hole in ganz neue Gefilde lenken. In diesem 12. Band passiert die spannende Regeneration einer ganzen kultigen Roman-Serie. Empfehlung!

Meines Erachtens ist Rakels Tod ein Befreiungsschlag. Bereits vor vielen Jahren hat Patricia Cornwell ihrer Scarpetta etwas Ähnliches angetan (und Benton dann doch wieder auferstehen lassen). Elizabeth George war da konsequenter und fast noch tragischer, denn sie liess die hochschwangere Gattin Lynleys vor dessen Augen Opfer eines sinnlosen Anschlags werden.
Serien müssen sich, zumindest nach einer gewissen Laufdauer, regenerieren. Was ist dazu einfacher, als das Leben des Helden von Grund auf zu erschüttern? Während die anderen den Fehler begangen haben, diese Chance nicht für ihre Figuren und Geschichten zu nutzen – beispielsweise sind die Autoren George und Cornwell für mich inzwischen leider unlesbar geworden -, bin ich mir recht sicher, dass Nesbø die Chance nutzen wird und wie Phoenix aus der Asche ersteht. Die Karten stehen gut, denn der Polizist, der Profiler, sie sind erst mal passé, der Vater und ..?. werden dem weiteren Verlauf mitunter eine völlig andere Wendung geben. Ein besserer, ein wie Phoenix der Asche entsteigender Harry Hole ist zu erwarten.

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Eines bleibt sicher: „Messer“ ist ein Buch, das polarisiert. Sollten Sie Neueinsteiger im HH-Universum sein, vielleicht gerade erst einen oder zwei der HH-Krimis gelesen haben, sollten Sie es sich gut überlegen. Aber für den, der offen ist für Entwicklungen und den nordischen Krimi mit Raum für Anderes zu schätzen weiss: Kaufen, lesen geniessen. Nesbø ist so gut wie eh und je, für mein Empfinden sogar noch besser. Einfach eine Klasse für sich.

Eine Erkenntnis, die ich aus dieser äusserst anregenden Linie für mich persönlich mitnehme: Jeder, tatsächlich jeder kann plötzlich eine rote Linie überschreiten. Ein Thriller der Extraklasse, der die Harry-Hole-Reihe vollkommen neu justiert. Eine glatte 10 von 10. ♦

Jo Nesbø: Messer (Harry Hole Krimi Bd. 12), Rowohlt Verlag, 574 Seiten, ISBN 9783550081736

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Moderne Romane auch über
Roland Herr: Fucking Friends

… sowie über den Thriller von
Claudia Praxmeier: Bienkönigin

 

Peter Biro: Die Liebe zu den drei Organen (Satire)

Die Liebe zu den drei Organen

oder

Wie es Herz-Terz, Leber-Kleber und Milz-Pilz im Spital erging

Peter Biro

Sorgfältig tupfte Schwester Thekla die hohe Denkerstirn des unermüdlich im Dauereinsatz stehenden Chirurgen Dr. Sweren-Nöthen, der diese komplexe, dreifache Organtransplantation auf sich genommen hatte, obwohl ihm alle davon abzuraten versucht hatten – vergebens natürlich.
„Das kann nicht gutgehen, Wilhelm“, hatte ihm tags zuvor seine treue Ehefrau, Dr. Elfriede Nöthen, die Sache auszureden versucht, ihrerseits als erfahrene Proktologin mit den operativen Schwierigkeiten einer Trippel-Transplantation vertraut. Sie wusste nur zu gut, was damit für ihren Mann auf dem Spiel stand. Aber sie kannte ihn zur Genüge um zu wissen, dass sie ihn nicht aufhalten konnte, wenn er schon mal einen derart schwerwiegenden Entschluss gefasst hatte. Wenn es jemanden gab, der das Ungemachte machen, das Ungewagte wagen und das Ungeheuerliche geheuern würde, dann käme nur einer dafür in Frage: ihr couragierter Gatte, der bewunderte und umstrittene, neue Starchirurg des Universitätsspitals Zürich.
„Tun Sie es lieber nicht“, waren die letzten Worte seines Chefs, des Professors Prokofiew, bevor dieser in seinen improvisierten Karibikurlaub aufbrach, nachdem er davon erfahren hatte, dass ein besonders risikoreicher Eingriff geplant war. Er wollte lieber nicht zugegen sein, wenn das Vorhaben nicht gut ausging, und erst recht nicht, wenn die Presse über den gescheiterten Mitarbeiter seiner blamierten Abteilung herfallen und die riskante Aktion in Frage stellen würde.

An jenem schicksalhaften Tag, als Dr. med. Dr. h.c. Wilhelm Sweren-Nöthen die einsame Entscheidung traf, den noch nie durchgeführten Eingriff der gleichzeitigen, dreifachen Organtransplantation, nämlich von Herz, Leber und Milz in einer voraussichtlich 33-stündigen Operation am offenen Fenster des Operationssaals Nr. 3 durchzuführen, war das Entsetzen in seinem Umkreis riesengross. Seine Sekretärin und heimliche Geliebte, Fräulein Kniebel, von deren Doppelrolle alle ausser Elfriede Bescheid wussten, flehte ihn buchstäblich auf Knien an, es nicht zu tun.
„Du gehst ein zu grosses Wagnis ein, Willi“, sagte sie eindringlich, nachdem sie sich aus seiner kräftigen Umarmung gelöst hatte. „Nach deinem Rauswurf aus der Schwarzwaldklinik riskierst du nun dasselbe hier nochmal“, jammerte das „kecke Knieblein“, wie er sie manchmal zärtlich nannte.
Sie bestürmte ihn mit nicht nachlassendem Eifer: „Bedenke nur, mein Liebster, wenn es zu einer fatalen Transplantatabstossung kommt und dich das Unispital in Schande entlässt, dann kannst du deine Karriere endgültig begraben. Und unsere sorgfältig geplante Kongressreise zu zweit im Nachtzug nach Buxtehude können wir auch vergessen“.

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Willi wollte auf die kritischen Stimmen nicht hören, weder auf die seiner Frau, noch auf die seiner Geliebten, die beide in dieser Sache ausnahmsweise der gleichen Meinung waren. Er fühlte einen starken inneren Drang, die Grenzen der Schulmedizin eigenhändig zu sprengen und das bis dahin Ungewagte zu wagen: Die drei durch Alkohol, Zigarettenrauch und Nougatcréme schwer geschädigten Organe zu ersetzen, welche dem Leben des Patienten W.J. aus Z. bald ein Ende setzen würden, wenn nichts Radikales unternommen wird.
Nein, Dr. Sweren-Nöthen konnte gar nicht anders. Er glaubte an die schicksalhafte Fügung, die sich durch einen Zufall ergeben hatte: Auf der einen Seite ein Patient, der an der unheilbaren „Schwedischen Papageiengrippe“ erkrankt war, und andererseits die zeitgleiche Einlieferung von drei hirntoten Bergwanderern, die viel zu eng angeseilt, gemeinsam in eine Gletscherspalte gestürzt waren und ausgerechnet die passenden Organe vorrätig hatten. Obendrein bewahrte die Kälte des Gletschereises die Spenderorgane in bestem Zustand. Das alles war auf einmal da – und Sweren-Nöthen war am richtigen Ort zur richtigen Zeit, um es zum ersten Mal zu versuchen. Er musste diese Gelegenheit beim Schopf ergreifen und die bis dahin als undurchführbar geltende Trippel-Transplantation wagen.

„Wenn das kein Wink des Himmels war?“, räsonierte Schwester Thekla, während sie dem konzentriert arbeitenden Chirurgen folgsam die bestellten Instrumente vorbereitete. Normalerweise pflegte sie an der Seite des Starchirurgen einen eher harmlosen Smalltalk zu führen und immer wieder drauflos zu plappern. Diesmal war ihm jedoch überhaupt nicht nach den üblichen Wortwechseln über Ferienreisen, Sonderangebote und dem obligaten Kliniktratsch zumute. Zu sehr war er in seine Gedanken vertieft, die unentwegt um seine innig geliebten drei Organe kreisten. Drei offene Körperhöhlen gleichzeitig bedeuteten drei voneinander unabhängige Risiken, die sich gegenseitig verstärkten. Konnte das gutgehen?
Er ballte seine behandschuhten Hände zu blutleeren, weissen Fäusten und richtete die alles entscheidenden Worte an seine treue Instrumentierschwester und frühere Gespielin aus den alten Schwarzwälder Zeiten (noch lange vor dem kecken Knieblein):
„Sind Sie parat, Schwester Thekla, können wir den Instrumentencheck durchführen?“, wobei er sorgfältig darauf achtete, die früher so nah vertraute Mitarbeiterin zu siezen, wenn andere zuhören konnten.
„Jawoll, mein Doktor. Alles ist vorbereitet“, versicherte die Angesprochene mit einem leichten Anflug von vorgetäuschter Sicherheit in der Stimme.
„Na dann wollen wir mal“, legte er los und begann mit der standardisierten Aufzählung der essenziellen Instrumente, die für den Aus- und Einbau der drei Organe erforderlich waren:
„Sind Herz-Terz, Leber-Kleber und Milz-Pilz einsatzbereit, geladen und geschmiert?“, fragte er, ohne aus den hallenden Tiefen des offenen Brustkorbs von W.J. aus Z. aufzublicken. Thekla beeilte sich, ihm die Bereitstellung des Gewünschten zu versichern, wobei ebenfalls kleine Schweissperlen auf ihrer ähnlich hohen Stirn auftauchten. Nur war niemand da, die ihren abzutupfen.
Er begann die Punkte der Checkliste einzeln durchzunehmen: „Die Herz-Terz?“
„Herz-Terz – randvoll gefüllt und im Trilobit-Retraktor mit je drei Gefässklammern geladen. Die Klapunzelspalte ist offen und schliesst reibungslos“ verkündete sie mit einem gewissen Übereifer.
„Leber-Kleber?“
„Leber-Kleber steht parat. Drei Patronen sind prall gefüllt und die Zähigkeit des Materials ist auf den aktuellen Barometerdruck und die Luftfeuchtigkeit abgestimmt. Wir haben 313 Öchslegrade im Reservoir“, beeilte sie sich zu versichern.
„In Ordnung“, brummte Sweren-Nöthen zufrieden, „und als Letztes der neuartige Milz-Pilz?“
„Nagelneuer Milz-Pilz ist soeben aus Karlsruhe eingetroffen und frisch aus der Packung entnommen. Die Repunzierschraube wurde bereits herstellerseits auf Null gestellt und erlaubt Auswuchtung in alle drei Ebenen. Sie können jederzeit anfangen“, schloss Schwester Thekla den Check erleichtert ab.

Sweren-Nöthens Gesichtszüge entspannten sich ein wenig, und er begann mit der Auswuchtung des kaum noch sichtbar schlagenden Herzens. Es war nun wirklich höchste Zeit.
„Tupfer!“, raunte er ihr nach einer Weile zu, während er eine spritzende Blutung mit seiner Nasenspitze abdrückte. „Noch einen Tupfer“, näselte er diesmal lauter, „und schnell noch einen, bitte, Schwester Thekla, drei Stück wie immer wenn’s kritisch wird, Heiligedreieinigkeit!“, erschallte es diesmal etwas energischer und gereizter als sonst. „Wenn’s spritzt, müssen’s immer drei sein. Das wissen Sie doch!“ In solchen Fällen konnte es ihm nicht rasch genug gehen. Seine beiden Operationsassistenten erwarteten nun weitere Wutausbrüche.
„Herr Truffaldino, den Rippenspreizer mehr anspannen – bitte!“, schnauzte er seinen ersten Assistenten an, während der zweite, der italienische Gastarzt Dr. Farfarello unaufgefordert den Leberhaken kräftig zu sich zog. Ein kurzer, dankbarer Blick seitens Dr. Sweren-Nöthers bestätigte dem besorgten Neapolitaner die Richtigkeit seiner Massnahme.
„Und jetzt bitte den Milz-Pilz, mit entsicherter Repunzierschraube“, schleuderte er seiner Instrumentalistin entgegen, die verzweifelt den geforderten Zusatzteil in ihrem Sterilisiersieb suchte. Unter lautem Geschirrgeklapper fand sie schliesslich das Gesuchte und reichte es erleichtert dem ungeduldig seine drei Finger spreizenden Operateur.

Wieso drei Finger, mag man sich fragen? Nun, hier ein kleiner Abstecher in die Vergangenheit: Sweren-Nöthen hatte den Daumen und den kleinen Finger seiner rechten Hand eingebüsst, als er als junger Assistenzarzt in der Orthopädie arbeitete und einen kleinen Unfall mit einer dreitaktigen Knochensäge hatte (er hatte irrtümlich nur zwei Takte angenommen). Damals dachten er und seine Frau, dass seine Chirurgenkarriere damit abrupt enden müsste. Aber es kam anders; mit nur drei verbliebenen Fingern der rechten Hand erwies sich der noch junge Assistenzchirurg als allen anderen Kollegen überlegen. Mit der viel schmäleren Hand konnte er weiter und tiefer in die hintersten der verwinkelten Körperhöhlen der leidenden Menschen vordringen und dort wahre medizinische Wunder vollbringen. Weit besser als jeder andere seiner zahlreichen Konkurrenten – mit intakten Händen.

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„Das muss Dir mal einer nachmachen“, sagte damals Elfriede zu ihm, nachdem er bereits bei seinem ersten Versuch drei eingeklemmte Gallensteine aus einem übergewichtigen Metzgermeister herausgeholt hatte. Durch dessen Schlund wohlgemerkt, ohne diesen aufschneiden zu müssen. Denn aufgeschnittene Metzgermeister heilen bekanntlich sehr schlecht. Jene operative grosstat begründete seinen legendären Ruf als Ausnahmechirurg, welcher schlussendlich zu seiner Berufung nach Zürich geführt hatte. Dort pflegte man nämlich nur die Besten der Besten anzustellen.
Doch in der Limmatstadt musste er sich zunächst bewähren, so wie das von allen neu eingestellten, deutschen Ärzten erwartet wird. Erst musste Sweren-Nöthen für drei Monate Fettschürzen straffen und Hämorrhoidalknoten entwirren, bevor er an die drei wichtigsten Organe herangelassen wurde: An Milz, Leber und (als Königsdisziplin) ans Herz. Doch er meisterte alle Hürden mit Umsicht und Bravour, er bestand alle Prüfungen, die ihm auferlegt wurden, und auch das obligate Begrüssungs-Mobbing durch die einheimischen Kollegen konnte ihm nichts anhaben.
Denn er kannte sich mit den drei Organen weit besser aus als alle anderen, einschliesslich seines Chefs, des feisten Professors Prokofiew, der ihm absichtlich die schwierigsten Fälle zuschob. Zuerst liess er ihn die komplexesten Milzoperationen durchführen und die Handhabung des neuartigen Milz-Pilzes studieren. Dann musste er sich mit den schwierigsten Lebereingriffen auseinandersetzen. Doch auch das bewältigte er mit Erfolg, nachdem er die Tücken des Leber-Klebers beherrschen gelernt hatte.
Nur mit der Herz-Terz konnte er sich lange nicht anfreunden. Das kleine, dreiteilige Gerät zur elektromechanischen Entkopplung des Reizleitungssystems liess sich von ihm nicht gleich gefügig machen. Aber mit seiner dreimalig geschickten, dreifingrigen Hand schaffte er es dann doch. Und zwar mit einem Trick, den er sich bei der Hämorrhoidalentwirrung zugelegt hatte: er steckte dabei den Ringfinger in die offene, linke Herzkammer, den Zeigefinger in die Klapunzelspalte, so dass er die Herz-Terz mit dem verbleibenden Mittelfinger elegant in die Perikardhöhle vorwärts bugsieren konnte. Mit diesem Manöver erwarb er sich sehr schnell den Ruf, einer der besten Herzchirurgen zu sein.

„Kein Zweifel, mein lieber Doktor…“, raunte ihm Schwester Thekla zu, während sie mit einer Tridentklemme die Klapunzelspalte aufdehnte, um seinem Mittelfinger Platz zu machen, „kein Zweifel, dass Sie einer der besten Milz-, Leber- und Herzchirurgen nördlich der Alpen bis zum Dreiländereck bei Basel sind. Aber alle drei Organe auf einmal transplantieren, das ist wirklich gewagt. Wenn das mal nur gut geht…“.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Instrumentierschwester Thekla“, erwiderte er süffisant, „meine Liebe zu den drei Organen lässt mich jede Schwierigkeit überwinden. Das beflügelt mich nicht nur, das führt meine schlanke, dreifingrige Hand sicher zum Erfolg. Nur dürfen die Spenderorgane nicht zu früh warm werden, zu viel Sauerstoff verbrauchen und sich dadurch vor der Implantation erschöpfen“.
„Und was ist mit Prokofiew?“, warf sie besorgt ein.
„Was soll schon sein? Wenn er aus der Karibik zurückkommt und die Spitalleitung die Medien zur Pressekonferenz lädt, dann wird er gerne wieder dabei sein, um seinen Anteil am Erfolg einzuheimsen. Das war immer schon so: bei Gefahr abtauchen, bei Erfolgsmeldungen nach vorne drängeln“.

Der Gastarzt Dr. Farfarello nutzte während der Transplantatpräparation die etwas entspanntere Atmosphäre, um eine wichtige Frage an sein Vorbild zu richten:
„Dottore Sweren, wie können Sie so sicher sein, dass diese dreifache Organtransplantation gelingen wird, wenn sie sonst noch nirgendwo, von niemandem erfolgreich durchgeführt wurde?“
„Sehen Sie, Luigi“, antwortete der Angefragte selbstsicher, „alles muss ein erstes Mal versucht werden, und jetzt hat sich die einmalige Chance ergeben, dass ich es bin, der diesen ersten Schritt wagt“.
„Aber wird es nicht eine sehr heftige, kaum beherrschbare Abstossungsreaktion geben? Immerhin bei drei eingepflanzten Fremdorganen?“, wandte der vordem gerüffelte und deshalb bis dahin betreten schweigende Dr. Truffaldino ein.
„Auf diese Frage habe ich gewartet, mein lieber Kollege“, erwiderte der selbstsichere Starchirurg, „auch dieses Problem ist lösbar. Ich werde nicht nur drei gesunde Transplantate einsetzen. Der Trick dabei ist, dass ich auch deren Positionierung vertauschen werde.“
Alle Anwesenden, einschliesslich der bis dahin sich unauffällig im Hintergrund haltenden Anästhesistin, Dr. Fatima Morgana, spitzten die Ohren ob des noch nie Gehörten. Mit unverhohlener Überraschung blickten alle in die Augen des triumphierenden Skalpellkünstlers. Nach einer angemessenen Pause, um die ohnehin schon gespannte Atmosphäre weiter aufzuladen, lieferte dieser die verblüffende Erklärung:
„Der Platztausch der drei Organe, nämlich der Einbau der Milz ins Mediastinum, der Leber in die Milzloge und des Herzens in das Leberbett wird das Immunsystem des Empfängers derart verwirren, dass es gar nicht dazu kommt, eine Abstossungsreaktion anzufangen. Es versucht sich über die ungewohnte Organanordnung klarzuwerden, aber in Ermangelung eines eigenen Denkvermögens wird es dabei zwangsläufig scheitern und andernorts nach Fremdgewebe suchen. Eine bessere und nebenwirkungsärmere Immunsuppression kann es gar nicht geben. Das, meine Lieben, ist das Geheimnis hinter meinem scheinbar hochriskanten Wagnis.“
Dann wandte er sich zur sichtlich beeindruckten Schwester Thekla, die sehr entzückt ob so viel Einfallsreichtum war, und sagte zu ihr im beruhigenden Tonfall eines sich seiner selbst absolut sicheren Mannes, der weiss, was er tut: „Lassen Sie uns die Tücher zählen. Eins…, zwei… und hier kommt schon die Nummer drei“. ♦


Prof. Dr. med. Peter Biro

Prof. Dr. Peter Biro - Arzt und Schriftsteller - Glarean MagazinGeb. 1956 in Grosswardein (Rumänien), 1970 Emigration nach Deutschland, Medizinstudium in Frankfurt/Main, seit 1987 Anästhesist am Universitätsspital Zürich und Dozent für Anästhesiologie, schreibt kulturhistorische Essays und humoristische Kurzprosa, lebt in Feldmeilen/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin auch die Satire von
Angela Mund: Schlaf gut, mein Freund Hektor

… sowie zum Thema Medizin über den Roman von
Michael Kleeberg: Das amerikanische Hospital

ausserdem im Glarean Magazin zum Thema Krankheit und Spital:
Eric Baumann: Einen Sommer noch (Autobiographie)

Mario Andreotti: „Eine Kultur schafft sich ab“ (Rezension)

Wider den Zeitgeist

von Alexander Meier

„Eine Kultur schafft sich ab“ – so der hellhörig machende Titel des neuesten Buches von Prof. Dr. Mario Andreotti, dem ehemaligen Kantonsschullehrer und Lehrbeauftragten für Sprache- und Literaturwissenschaft an der Universität St. Gallen und dem Dozenten für Neuere deutsche Literatur an zwei Pädagogischen Hochschulen. Der Band vereinigt in chronologischer Reihenfolge 52 Kolumnen, die der Autor von 2012 bis 2019 im St. Galler Tagblatt und dessen Partnerzeitungen in den CH Media verfasst hat.

Auch wenn es bisweilen inhaltliche Überschneidungen gibt – die Kolumnen waren ursprünglich nicht zur Publikation in der Form einer Anthologie vorgesehen –, vermag das Buch den Leser von Anfang an zu interessieren, zum Weiterlesen zu animieren. Das liegt nicht nur an den Themen, sondern zu einem grossen Teil auch an der unprätentiösen, klar auf die Sache fokussierte Sprache. Der Autor verfügt mühelos über ein umfassendes Wissen und über profunde Sachkenntnisse. Er wird dennoch nie geschwätzig.

Bildung und Hochschulzugang

Mario Andreotti Eine Kultur schafft sich ab - Beiträge zu Bildung und Sprache - Literatur-Cover Format-Ost - Glarean MagazinWorum geht es Autor Andreotti? Was gibt ihm in der Schweizer Bildungslandschaft zur Besorgnis Anlass?
Zunächst zur Situation an den Gymnasien und das Bologna-System im universitären Bereich: Es ist eine Tatsache, dass der Besuch des Gymnasiums nicht mehr als sogenannter Königsweg zur Hochschule gilt, und dass seine Position mit den Jahren geschwächt worden ist. Mit dem Numerus Clausus an der medizinischen Fakultät wurde das Maturazeugnis fraglos abgewertet. Es verlor zudem an Bedeutung, insofern vor allem in der Westschweiz Studienanwärter über eine rein fachspezifische Aufnahmeprüfung an einer Universität aufgenommen werden können. Unklar ist auch mehr und mehr, was „gymnasiale Bildung“ überhaupt ist. Die Nähe der vage formulierten Allgemeinbildung am Gymnasium zu jener in den Diplom- und Berufsmittelschulen ist unbefriedigend. Mario Andreotti fordert deswegen vom Gymnasium einen wohl definierten, unabdingbaren Bildungskanon, um die Studierfähigkeit seiner Absolventen zu erreichen. Der VSMP (Verein Schweizerischer Mathematiker- und Physiklehrkräfte) hat hier mit einer Projektgruppe bereits Pionierarbeit geleistet und gleichzeitig Fachwissen gegenüber der Pädagogik und Didaktik prioritär behandelt. Ob die Lehrkräfte gefunden werden können, welche diesem Anforderungsprofil genügen, ist freilich eine andere Sache.

Lehren die Gymnasien das Falsche?

Einen unabdingbaren Kanon festzulegen ist das eine. Wer indessen das Niveau der Maturitätsschulen erhöhen möchte, muss sich überlegen, wie wünschenswert es ist, eine möglichst hohe Maturitätsquote im jeweiligen Kanton anzustreben. Mario Andreotti plädiert in diesem Fall für Mut zur Elite. Die Bildung einer Elite sei für den Staat und die Gesellschaft ebenso wichtig wie die Förderung der Schwachen. Das bedeutet einen Abschied von der Idee eines Massengymnasiums, der Rekrutierung von Bildungsreserven, wie es seinerzeit nach dem Sputnik Schock verlangt worden ist.

Schule - Klassenzimmer - Gymnasium für alle - Schweizer Bildungslandschaft - Sprachkultur - Glarean Magazin
Wird an den (Schweizer) Gymnasien das Falsche unterrichtet?

Wird an Gymnasien das Falsche unterrichtet? Nach einhelliger Meinung von Bildungsexperten ist dem so. Der vermittelte Stoff sei zum Teil veraltet, zum Teil sogar mangelhaft. In den Lehrplänen figurierten Vorstellungen, die als Grundlage für ein Hochschulstudium nichts taugten. Mario Andreotti lehnt die Vorwürfe nicht rundweg ab. Zumal das Fächerangebot sei angesichts einer sich rasch wandelnden Gesellschaft mit ständig neuen Aufgaben an den Einzelnen immer wieder zu überprüfen. Doch marginalisierte Fächer wie etwa Geschichte, politische Bildung und Philosophie, aber auch Latein, müssten eine Aufwertung erfahren. Ihnen müsse mehr Raum gewährt werden. Bildung und Ausbildung ist eben nicht dasselbe. Bei der Ausbildung geht es um beruflich direkt Verwertbares und abfragbares Wissen, bei der Bildung hingegen um ein ganzheitliches Wissen, das der humanistischen Bildungsidee verpflichtet ist. Ein rein pragmatisches Denken darf den gymnasialen Fächerkanon nicht zunehmend bestimmen.

„Bulimisches Lernen“

1999 verpflichteten sich 29 europäische Nationen, einen einheitlichen europäischen Hochschulraum zu schaffen, das Bologna System einzuführen. Als Signatarstaat der ersten Stunde setzte die Schweiz die Reform zügig um. Als Ziel wurde die Förderung der Mobilität und die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Bildungsstandortes Europa anvisiert. Wichtige Eckpfeiler: das dreistufige Studiensystem mit Bachelor, Master und Doktorat sowie das Leistungspunkteprogramm ETCS (European Credits Transfer System). Wohin hat uns Bologna geführt?

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Mario Andreotti kann der Reform wenig Positives abgewinnen. Zwar ist die Mobilität der Studierenden etwas grösser geworden, aber ansonsten bleibt der Bologna Prozess aus seiner Sicht, pointiert ausgedrückt, „eine trübe Baustelle“. Das Sammeln von Kreditpunkten – es scheint besonders stark amerikanischen Universitäten abgeschaut worden zu sein – ist geradezu „leicht grotesk“. Die Studierenden werden offensichtlich als eine Art „Fabrikarbeiter“ definiert, die ihre Präsenz womöglich bald einmal mit einer Stempeluhr registrieren lassen müssen. Zu einer Studienzeitverkürzung ist es dank der erwähnten neu eingeführten Diplome nicht gekommen. Und der wohl gravierendste Punkt: es gibt viel zu wenig Nachhaltigkeit im Lernprozess. Das ECTS- Punkte Sammeln erfordert an jedem Semesterende das Bestehen einer Prüfung, was die Studierenden fast unzumutbar belastet. Zu Recht diagnostiziert Mario Andreotti angesichts dieses Befundes ein „bulimisches“ Lernen: Der Lernstoff wird schnell aufgenommen, um ihn dann ebenso schnell wieder zu vergessen.

Nüchterne Aufklärung im Fokus

Liest man die Kolumne über den Bologna-Prozess, könnte der Eindruck entstehen, der Autor habe sich bisweilen unbewusst von der Formel „prodesse et delectare“ inspirieren lassen, die von der Ars Poetica des Horaz abgeleitet werden kann. Der unterhaltende Aspekt („delectare“) stellt sich indessen primär nur ein, wenn der Gegenstand der Untersuchung plötzlich quasi wie von selbst in einem grotesken oder skurrilen Licht auftaucht. Zur Hauptsache geht es dem Autor ums „prodesse“ (nützen), genauer, um sachliche, nüchterne Aufklärung. Übrigens ohne jegliche Häme. Sein typisches Vorgehen, verkürzt, folgt dem Muster: Observation, Befund, Analyse, Erfragen der Hintergründe, Überlegungen zu möglichen Folgen und – implizit oder explizit – Forderungen.
Nach diesem Prinzip wird auch die Lage an der Volksschule thematisiert. Das Resultat: Die Einführung von Frühfremdsprachen, von neuen Unterrichtsformen und der Lehrplan 21 trüben das Bild beträchtlich ein.

Problematik der Frühfremdsprachen

Schulkinder - Bildungssystem - Hausaufgaben - Schulfächer - Schreiben lernen - Glarean Magazin
Frühfremdsprachen in der Schule: „Ein nicht kindgerechter pädagogischer Irrweg“?

Wenn der Name des Autors Andreotti bei Anglisten erwähnt wird, dann fällt das Echo oft nicht durchwegs positiv aus: “ We are not amused“. Sie sind der Ansicht, das sei doch der Spielverderber, der gegen das Englisch sei. Das grenzt indessen an eine üble Verdrehung der ganzen Wahrheit. Dem Autor geht es vorerst grundsätzlich um die Problematik der Frühfremdsprachen Englisch und Französisch. Deutliche Worte fallen hier. Der Fremdsprachunterricht in der Primarschule ist ein kostspieliger und „nicht kindgerechter pädagogischer Irrweg“. Beweise fehlen, welche belegen könnten, dass die Langzeitwirkung von Frühenglisch und Frühfranzösisch einmal positiv bilanziert werden könnte. Nach den ersten Lebensjahren erwirbt das Kind die Sprache zusehends analytischer, nicht mehr ganzheitlich. Zentral sind dabei das Auswendiglernen von Vokabeln und das Erlernen von Grammatikregeln. Das funktioniert aber erfahrungsgemäss nicht vor dem 10. bis 12. Altersjahr, bis zu einem Zeitpunkt, wo das Kind fähig ist, abstrakter zu denken.

Dringend: Ausbau der Sprachkompetenz

Was müsste geschehen? Mario Andreotti befürwortet in vielen seiner Kolumnen mit Vehemenz und zu Recht einen Ausbau der deutschen Sprachkompetenz unserer Jugendlichen. Und so verwundert es nicht, wenn er fordert, die Stundendotation für den Frühfremdsprachenunterricht müsste dem Deutschunterricht zugesprochen werden. Besonders in der Deutschschweiz. Hier gilt es ja vorerst richtig Hochdeutsch zu lernen. Eine subtile Argumentation, die noch durch eine weitere, durchaus nachvollziehbare Überlegung ergänzt wird. Bei diesem angedachten Szenario könnte in Übereinstimmung mit der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger in Sachen Fremdsprachenerwerb durchaus später begonnen werden. Nach dem Grundsatz: besser spät und intensiv als früh und halbbatzig.

Neues ist nicht immer besser

Mario Andreotti - Literatur-Autor - Glarean Magazin
Kultur-Rufer und Sprach-Warner: Mario Andreotti

Moderne Unterrichtsformen und die Diskreditierung des guten Frontalunterrichts, in den sich ja durchaus phasenweise andere soziale Lernformen integrieren lassen, führen nach Mario Andreotti in eine Sackgasse. Selbstorganisiertes Lernen, SOL, auf der Primarstufe ist in der Tat schlichtweg eine Überforderung des Kindes. Hier folgt der Autor nachvollziehbar dem Kinder- und Jugendpsychologen Allan Guggenbühl. Die Kinder sind gar nicht in der Lage Lernprozesse selbst zu steuern und fühlen sich gestresst, allein gelassen. Dies zumal auch, da die Lehrkraft lediglich diskret als Coach, als Lernbegleiter ihre Rolle wahrnehmen darf. Wie der Lehrplan 21, Mario Andreotti nennt ihn aus guten Gründen einen „Blindenführer“, mit diesem Konzept kompatibel sein soll, ist recht rätselhaft. Einerseits wollen Bildungsexperten Kindern möglichst viel Freiheit zugestehen, andererseits sollen deren Kompetenzen mit äusserst elaborierten Rastern beurteilt werden.

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Wiederholt realisiert der Leser bei der Lektüre der Kolumnen, dass das Neue nicht immer das Bessere ist. Das gilt schliesslich in besonderem Masse für das Thema Digitalisierung und Schule. Mario Andreotti glaubt nicht, dass die digitalen Möglichkeiten eine erfolgreiche schulische Zukunft in die Wege leiten werden. Es ist schon fragwürdig, dass die Schule mit dem Kauf der neuen Gerätschaften in den Sog des Marktes gelangt und Gefahr läuft, sich an Modellen des unternehmerischen Wirtschaftens zu orientieren und so pragmatisch denkende Menschen heranbilden kann. Er glaubt nicht, dass die Begeisterung für die digitalen Medien die Lernleistung entscheidend erhöhen wird. Untersuchungen geben ihm Recht. Ein Mehrwert auf Grund des Einsatzes dieser Medien ist bis heute nicht nachgewiesen. Doch die Illusion bleibt, nämlich dass das Lernen dank Mausklicks ohne Anstrengung erfolgen kann und die Schüler sich im Grunde alles selbst beibringen können.
Studien der letzten Jahre – man darf wohl auch an die Hattie Studie denken – geben ihm Recht. Erfolgreiches Lernen hängt stark zusammen mit Lehrerpersönlichkeiten, die den Mut haben zu erziehen. Eine Kuschelpädagogik, die den Schülern alles vermeintlich Unangenehme, zu dem übrigens auch Hausaufgaben gehören mögen, abnehmen will, ist nicht zielführend.

Kein Requiem, sondern ein Appell

„Eine Kultur schafft sich ab“ – der Titel des neuen Buches von Mario Andreotti ist nicht als Requiem, als Abgesang auf eine alte Kultur zu verstehen. Es geht vielmehr um einen dringenden Appell, Neues zu überdenken. Viel steht auf dem Spiel. Adressaten sind vor allem die Akteure, welche den neuen Lehrkonzepten zum Durchbruch verholfen haben. Bildungsforscher, Bildungsexperten, Bildungspolitiker. Es richtet sich aber auch an die Öffentlichkeit. Dem hervorragenden Buch ist eine möglichst grosse Verbreitung zu wünschen. ♦

Mario Andreotti: Eine Kultur schafft sich ab – Beiträge zu Bildung und Sprache, 120 Seiten, FormatOst Verlag, ISBN 978-3-03895-013-4


Alexander Meier

Alexander Meier - Anglist - Rezensent Glarean MagazinGeb. 1946 in Basel, Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität Zürich, anschliessend Kantonsschullehrer und Anglist sowie Bezirksschulinspektor und Praktikumslehrer für Englisch, nach der Pensionierung Organisation von Englisch-Weiterbildungskursen und Examinator an Maturitätsschulen, seit 2017 Leiter von Workshops für Englischlehrer in Tanzania (Montessori School), lebt in Oftringen/CH

Lesen Sie im Glarean Magazin von Mario Andreotti auch den Essay: Sprachwandel oder Sprachzerfall? Wie Jugendliche heute schreiben

… sowie zum Thema Medien und Literatur den Essay: Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs

ausserdem im Glarean Magazin zum Thema Internet und Sprachkultur: Anton Rinas „ViscaBarca“: Realtalk – Mein Leben als Influencer

Weitere interessante Internet-Beiträge zum Thema Schule und Bildung:

Hauptlernform Projektlernen – Wie geht das? (shift – Schulblog)
Schulvorbereitung – Schuleintritt (Rebecca Finck)

 

 

Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau

Zu ausschweifend, zu fehlerhaft

von Thomas Binder

Wie viele Einsteiger-Lehrbücher in den letzten zehn Jahren über meinen Schreibtisch wanderten, habe ich nicht nachgezählt. Und doch wird man immer wieder mit neuem Herangehen an dieses Thema konfrontiert.
Der aktuellste Versuch heisst „Schach spielen mit Niveau“, im Untertitel „Bewährte Regeln und Strategien für Anfänger und Fortgeschrittene“. Als Autor fungiert Axel Gutjahr aus dem thüringischen Stadtroda.

Axel Gutjahr - Schach spielen mit Niveau - Cover Anaconda Verlag - Glarean MagazinAls Schachspieler, -trainer oder -autor ist Gutjahr meines Wissens bisher nicht hervorgetreten. Auch wird er im Buch nicht näher vorgestellt. Allerdings sind im gleichen Verlag aus seiner Feder und mit entsprechend identischem „niveauvollen“ Titel auch Lehrbücher zum Skat und zum Doppelkopf erschienen. Gutjahr arbeitet also offenbar als Ratgeber-Autor in einem etwas breiteren Feld, und den Eindruck eines Ratgebers wird man auch bei der Lektüre immer wieder haben. Im gleichen Stil könnte der Autor wohl auch Kochrezepte oder Anleitungen für Heimwerker verfassen…

Wortreich und umständlich

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Was bedeutet das? Es bedeutet vor allem, dass wir sprachlich und teilweise auch satztechnisch ein Buch vor uns haben, dass sich von sonstiger Schachlektüre stark unterscheidet. Gutjahr schreibt wortreich und ausschweifend – als schachlich gewandter Leser könnte man auch „umständlich“ sagen. Gewöhnungsbedürftig ist auch die Notation, bei der er die Halbzüge eines Zugpaares mit einem Bindestrich trennt: 1.e4 – e5 2. Sf3 – Sc6. Das sind natürlich Äusserlichkeiten, doch das Vertrauen in den Anspruch des Untertitels wird dabei nicht unbedingt gefestigt.
Schauen wir kurz durch die einzelnen Kapitel des Buches: Es beginnt natürlich mit den Spielregeln, angefangen beim Brettaufbau und schon mit Einschluss der technischen Matts. Nach etwa 30 Seiten Text haben wir die Grundregeln also erlernt. Wie schon angedeutet, wird alles sehr ausführlich und verschwurbelt in langen Texten verpackt.
Leider gibt es mindestens einen gravierenden Fehler bei der Erklärung des Remis durch Stellungswiederholung. Dieses kommt nur als „Dauerschach“ vor und verlangt zudem eine Wiederholung der gleichen Züge. Spätestens an dieser Stelle war mein Vertrauen in das Buch unwiederbringlich erschüttert.

Grundlegende Schach-Techniken

Auf den nächsten knapp zehn Seiten geht es um grundlegende Techniken wie Fesselung und Gabeln, natürlich auch wieder sehr ausschweifend erklärt. Lebhafter wird es auf den nächsten sechs Seiten mit der Präsentation einiger bekannter und immer wieder beeindruckender Mattkombinationen, etwa das Libellenmatt, Bodens Matt oder jenes der Anastasia. Diese in Schachkreisen bekannten Bezeichnungen kommen in der ausführlichen Beschreibung der Kombinationen allerdings nicht vor.

Leseprobe aus Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau (Anaconda Verlag 2019) Glarean Magazin
Leseprobe aus Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau (Anaconda Verlag 2019)

In der Folge geht es um die drei Teile der Schachpartie: Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel. Mit Abstand den grössten Rahmen nimmt dabei die Eröffnung ein. Etwa 40 Seiten widmet Gutjahr diesem Abschnitt. Das Wichtigste steht dabei auf jener einen(!) Seite, auf der die Grundprinzipien des Partieanfangs erklärt werden: Figurenentwicklung, Besetzung des Zentrums und Königssicherheit.
Den gleichen Raum verwendet Gutjahr darauf, zu erklären, warum nach 1.e4 e5 2.Sf3 der Zug 2.- Ld6 nicht eben zu empfehlen ist (der zudem per Druckfehler als 2.- Lf6 vorgestellt wird). Es folgen grundlegende Varianten und kurze Erläuterungen zu einigen willkürlich ausgewählten Systemen. Hier hat man stellenweise den Eindruck eines gediegenen Schachbuches – um gleich danach zwei(!) Seiten lang vor den beiden Narrenmatts 1.f3 e5 2.g4?? Dh4# und 1.e3 e5 2.Dh5 Ke7?? 3.Dxe5# gewarnt zu werden.

Oberflächliche Endspiel-Behandlung

FAZIT: „Schach spielen mit Niveau“ von Axel Gutjahr ist ein Einsteiger-Lehrbuch im Ratgeber-Stil, das zwiespältige Eindrücke hinterlässt. Wer als Erwachsener auf dem Weg über ein Buch im Selbststudium das königliche Spiel erlernen will, mag es mit diesem sehr preiswerten Buch versuchen.

Es folgen ca. zehn Seiten über das Mittelspiel. Anhand ausgewählter Partieverläufe stellt der Autor das Zusammenspiel der Figuren in den Blickpunkt. Dieser Ansatz, bei dem die ausführlichen Erläuterungen zur Stärke reifen können, hätte deutlich mehr Umfang verdient.
Das Endspiel-Kapitel ist nicht ganz 20 Seiten lang, beschränkt sich dabei auf einfache Endspiele und bleibt allgemein sehr an der Oberfläche.
Im letzten grösseren Kapitel stellt Axel Gutjahr schliesslich einige Partien von Weltmeistern vor. Die Auswahl fiel (in dieser Reihenfolge) auf Lasker, Capablanca, Fischer, Menchik, Aljechin, Zsuzsa Polgar, Spasski und Kasparow.

Ansprechende Buchgestaltung

Das insgesamt ansprechend gestaltete und durchweg vierfarbig gedruckte Buch hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Wenn sich der Autor an dem Anspruch „… für Anfänger und Fortgeschrittene“ messen lässt, wird er wohl den ersteren längst nicht alle Fragen beantworten, während die anderen nicht mehr viel Erkenntnisgewinn aus dem Werk ziehen können.

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Als Leser kommen erwachsene Schach-Einsteiger in Frage – für ein Kinderbuch fehlen jegliche unterhaltenden oder spielerischen Elemente –, die das königliche Spiel im Selbststudium mittels eines Buches erlernen wollen. Ob diese Klientel gross genug ist, kann man angesichts der zahlreichen anderen Möglichkeiten bezweifeln.
Zudem hätte man sich aus deren Sicht noch einen Ausblick gewünscht, der dem Leser den Weg in einen Schachklub oder zu einem passenden Turnier ebnet. Die Fragen „Wie finde ich den passenden Schachverein und was erwartet mich dort?“ und „Was muss ich wissen, wenn ich mich an mein erstes Turnier wage?“ werden leider nicht beantwortet.
Zusammengefasst: „Schach spielen mit Niveau“ von Axel Gutjahr ist ein Einsteiger-Lehrbuch im Ratgeber-Stil, das zwiespältige Eindrücke hinterlässt. Wer als Erwachsener auf dem Weg über ein Buch im Selbststudium das königliche Spiel erlernen will, mag es mit diesem sehr preiswerten Buch versuchen. ♦

Axel Gutjahr: Schach spielen mit Niveau – Bewährte Regeln und Strategien für Anfänger und Fortgeschrittene, Anaconda Verlag, 144 Seiten, ISBN 978-3730607633

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Schachpädagogik auch das
Interview mit dem Schach-Autor Reinhold Ripperger

… sowie zum Thema Schach-Tricks über
Gerhard Kubik: Die Psychotricks der Schachprofis

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Das Sudoku-Quartett im Oktober 2019

Unbeschwerter Zahlen-Puzzle-Spass

von Walter Eigenmann

Neue leichte Sudoku 1-4 - Oktober 2019 - Aufgaben - Glarean Magazin
Das Glarean Magazin wünscht viel Spass beim Knobeln der vier neuen, extra-leichten Sudoku (Copyright 10/2019 by Walter Eigenmann)

Rätsel zum Ausdrucken (pdf-datei)

Sudoku – die Regeln

Ein Sudoku besteht aus 9 x 9 Feldern, die zusätzlich in 3 x 3 Blöcken mit 3 x 3 Feldern aufgeteilt sind. Jede Zeile, jede Spalte und jeder Block soll alle Zahlen von 1 bis 9 jeweils genau einmal enthalten.
In ein paar der Felder sind bereits Zahlen vorgegeben. Bei einem Sudoku darf es nur eine mögliche Lösung geben, und diese muss rein logisch gefunden werden können.


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Für alle Freunde von Extrem-Sudoku hier die Buch-Empfehlung:

Sudoku Extrem – 99 Zahlen-Rätsel für Könner und Kenner

Walter Eigenmann: Sudoku Extrem - 99 Zahlen-Puzzles für Könner und Kenner
Walter Eigenmann: Sudoku Extrem – 99 Zahlen-Puzzles für Könner und Kenner

Knobeln Sie im Glarean Magazin zum Thema Denksport auch das
Sudoku-Rätsel vom Juni 2018

… sowie das
Sudoku-Rätsel vom August 2017

Weitere interessante Sudoku- und Puzzle-Seiten:

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Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung

„Sprache ist ein komplexer biokultureller Hybrid“

von Walter Eigenmann

gemäss klassischer Neurobiologie der Sprache weist unsere linke Gehirnhälfte zwei grosse Sprachräume auf: Der Broca-Bereich im Frontallappen verantwortet die Produktion von Sprache (= Sprechen und Schreiben), während das Wernicke-Areal im Temporallappen das Verstehen von Sprache unterstützt (= Hören und Lesen). Jüngste Ergebnisse der neurobiologischen Sprachforschung weisen nun darauf hin, das dies eine zu undifferenzierte Sichtweise ist.

Science Magazine - Language and the brain - Glarean MagazinEine neue Untersuchung „Die Neurobiologie der Sprache jenseits der Einzelwortverarbeitung“ des niederländischen Psycholinguistikers und Neurobiologen Peter Hagoort vom Max-Planck-Institut in Nijmegen, vor einigen Tagen publiziert in dem Wissenschaftsmagazin Science, widerspricht nun dieser verhältnismässig „primitiven“ Darstellung der menschlichen Sprachkompetenz: „Die klassische Sichtweise ist weitgehend falsch. […] Sprache ist unendlich komplexer als das Sprechen oder Verstehen einzelner Wörter, worauf das klassische Modell basiert.“

Unabdingbar fürs Verstehen: Der Kontext

Denn während Wörter zu den elementaren Bausteinen der Sprache gehören, brauchen wir auch Gehirnoperationen, um Wörter zu strukturierten Sätzen zu kombinieren. Hagoort bringt das Beispiel: „Der Herausgeber der Zeitung liebte den Artikel“. Um eine solche Äusserung adäquat zu interpretieren, reiche es nicht aus, die Sprachlaute (oder Buchstaben) sowie die Bedeutung der einzelnen Wörter zu kennen: „Wir brauchen auch Informationen über den Kontext (Wer ist der Sprecher?), die Intonation (ist der Ton zynisch?) und das Wissen über die Welt (was macht ein Redakteur?)“

Peter Hoogart - Neurobiologe - Glarean Magazin
Peter Hagoort

Peter Hagoorts Forschungen zeigen noch darüber hinausgehende Befunde. So deckten neuroanatomische Studien auf, dass die bereits erwähnten Gehirn-Sprachregionen Broca und Wernicke ihrerseits nicht nur weitere Sprachgebiete aufweisen, sondern dass sich ihre Sprachaktivitäten bis hin zum Parietal-Lappen erstrecken; vormals hinsichtlich Sprache unterschätzte Hirnareale wie die rechte Hemisphäre und das Kleinhirn setzen deutlich mehr Verbindungen als angenommen ein.

Prozessbeschleunigung durch aktive Voraussage

Hagoort weiter: „Unser Gehirn verarbeitet Sprache mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Unmittelbarkeit in einem dynamischen Netzwerk von interagierenden Hirnarealen. Alle relevanten Informationen werden sofort verfügbar, wenn wir beginnen, die Bedeutungen einzelner Wörter zu kombinieren und die verschiedenen Informationsquellen zu vereinen. Um diesen Prozess zu beschleunigen, sagt unser Gehirn aktiv voraus, was als nächstes kommt.“

MRI Magnetresonanztomographie - Gehirn-Bildgebende Verfahren - Glarean Magazin
Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanz-Tomographie MRI erlauben neurobiologische Forschungen wie z.B. das Neuroimaging

Doch damit nicht genug: Die Sprache ist oft „indirekt“. Hagoort führt aus, dass Zuhörer die Absicht eines Sprechers ableiten müssen, um zu verstehen, was der Sprecher meint. Beispielsweise könnte „Es ist heiss hier“ auch als Aufforderung zum Fensteröffnen verstanden werden und nicht als Aussage über die Temperatur. Hagoort: „Neuroimaging-Studien zeigen, dass solche pragmatischen Schlussfolgerungen von Hirnarealen abhängen, die an der ‚Theorie des Geistes‘ beteiligt sind, oder vom Denken über die Überzeugungen, Emotionen und Wünsche anderer Menschen“.
Da die meisten zwischenmenschlichen Äusserungen Teil eines Gesprächs sind, werden einige Informationen in der Regel bereits zwischen dem Sprecher und dem Zuhörer ausgetauscht. Die Redner stellen sicher, dass sie „neue Informationen“ markieren, indem sie die Reihenfolge der Wörter oder Tonhöhen verwenden, um die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu bündeln.

Sprache als multiples Brain-Network

 Die Geburt des Bewusstseins - Über die Entwicklung des frühkindlichen Gehirns - Hugo Lagercrantz Springer-Verlag
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Sprache sei ein „komplexer biokultureller Hybrid“, fasst Hagoort seine Studien zusammen. „Aber was ist die Essenz der menschlichen Sprache? Ist es eine Syntax, die im Broca-Bereich zu finden ist?“ Hagoort stellt diese alte Vorstellung in Frage: „Es hilft nicht, das Gesamtbild der menschlichen Sprachkenntnisse zu erfassen, wenn man zwischen wesentlichen und unwesentlichen Aspekten von Sprechen und Sprache unterscheiden will“. Stattdessen plädiert der Neurowissenschaftler für eine „multiple Brain-Network-Ansicht von Sprache, in der einige Operationen gut mit anderen kognitiven Bereichen wie Musik und Arithmetik geteilt werden könnten“. ♦

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Neurobiologie auch über Lutz Jäncke: Macht Musik schlau?

… sowie zum Thema Sprachpsychologie über Esther Kinsky: Fremdsprechen – Das Übersetzen


English Translation

„Language is a complex biocultural hybrid“

by Walter Eigenmann

According to the classical neurobiology of language, our left brain has two large language areas: The Broca area in the frontal lobe is responsible for the production of speech (= speaking and writing), while the Wernicke area in the temporal lobe supports the understanding of speech (= hearing and reading).

A new study „The Neurobiology of Language Beyond Single Word Processing“ by Dutch psycholinguist and neurobiologist Peter Hagoort of the Max Planck Institute in Nijmegen, published a few days ago in the scientific journal Science, now contradicts this relatively „primitive“ representation of human language competence: „The classical view is largely wrong. […] Language is infinitely more complex than speaking or understanding individual words, on which the classical model is based.“

Indispensable for understanding: The context

While words belong to the elementary building blocks of language, we also need brain operations to combine words into structured sentences. Hagoort gives the example: „The editor of the newspaper loved the article“. In order to interpret such an expression adequately, it is not enough to know the speech sounds (or letters) and the meaning of the individual words: „We also need information about the context (who is the speaker?), the intonation (is the tone cynical?) and the knowledge of the world (what does an editor do?)“.

Picture: Peter Hagoort

Peter Hagoort’s research shows further findings. For example, neuroanatomical studies revealed that the brain language regions Broca and Wernicke, which have already been mentioned, not only have other language regions, but that their language activities extend as far as the parietal lobe; previously underestimated brain areas such as the right hemisphere and the cerebellum use significantly more connections than assumed.

Process acceleration through active prediction

Hogaart continues: „Our brain processes speech with amazing speed and immediacy in a dynamic network of interacting brain areas. All relevant information becomes immediately available as we begin to combine the meanings of individual words and unite the different sources of information. To accelerate this process, our brain actively predicts what comes next.“

Picture: Imaging methods such as magnetic resonance imaging (MRI) allow neurobiological research such as neuroimaging.

But that’s not all: the language is often „indirect“. Hagoort explains that listeners must derive the intention of a speaker in order to understand what the speaker means. For example, „It’s hot here“ could be understood as an invitation to open a window rather than a statement about the temperature. Hagoort: „Neuroimaging studies show that such pragmatic conclusions depend on brain areas involved in the ‚theory of mind‘ or on thinking about other people’s beliefs, emotions and desires.
Since most interpersonal expressions are part of a conversation, some information is usually already exchanged between the speaker and the listener. Speakers ensure that they mark „new information“ by using the order of words or pitches to focus the listener’s attention.

Language as a multiple brain network

Language is a „complex biocultural hybrid“, Hagoort summarises his studies. „But what is the essence of human language? Is it a syntax that can be found in the Broca area? Hagoort questions this old notion: „It doesn’t help to grasp the whole picture of human language skills if you want to distinguish between essential and insignificant aspects of speech and language. Instead, the neuroscientist argues for a „multiple brain network view of language in which some operations could well be shared with other cognitive domains such as music and arithmetic. ♦

Wolfgang Reus: So was und wie (Gedichte)

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Poesie und Sprachraffinesse

Wolfgang Reus: So was und wie – Gedichte (1992)

Wolfgang Reus - So was und wie - Gedichte 1992 - Scriptum Verlag - Glarean MagazinDer deutsche Satiriker Wolfgang J. Reus hat sich schon Mitte der 1980er Jahre insbesondere durch seine humorvoll-maliziöse Kurzprosa im legendären Schweizer „Nebelspalter“ sowie in grossen Zeitungen wie der „Frankfurter Rundschau“, der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Sächsischen Zeitung“ u.v.a. einen Namen geschaffen.
1992 legte er im ehemaligen SCRIPTUM Verlag, eingeladen von dessen damaligem Herausgeber Walter Eigenmann, unter dem Titel „So was und wie“ erstmals eine grössere Auswahl auch seines lyrischen Schaffens vor.

Den Gedichten von Wolfgang Reus eignet dabei in hohem Masse, was schon seine satirischen Arbeiten bekanntgemacht hatte: Sprachliche Raffinesse, formales Kalkül, geschliffener Wortwitz – und eine dichterisch ganz originale Sichtweise voller Engagement, ja teils Emotionalität, doch immer ohne alle Larmoyanz.

Wolfgang Reus - Glarean MagazinTragischerweise fand dieser Dichter, Satiriker und Menschenfreund einen viel zu frühen Tod. Sein Gedichtband „So was und wie“ sollte seine erste und zugleich letzte eigene Buchpublikation gewesen sein.

Aufgrund eines grösseren Restbestandes können wir hier exklusiv diesen (im regulären Buchhandel vergriffenen) Lyrik-Band zu einem stark reduzierten Vorzugspreis nochmals anbieten!

Wolfgang Reus: So was und wie – Gedichte, Scriptum Verlag 1992, 56 Seiten
SFR 8.- (inkl. Versand) ♦ Euro 10.- (inkl. Versand) ♦ Nur gegen Vorkasse

Bestellungen an:
glarean.magazin@gmail.com

Jacques Stotzem: Places we have been (Audio-CD)

Melodisch frei entfaltete Gitarre

von Horst-Dieter Radke

Er muss nichts mehr beweisen, denn in seiner nunmehr fast vierzigjährigen Karriere hat der belgische Gitarrist Jacques Stotzem ausreichend gezeigt, dass er nicht nur ein versierter Steelstring-Gitarrist ist, sondern auch ein ganz passabler Komponist und Arrangeur. Stotzem gehört nicht zu denen, die Pattern aneinanderreihen, sondern baut seine Kompositionen logisch und harmonisch auf. Melodien werden nicht in ein Akkordgerüst geklemmt, sondern entfalten sich frei und nicht selten von kontrapunktischen Basslinien untermalt. Seine harmonischen Strukturen sind dem Jazz näher als einfachen Folk- und Blues-Songs. Nun legt er mit „Places we have been“ ein weiteres Zeugnis seiner Schaffenskraft auf.

Jacques Stotzem - Places we have been - Musik-CD Gitarre - Acoustic Music Records - Glarean MagazinNeben seinen eigenen Kompositionen arrangiert Stotzem Songs aus Rock und Pop für die Akustikgitarre, von Jimi Hendrix und Rory Gallagher beispielsweise. Letzterem hat er sogar eine eigene CD gewidmet: To Rory (2015).

Ruhige musikalische Reise

Die aktuelle CD „Places we have been“ – die 18. in seinem Oeuvre – enthält neun grösstenteils ruhige Kompositionen, die schon beim ersten Hören für sich einnehmen. Doch erst beim wiederholten Auflegen entfalten sie ihre ganze Schönheit. Stotzem will mit diesem Album an die Stationen seiner musikalischen Reisen erinnern, denn er ist Gast auf den Konzertbühnen der ganzen Welt. Wo die einzelnen Stationen liegen, erfährt der Hörer nicht, denn die Titel sind recht allgemein gehalten und Reminiszenzen an bestimmte Regionen sind kaum zu erkennen.

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Er spielt von Plätzen, an denen „wir“ waren (Places we have been), beschreibt musikalisch erlebte Momente, die ewig andauern könnten (It could last forever), erzählt von Aufbruch (Morgen geht’s weiter) und Ankommen im Nirgendwo (Middle of nowhere), von ruhigen Momenten (La tranquillté des jours simples) und nostalgischen Erinnerungen an einen Abend (Nostalgie d’un soir). Das ist so unbestimmt benannt, dass sich der Hörer nicht von fremden Erinnerungen gefangen nehmen lassen muss, sondern eigene daran knüpfen kann. Stotzems musikalische Reise wird so auch zu einer eigenen, selbst erlebten.

Nahtlos-kunstvolle Übergänge

Jacques Stotzem - Gitarrist - Places we have been - Glarean Magazin
Jacques Stotzem (*1959)

Die Werbung spricht von der „Leichtigkeit der Melodielinien“. Für mich hört sich das immer an wie die Werbung für Schokolade, die „so leicht schmeckt“. Worte, die tatsächlich keinen Sinn ergeben und nur einen subjektiven Eindruck beim Leser oder Hörer erzeugen sollen. Was aber klar wird beim Hören, dass es eben tatsächlich Melodien sind, die Stotzem als Grundlage seiner Kompositionen nimmt und auch deutlich ausarbeitet, keine leeren Harmonien, keine Akkordcluster oder einfach nur kurze Riffs. Man kann mitsummen, wenn man will. Man könnte mitsingen, wenn man sich einen Text dazu einfallen lässt. Die Melodien sind nicht einfach gebaut, aber durchaus eingängig. Man hört diese Melodien auch dann noch, wenn der Gitarrist das Zupfen/Picking verlässt und perkussive Schlagtechniken anwendet. Er beherrscht dies so kunstvoll, dass es fast nicht bemerkt wird, wenn er von der einen zur anderen Technik wechselt. Das geht so nahtlos ineinander über, dass die Übergänge als solche nicht auffallen.

Anfangstakte des Titelstücks der CD "Places we have been" des Gitarristen und Komponisten Jacques Stotzem
Anfangstakte des Titelstücks der CD „Places we have been“ des Gitarristen, Arrangeurs und Komponisten Jacques Stotzem

Fazit: „Places we have been“ von Jacques Stotzem ist nicht nur den Afficionados der Steelstring-Gitarre zu empfehlen, sondern allen, die gern ruhige, anspruchsvolle Musik hören. Man hört sie sich nicht so schnell leid – wenn überhaupt -, und findet immer wieder etwas in diesen kleinen „Miniaturen“ zu entdecken. Dieser ruhige Musiker gibt etwas von seiner Unaufgeregtheit auch an seine Hörer weiter – selbst dann, wenn die Momente der Spannung und Entspannung häufig wechseln. Kaufempfehlung. ♦

Jacques Stotzem, Gitarre: Places we have been (Audio-CD), Acoustic Music Records

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Thema Gitarren-Musik auch über Jakob Bangso: Connect – Electronic Works for Guitar (Audio-CD)

… sowie über das neue Harmonik-Kompedium des Gitarristen Mathias Löffler: Rock & Jazz Harmony


English translation

Melodically free unfolded guitar

by Horst-Dieter Radke

He doesn’t have to prove anything anymore, because in his almost forty-year career the Belgian guitarist Jacques Stotzem has sufficiently shown that he is not only an experienced steelstring guitarist, but also a quite passable composer and arranger. Stotzem does not belong to those who string patterns together, but builds his compositions logically and harmoniously. Melodies are not clamped into a chord structure, but unfold freely and often accompanied by contrapuntal bass lines. His harmonic structures are closer to jazz than simple folk and blues songs.

Besides his own compositions Stotzem arranges songs from rock and pop for the acoustic guitar, by Jimi Hendrix and Rory Gallagher for example. He even dedicated a CD to the latter: To Rory (2015).

Quiet musical journey

The current CD „Places we have been“ – the 18th in his oeuvre – contains nine mostly quiet compositions, which already capture the listener’s attention on first hearing. But only when they are repeated do they unfold their full beauty. With this album Stotzem wants to recall the stages of his musical journeys, because he is a guest on concert stages all over the world. The listener doesn’t know where the individual stations are, because the titles are quite general and reminiscences of certain regions are hardly recognizable.

He plays from places where „we“ were (Places we have been), describes musically experienced moments that could last forever (It could last forever), tells of departure (Morgen geht’s weiter) and arrival in nowhere (Middle of nowhere), of quiet moments (La tranquillté des jours simples) and nostalgic memories of an evening (Nostalgie d’un soir). This is so vaguely named that the listener does not have to let himself be captivated by foreign memories, but can tie his own to them. Stotzem’s musical journey thus also becomes his own, self-experienced one.

Seamless, artistic transitions

The advertising speaks of the „lightness of the melody lines“. For me, it always sounds like advertising chocolate that „tastes so light“. Words that really don’t make sense and are only meant to make a subjective impression on the reader or listener. But what becomes clear when listening to them is that they are actually melodies that Stotzem takes as the basis of his compositions and also clearly elaborates, no empty harmonies, no chord clusters or just short riffs. You can hum along if you want. You could sing along if you come up with a text. The melodies are not simple, but catchy. You can still hear these melodies even when the guitarist leaves plucking/picking and uses percussive percussion techniques. He masters this so artfully that it is almost unnoticed when he changes from one technique to the other. This merges so seamlessly that the transitions as such are not noticeable.

Conclusion: „Places we have been“ by Jacques Stotzem is not only to be recommended to the Afficionados of the Steelstring guitar, but also to everyone who likes to listen to quiet, sophisticated music. You don’t get tired of them so quickly – if at all – and you always find something to discover in these little „miniatures“. This quiet musician also passes on some of his unexcitement to his listeners – even when the moments of tension and relaxation change frequently. Buy recommendation. ♦

Jacques Stotzem, Guitar: Places we have been (Audio-CD), Acoustic Music Records

Monika Rinck: Wirksame Fiktionen (Poetikvorlesungen)

Fiction or Non-Fiction?

von Bernd Giehl

Ich liebe dieses Buch. Ich könnte stundenlang darin lesen. Mein erster Gang führt mich nach dem Nachhausekommen direkt zu ihm. Bevor ich es öffne, streichle ich es. Und jedes Mal zünde ich dann den Kamin an und werfe es ins Feuer. Aber am nächsten Tag liegt es wieder neben meinem Lesesessel.

Monika Rinck - Wirksame Fiktionen - Göttinger Poetik-Vorlesungen - Cover - Literatur-Rezension Glarean MagazinFalls Sie jetzt meinen, der Autor dieser Rezension habe nicht mehr alle Tassen im Schrank, könnten Sie Recht haben. Könnte aber auch sein, dass ich mich zu tief auf diese „Wirksamen Fiktionen“ von Monika Rinck eingelassen habe, in der die Autorin gleich zu Anfang die Geschichte eines Mannes schildert, der von der Polizei verdächtigt wurde, eine Bibliothek in Los Angeles in Brand gesteckt zu haben: „Er verwirrte die Behörden durch einen ganzen Strauss einander widersprechender Aussagen“. Ich zitiere: „Er war da, er war nicht da. Er war vertraut mit der Bücherei; er hatte sie niemals in seinem Leben besucht. Er roch an dem betreffenden Tag nach Rauch, er roch nach gar nichts. Das einzige, was ausser Frage stand: Harry fabulierte gerne. ‘He finds it difficult to give a straight answer‘, one friend told investigators.“
Das ist das Verfahren der modernen Dichtung. Sie lässt sich nicht eindeutig auf eine bestimmte Aussage festlegen. An erster Stelle benutzt sie Metaphern, also Bilder um die Welt zu beschreiben. „Metafores steht auf den Kleinlastwagen griechischer Transportunternehmen. Sie transportieren Güter.“

Fragen über Fragen

Monika Rinck - Lyrikerin - Literatur-Dozentin - Glarean Magazin
Die Lyrikerin und Literatur-Dozentin Monika Rinck

Und dann, wenn man glaubt, die Aussage endlich halbwegs verstanden zu haben, kommt eine Szene (Geschichte, Gedicht) die alles wieder verunklart. „Das Pferd (und das Schiff) waren vergleichsweise frühe Transportmittel. Die Domestizierung des Pferdes wird auf das dritte vorchristliche Jahrtausend datiert. Das mongolische Grossreich verdankt sich massgeblich der organisierten Reiterei. Das Pferd wechselte um ein Säckchen Radium den Besitzer. Der Messias betrachtete dies in lockerer Garderobe.“
Wurde Radium nicht erst 1898 von Marie Curie entdeckt? Was kann es da mit dem Reich von Dschingis Khan (12./13.Jahrhundert) zu tun haben? Und was hat – bitte – der Messias mit all dem zu tun?
Fragen über Fragen. Man kann sich in ihnen verlieren. Aber heute nicht. Heute müssen wir weiter. Wir wollen ja schliesslich irgendwo ankommen. Nur wo, das ist noch die Frage. An einer Grenze vielleicht? – Schon an diesem Beispiel merkt man, dass Monika Rinck Lyrikerin ist. Eine sehr bekannte zudem. Lyriker tun so etwas. Sie verbinden Begriffe aus weit voneinander entfernten Zusammenhängen miteinander und kommen dadurch (manchmal) zu überraschenden Erkenntnissen.

Ein gelahrtes Buch

Richard David Precht: Sei du selbst - Eine Geschichte der Philosophie (Band 3) - Goldmann Verlag
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Es ist schon ein gelahrtes Buch, geschätzter Leser, und wenn du jetzt glaubst, du habest dich verlesen, denn da müsse „gelehrt stehen, dann hast du dich leider getäuscht. Es zitiert einige Gelehrte, die sich mit der Theorie des Gedichts auseinandergesetzt haben, von Platon über Hegel bis Käte Hamburger (1996-1992), und ebenso kommen Lyriker des 21. Jahrhunderts zu Wort.
Worum also geht es? Vordergründig um die Frage, ob Gedichte „Fiktion“ seien, oder ob sie eher „Non-Fiction“ sind und damit ins Sachbuch-Regal gehören. Monika Rinck tendiert zu „Non Fiction“ und nimmt dazu einen eigenartigen Begriff von „Fiktion“ zu Hilfe: Der Begriff leite sich von (lateinisch) „fingere“ ab und bedeute „Täuschung“. Dabei bezieht sie sich auf die schon erwähnte Käte Hamburger.
Gewiss: Romane und Erzählungen bilden die Wirklichkeit nicht im Massstab 1:1 ab; sie bilden sie neu (manchmal mehr, manchmal weniger), aber ist das „Täuschung“? Erzählende Prosa steht m.E. ebenso in einer Beziehung zur Wirklichkeit wie Lyrik, nur dass diese Beziehung in der Lyrik schwerer zu greifen ist, weil Lyrik vieldeutiger ist.
Aber so genau ist die Frage wohl nicht zu entscheiden, und Monika Rinck, diese geniale Spielerin, tut selbst alles, um sie in der Schwebe zu halten. Nicht zuletzt dadurch, dass sie verschiedene Leitmotive – z.B. das Säckchen mit Radium, das Motiv des beschädigten Kessels oder das der brennenden Bibliothek – wieder und wieder erwähnt, miteinander vermischt. Und auf Seite 43 fragt sie sich, ob die Frage von Wahrheit und Lüge das Fiktionale nicht genau so betrifft wie das Dokumentarische, also Nicht-Fiktionale.

Die Grenze als Metapher…

Zaun - Grenzen - Glarean Magazin
Die „Grenze“ als lyrische Metapher

Man wird von diesem Buch keine endgültigen Antworten erwarten können. Dazu ist es viel zu spielerisch angelegt. Es arbeitet nicht wissenschaftlich, also nicht mit Argument und Gegenargument und Entkräftung des Gegenarguments, sondern es springt von einer Assoziation zur nächsten, ohne dabei den roten Faden ausser Acht zu lassen.
Ein wichtiges Thema ist die „Grenze“ als Metapher, aber ebenso als (oft grausame) Wirklichkeit, die Menschen daran hindert, in ein anderes Land zu kommen. Natürlich ist in den letzten Jahren die „Grenze“ immer mehr zum Thema geworden, sei es das Mittelmeer, das Europa von den Ländern des Südens trennt, oder sei es die zwischen Mexiko und den USA. Wo Donald Trump gern eine Mauer bauen würde, wenn man ihn nur liesse.

… und das Gedicht als Politikum

Ob die Grenze Thema von Gedichten sein sollte? Monika Rinck bejaht dies vehement und zitiert auch ein Gedicht von Wendy Trevino, einer in San Francisco lebenden Autorin. Bei ihr wie auch bei anderen, zum Teil im Exil lebenden Autoren, mit denen Rinck sich verbunden fühlt und die sie zum Teil auch ins Deutsche übersetzt hat, wird dann klar, was die Autorin mit „Non Fiction“ meint: es sind Gedichte, die vehement politisch sind.
Ich denke, in diese Richtung geht es. Monika Rincks Begriff von „Fiction“ (also erzählender Prosa) scheint mir etwas einseitig; vor allem von amerikanischen Serien bei „Netflix“ geprägt, wo es vor allem um Gewalt als Selbstzweck geht, während Gedichte ihrer Meinung nach eher die ganze Wirklichkeit abbilden. So subjektiv sie auch sein mag; so schliesst sie doch auch das ein, wovor wir oft genug die Augen verschliessen. ♦

Monika Rinck: Wirksame Fiktionen, Göttinger Lichtenberg-Poetikvorlesungen 2019, 102 Seiten, Wallstein Verlag, ISBN 978-8353-3555-4

Lesen Sie im Glarean Magazin zum Themenkreis Literatur-Poetik-Lyrik auch die folgenden Beiträge:


Walter Eigenmann - In medias res - Aphorismen
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