Das Zitat der Woche
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Das moderne «Selbst» und die «Welt»
Peter Sloterdijk
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In der Moderne brechen die Klammern, die im klassischen Denken Reflexion und Leben zusammenhielten, auseinander. Es wird uns immer deutlicher, daß wir im Begriff sind, für Selbsterfahrung und Welterfahrung den gemeinsamen Nenner zu verlieren. Sogar das ehrwürdige Postulat der Selbsterkenntnis gerät heute in den Verdacht, naiv gewesen zu sein, und was einst als Gipfel der Reflektiertheit erschien, steht heute dem Argwohn gegenüber, es sei womöglich nur eine Luftspiegelung, entstanden aus dem Mißbrauch der Reflexions-Metapher. Tatsächlich hat sich der weitaus größte Teil heutiger Objektkenntnisse von jeder Beziehung auf ein Selbst abgekoppelt und steht unserem Bewußtsein in jener ausdifferenzierten Sachlichkeit gegenüber, von der kein Weg mehr «zurück»gebogen wird zu einer Subjektivität.
Im modernen wissenschaftlichen Wissen erfährt nirgendwo ein Ich sich «selbst», und wo dieses sich noch über sich selber beugt, läßt es mit seiner offenkundigen Tendenz zur weltlosen Innerlichkeit die Realien hinter sich. So sind für das heutige Denken Innerlichkeiten und Äußerlichkeiten, Subjektivitäten und Sachen zu «fremden Welten» auseinandergefallen. Damit entfällt zugleich die klassische Prämisse des Philosophierens. Den Satz «Erkenne dich selbst!» verstehen die Modernen längst als Einladung zum Egotrip einer weltflüchtigen Ignoranz. Die moderne Reflexion spricht sich ausdrücklich die Kompetenz ab, Subjektivitäten bruchlos in objektive Welten einzubetten; was sie aufdeckt, ist vielmehr der Abgrund zwischen beiden. Das «Selbst» weiß sich auf geheimnisvolle Weise an eine «Welt» angeschlossen, ohne daß es sich in ihr im Sinne griechischer Kosmologie selbst erkennen könnte; und keine «vermittelnden» Instanzen wie Sozialpsychologie oder Neurophysiologie vermögen daran etwas zu ändern.
Die moderne Selbstreflexion kommt daher bei all ihren «Rück-biegungen» nicht mehr «nach Hause». Die Subjekte wissen sich weder in «sich» noch in ihren Umwelten als «bei sich daheim». Dem radikalen Denken der Moderne enthüllt sich am Selbst-Pol die Leere und am Welt-Pol die Fremdheit, und wie sich ein Leeres in einem Fremden «selbst» erkennen sollte, kann sich unsere Vernunft beim besten Willen nicht vorstellen. ■
Aus: Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Suhrkamp 1983
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