Das Zitat der Woche
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Kunst als Selbstverständigung
Georg W. Bertram
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Welchen Wert hat Kunst für uns? Warum setzen wir uns für einige Stunden in enge Reihen, um der Aufführung eines Theaterstücks oder musikalischen Darbietungen beizuwohnen? Warum gehen wir durch abgedunkelte Räume, um farbige Aufträge auf Leinwand zu betrachten? Warum stellen wir uns zu Zigtausenden eng gedrängt in Stadien, um Gruppen wie den Rolling Stones oder Stars wie Sting zu lauschen? Die Kunst ist mit eigenartigen Praktiken verbunden, die bei einer distanzierten Betrachtung alles andere als selbstverständlich sind.
Zu der Eigenart der Praxis, die die Kunst darstellt, gehört auch, dass Kunst gemacht werden kann, die für das große Publikum nicht mehr als Kunst in Betracht kommt. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind viele Kunstwerke eine Sache von Spezialisten geworden. Unter anderem in der Musik hat sich die Avantgarde in einer Weise entwickelt, dass das große Publikum über «Katzenmusik» schimpft. In Aufführungen der allermodernsten Musik sitzen oftmals handverlesene Zuhörerinnen und Zuhörer. Vormals war der Künstler der, den das große Publikum für seine Kunstfertigkeit bewunderte. Johann Wolfgang Goethe und Ludwig van Beethoven wurden bereits von vielen Zeitgenossen als Heroen verehrt. Wie kann es dazu kommen, dass das künstlerische Schaffen sich von solcherlei breiter gesellschaftlicher Bestätigung löst?Seltsam mit Blick auf die Kunst ist auch, dass sie irgendwann begonnen hat, sich unaufhörlich mit sich selbst zu beschäftigen. Die Kunst der Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass sie von sich aus die Frage aufwirft, was sie ist. Marcel Duchamps Ready-mades haben das Kunstverständnis lange Zeit provoziert. Ähnlich provokant wirkten die seriellen Arbeiten von Andy Warhol mit ihren Nachbildungen von Konsumgüterverpackungen wie der Campbell-Tomatensuppendose oder von Film-Ikonen wie Marilyn Monroe. Die Provokation liegt bei solchen Arbeiten auch darin, dass es der Kunst nur noch um sich selbst zu gehen scheint. Duchamps und Warhols Kunstwerke stellen den Betrachtern die Frage, inwiefern sie als Kunst zu verstehen sind. Die Kunst ist nicht mehr nur implizit mit dieser Frage verbunden. Sie stellt diese Frage explizit. Augenfällig wird die explizite Selbstreflexivität auch bei dem Stück «4’33″» (1952) von John Cage, bei dem ein Pianist sich für die angegebene Zeit ans Klavier setzt und nichts weiter macht, als den Deckel der Klaviatur zu heben und zu senken, also nicht spielt. Danach steht er wieder auf, das Kunstwerk ist vorbei, und die Zuhörer stehen vor der Frage, was an dem durch das Stück vorgeschriebenen Nichtspiel Kunst ist. Warum, so kann man sich fragen, endet die Kunst nicht in dem Moment, wo sie nichts anderes tut, als Nabelschau zu betreiben? Warum tut solche Nabelschau – grundsätzlich – der Kunst keinen Abbruch?
All diese Fragen müssen […] gewissermaßen als Antworten verstanden werden. Was die Kunst auszeichnet, ist ihre fehlende Selbstverständlichkeit. Auch wenn sie sich nicht in ihrer Fragwürdigkeit inszeniert, ist die Kunst mit der Frage verbunden, inwiefern sie als Kunst gilt. Es ist dies nicht erst die Frage eines ratlosen Publikums, sondern eine Frage, die dem Wert verleiht, den die Kunst für uns hat. Die Kunst ist eine Praxis, die ständig von der Frage begleitet ist, was sie soll. Als solche Praxis kann die Kunst uns vor uns selbst stellen. Kunst muss, wie im ersten Kapitel dargelegt, als eine Form menschlicher Selbstverständigung verstanden werden. Als solche Form der Selbstverständigung kann Kunst nicht selbstverständlich sein.
Mit der Feststellung, die Kunst sei eine besondere Form der Selbstverständigung, ist aber für ein Verständnis der Kunst nur die grundsätzliche Richtung gewiesen. In welchem Sinn die Kunst als eine solche Form fungiert, ist mit der Angabe dieser Richtung noch nicht gesagt. Was heißt Selbstverständigung in der Kunst? Was zeichnet die Kunst als ein Selbstverständigungsgeschehen aus? Wie unterscheidet Kunst sich von anderen Formen der Selbstverständigung? Menschen schreiben Tagebuch oder gehen in Supervisionen. Sie führen Gespräche mit Seelsorgern oder treiben Philosophie. All solche Praktiken können als Selbstverständigungspraktiken begriffen werden. Wodurch unterscheidet sich Kunst ihnen gegenüber? Warum sind Kunstwerke nicht als Tagebucheinträge zu verstehen? ♦Aus: Georg W.Bertram, Kunst – Eine philosophische Einführung, Reclam Verlag 2005
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