Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Peter Bichsel, Politik&Gesellschaft, Schweizer Literatur, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 28. Juli 2008

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Vom typisch Schweizerischen

Peter Bichsel

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Es fällt mir schwer, etwas typisch schweizerisch zu finden. Dazu zwei Beispiele: Henry Miller schreibt in seinem schwärmerischen Frankreichbuch «Land der Erinnerung», daß man Schriftsteller in Amerika eher abschätzig behandle, und er erzählt über die Hochachtung und Freundlichkeit eines französischen Zollbeamten, als dieser in Millers Pass die Eintragung «Schriftsteller» sah. Für Henry Miller ist das ein Beweis dafür, daß Frankreich ein Land von Kultur ist. Günter Grass las in Zürich. Bei seiner Ankunft in Kloten schaute der Beamte in den Pass, dann schaute er strahlend Grass an und sagte: «Sie sind also Grass.»

Peter Bichsel
Peter Bichsel

Das erste Beispiel halten wir für typisch, das zweite für untypisch. Warum?
Weil wir immer noch nicht so weit sind, eine persönliche Äußerung von jemandem als persönliche Äußerung zu nehmen. Wir sehen immer wieder Nationalcharakter dahinter. Von netten Deutschen sagen wir: «Sie sind nicht typisch deutsch.» Von unangenehmen Franzosen sagen wir: «Sie sind nicht typisch französisch.» So glauben wir auch, ein genaues Bild vom Schweizer zu haben, und ordnen all seine Handlungen positiv und negativ in typisch und untypisch ein.
Halbstarke sind aus diesem Grund keine Schweizer. («Denen tut eine Rekrutenschule gut.») Nonkonformisten sind keine Schweizer. («Die sollen in den Ostblock, wenn es ihnen hier nicht gefällt.») Dienstverweigerer sind keine Schweizer. Wer ungern arbeitet, ist kein Schweizer. Wer nicht dauernd mit Stolz verkündet: «Ich bin Schweizer», der ist kein Schweizer. Und der «echte» Schweizer ärgert sich darüber, daß all diese Unschweizer ein Bürgerrecht haben und so den Fortbestand der typischen Schweiz nicht garantieren.
Hätten die Leute von 1830 und 1848 den Fortbestand der typischen Schweiz garantiert, gäbe es das nicht, was wir als Schweiz bezeichnen. Weil wir uns für typisch halten und auch glauben, für typisch gehalten zu werden, fällt es uns schwer, etwas zu verändern. Wir haben Angst, untypisch zu werden.

Aus Peter Bichsel: Des Schweizers Schweiz, Arche Verlag 1969

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