Glarean Magazin

Das Zitat der Woche

Posted in Carl Gustav Carus, Literatur, Naturwissenschaften, Psychologie, Wissenschaft, Zitat der Woche by Walter Eigenmann on 15. August 2010

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Von der Notwendigkeit der ganzheitlichen Betrachtung

Carl Gustav Carus

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Betrachten wir den gegenwärtigen Stand der Naturwissenschaften, von welcher Seite wir wollen, so ist nicht zu verkennen, daß die philosophische Seite, die Seele derselben, unverhältnismäßig in ihrer Ausbildung hinter der sinnlichen Seite, gleichsam dem Leibe derselben, zurückgeblieben sei. Eine fast unübersehbare Masse einzelner Beschreibungen und Beobachtungen hat sich gesammelt, und unermüdet werden immer neue Formen, immer verwickeltere Erscheinungen aufgesucht. Weit weniger aber sieht man ein ruhiges und klares Bestreben, die Bedeutung der bekanntesten Formen zu erforschen, in der Mannigfaltigkeit der Phänomene die einfachsten, die Urphänomene, zu erkennen und aus diesen kombinatorisch die Vielheit abzuleiten. […]

Carl Gustav Carus (1789-1889)

Aber das Bedürfnis, hier sich kräftiger zu entwickeln, regt sich unter den mannigfaltigsten Gestalten, und was die Wissenschaft betrifft, so darf uns die Schwierigkeit, es dürfen noch so viele mißlungene Versuche nicht abhalten, nach einem Ziele zu streben, welches uns durch seine Einheit allein das Gegengewicht gegen eine erdrückende Vielheit gewähren kann. Ja, es zeigt sich die Wichtigkeit der Ausbildung dieser Seite auch insofern, als durch die Auffindung gesetzmäßiger Konstruktion der Naturbildungen gleichsam die Rechenprobe auf unsre sinnliche Beobachtung gemacht wird; denn erst wenn der Mensch so weit ist, eine aufgenommene Mannigfaltigkeit gleichsam rekonstruierend, schematisch, einfach und kurz darzulegen, darf er überhaupt sagen, daß er zu einem lebendigen Wissen über diese Mannigfaltigkeit gelangt sei.
Übrigens möge das Aussprechen des Wunsches einer künftigen tiefern Bearbeitung der Naturwissenschaften von philosophischer Seite durchaus nicht als eine Zurücksetzung der beobachtenden Seite betrachtet werden; denn nur als Hinweisung auf die Notwendigkeit gleichmäßiger Ausbildung beider Richtungen sollen diese Worte angesehen sein, und jeder, der die Welt überhaupt nur, inwiefern sie ein Ganzes ist, zu denken vermag, wird von der Notwendigkeit dieser Gleichmäßigkeit sich überzeugt halten; wer hingegen nur Stückwerk sieht und Stückwerk will, wird auch für die Notwendigkeit innern Gleichgewichts wissenschaftlicher Ausbildung keinen Sinn haben, und es wäre vergeblich, für solche Gesinnung Beweise zu häufen, welche notwendig fruchtlos bleiben müssen, wo das Organ sie zu fassen mangelt. ■

Aus Carl Gustav Carus, Welches sind die Anforderungen an eine künftige Bearbeitung der Naturwissenschaften? (1822), in: Natur und Seele, Diderichs Verlag Jena

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Eine Antwort

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  1. amruthgen said, on 15. August 2010 at 19:01

    “Muster des Lebendigen bzw. von Naturereignissen zu finden halte auch ich für sehr wichtig. Darin kann ich Carus zustimmen. Menschen brauchen Strukturen – das liegt in unserer neurophysiologischen Organisation begründet und erleichtert bzw. ermöglicht orientieren. Effizient handeln, können wir, wenn wir uns auch die Frage beantworten können: ‘Was machen wir eigentlich!” und “Was passiert da eigentlich.”
    Im letzten Jahrhundert ist es meiner Meinung nach, sowohl der Physik, als auch der Biologie als auch den Neurowissenschaften gelungen auf ihrem Gebiet Muster zu entdecken.
    Die Physik, kann heute sagen, dass in einem Mesobereich, die seit langem bekannten Naturgesetze gelten, Einstein oder Max Planck hin oder her. Im Mikro- und Makrobereich ist deren Gültigkeit eingeschränkt, bzw. aufgehoben und wir können daher nicht sagen, ob unser Mezobereich auch in der Zukunft immer so gesetzmäßig funktionieren wird, wie er dies in der Vergangenheit immer getan hat. Es ist durchaus möglich, dass Unvorhergesehenes passiert, wie uns auch die zur Zeit berichteten Naturkatastophen in Russland, Pakistan und in Deutschland/Polen wieder deutlich machen.
    Die Biologie hat einen deutlichen Schritt in Richtung Muster erkennen z.B. mit Jakob von Uexküll gemacht, der die Biologie weg von formalen Kategorisierungen – mit dicken Bestimmungsbüchern, die auch weiterhin Sinn machen – angeregt hat, Einzelerscheinungen im Kontext der Lebenswelten der jeweiligen Lebewesen zu betrachten und so Unterschiede zu markieren, die die Verhältnisse zwischen den Lebewesen (Menschen einschließlich) überschaubarer machen.
    Schließlich die Neurowissenschaften, die sagen können, dass unsere neuro-sensorische Ausstattung und deren Organisation wie von selbst funktionieren und zwar nach dem Muster: sensorieren – neuronale Netzwerke bilden – reagieren.
    Sie empfehlen uns Menschen, diese Organisation zu nutzen, anstatt gegenzusteuern.

    Möglicherweise aber hätte dies Carus nicht genügt – anderes kann ich nicht erwähnen, weil ich da erst lange lesen müsste – und er dachte an so etwas wie eine umfassende allgemeingültige Theorie. Dann bliebe mir nur noch zu sagen: Dieser Traum dürfte sich nicht erfüllen. Möglicherweise wäre seine Erfüllung gar nicht wünschenswert.

    gruß monika .


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