«An der Bar» von Walter Ehrismann
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Die Sensation der Alltäglichkeit
Walter Eigenmann
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Wenn man sich als Leser, quasi zur Ouvertüre, etwas kundig macht über einen Autor, dessen neuestes Buch aufzuschlagen man im Begriffe ist, und dabei erfährt, dass er einst als Gestaltungs-Künstler begann, nach dem Studium lange als Sekundarlehrer in der Pädagogik wirkte, seit 42 Jahren eines schweren Unfalls wegen im Rollstuhl arbeitet, heute als Ehemann und Vater zweier Kinder im schweizerischen Urdorf lebt, in all den Jahren zahlreiche kleinere und größere Text-Sammlungen publizierte, doch gleichzeitig sein bildnerisches und graphisches Arbeiten zu hoher, öffentlich vielfach gewürdigter künstlerischer Reife vorantrieb, – wenn man sich eine solche Fülle von Lebenserfahrung und -arbeit hinter einem Autoren-Namen vorstellen muss, dann klappt man das betreffende Buch erwartungsvoller auf als irgend eines. Dann hat einem einer was zu sagen.
Des Zürcher Kunstdruckers, Malers und Schriftstellers Walter Ehrismanns «An der Bar (und andere Texte)» sagt es in Form von 14 Kurzgeschichten. Und zwar so, dass man bei ihrer Lektüre zwischen jeder ein paar Stunden Pause bräuchte. Nicht deswegen, weil sie besonders kompliziert oder intellektuell, hochstehend metaphorisch oder reflektierend, gar analytisch daherkämen. Auch stilistisch geben sich diese Kürzesterzählungen allesamt – von einem bildenden Künstler überraschend – betont unartifiziell, ja schlicht; nicht wirklich exotisch sind ebenso Handlungen und Geschehnisse, auch wenn durchaus mal ihre Orte ein wenig Fern-Kolorit aus dem portugiesischem Braganca, dem russischen St. Petersburg, dem andalusischen Cordoba oder dem griechischen Aigina reinmischen.
Nein, das «Programm», das Ehrismanns 14 «Bar»-Texte «im Innersten» zusammenhält, ist vielmehr jenes, das am Ende der wald-mythischen Geschichte «Wild Wechsel» resümiert: «Wie auf dünnem Glas wandelnd, taten wir einen Blick in eine andere Erscheinungsebene, wären da beinahe eingebrochen, unvermittelt…» Unspektakulär, schier trocken, absolut unaufgeregt, ziemlich selten gar mit einem Humor-Zwinkern wird da – ja: Sensationelles ausgebreitet. Die Sensation des Augenblicks. Ehrismann photo-graphiert schreibend «einfache», durchaus «alltägliche» Zustände. Merk-würdige Zustände, allerdings.
Dies lässt sich an keinem der 14 Stücke besser belegen als an dem Dutzend Zeilen der Mini-Story «Oben in St. Petersburg»:
Der Soldat sitzt an einer der Kanalbrücken. Eine
Nebenstraße kreuzt hier den Newskij-Prospekt.
Die Uniformjacke ist verschwitzt. Er raucht Zigaretten.
Lustlos schaut er den Vorübergehenden nach. Die schräg
einfallende Abendsonne spiegelt matt im Seitenblech des
Rollstuhls. Die Beinstümpfe sind mit einer Wolldecke
kaschiert. Seine Mütze liegt im Schoß.
Aus der Menge löst sich eine junge Frau. Sie geht zu
ihm hin. Sie nimmt seinen Oberkörper in die Arme. Sie
wiegt ihn leicht wie ein Kind. Dann legt sie einen
Geldschein in die Mütze und entfernt sich. Er dreht den
Kopf nach ihr, entblößt jetzt sein entstelltes Gesicht.
Gleichgültig, ob nun der Rollstuhl – er findet in diesen Geschichten öfters Erwähnung – als Parallele zur Autoren-Biographie zufällig ist oder nicht: Der kreative Blick des Malers und Graphikers findet und hält schreibend fest, was der alltägliche Zufall herleitet, und der Dichter malt es als literarisch fokussierte Momentaufnahmen.
Oder umgekehrt? Jedenfalls beschreibt der Gesamt-Künstler Ehrismann dieses sein verschränktes Arbeiten folgendermaßen (auf seiner Internet-Site anhand seiner Druck-Radierungen):
«Ich lege die Platten vor mich hin, taste sie lange mit Händen und Augen ab. Wo ich ‘hängenbleibe’, verweile ich, orientiere mich, suche Verbindungen zu anderen Stellen. Mit verschiedenen Werkzeugen […] verdeutliche ich die Spuren und weite sie aus zu einem Liniengespinst, in dessen Verläufe Bündelungen, Strahlen und Mulden sich zum Bildnetz verdichten.»
Dies «Zum Bildnetz verdichten» ist jeder dieser «Bar»-Short-Stories eigen, es sind – wie natürlich alle guten Kurz-Geschichten – Konzentrate, die bis in die einzelnen Wörter hinein «aufs Höhere» verweisen. Bei Ehrismann liest sich das – in der Geschichte «Die Sitzende», wo als Kindheits-Erinnerung der kleine Walter an einem Zürcher Fluss-Quai auf der Bronze-Statue einer nackten Sitzenden rumturnt – beispielsweise so: «Mit der Zeit fühlt sich Bronze kalt an. Und da ich eh pinkeln musste, rutschte ich auf den kühlen Frauenschenkeln nach hinten, verlor die Balance und schlug leicht mit dem Kopf in ihrem Schoße auf. Ich blieb für eine kurze Weile benommen zwischen ihren Beinen liegen. Dann wurde meine Hose feucht.» Welt und Kunst als Gegenstand der Erfahrung, nicht der Reflexion. Respektlosigkeit auch gegenüber dem «Wichtig-Vordergründigen» zugunsten der versteckten Lappalie, die unverhofft zur Essenz eines Lebens gerinnt.
Überhaupt ist der Schriftsteller Walter Ehrismann nicht wirklich ein Erzähler. Das Erfundene in dieser 128-seitigen Texte-Sammlung wäre schnell gelistet. Ehrismann ist vielmehr Stenograph. Ein Kurz-Dokumentarist von belanglosen Momenten, in denen für einen winzigen Augenblick das ganze Phänomen «Dasein» je zusammenschießt. Die kalkulierten Weglassungen des Autors sind das eigentlich Wichtige in diesen «Bar»-Texten, ihr Lesen muss Nach-Dichten werden. «An der Bar (und andere Texte)» handelt vom Mikrokosmos des Lachens und Weinens über dies und das.
Oder wie es der Autor seinen «Jungen Mann» in der letzten Geschichte, als Rückblick auf einen Unfall mit anschließender Schädel-Operation, und in den letzten Sätzen des ganzen Buches quasi in einem kleinsten Anfall von Philosophisch-Theoretischem, sagen lässt: «Wenn ich mir aus Verlegenheit, weil etwas Wichtiges vergessen ging, an den Kopf greife, spüre ich die Löcher links und rechts hinter der Schläfe, die die Schrauben in der Schädelwand hinterlassen haben. Natürlich sind die Wunden längst verheilt, doch wenn ich die Daumen in die Dellen drücke, weiß ich, sie sind noch da, doch sie tun nicht mehr weh. Und dann lange ich wieder und wieder hin in der Gewissheit, diesen Teil des Dramas überlebt zu haben. Die Angst und die Beklemmung damals, sie würden mir die Metallstifte quer durch den Schädel treiben, hat einem milden nestroyschen Lächeln Platz gemacht, desillusioniert zwar und in großer Skepsis gegenüber allem menschlichen Verhalten, auch gegenüber gesellschaftlichen und moralischen Zwängen oder plumper Angeberei, aber erfüllt von tiefer Liebe für unsere Schwächen – überzeugt von der raison d’être, vom Sinn des Lebens.»
Vor genau zehn Jahren begann der Prosaist Ehrismann mit seiner «Durchsicht der Dinge»; 2005 dann seine «Texte in den Wind» (Deutsch/Spanisch), und nun der vorläufige Höhepunkt mit «An der Bar». Eindrücklicher hätte sich der Dichter neben dem Maler nicht als bedeutsame literarische Stimme in der Schweiz zurückmelden können.
Walter Ehrismann, An der Bar (und andere Texte), 14 Kurzgeschichten, Edition Howeg, 128 Seiten, ISBN 978-3-85736-247-7
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