Wir nannten ihn Chrzaszcz. Niemand von uns kannte seinen richtigen Namen. Er fragte nach Essen. Als Antwort schlugen sie ihm die Zähne aus. Sie hetzten die Hunde auf ihn. Bösartige Höllentiere. Wir hörten seine Schreie. Hier waren Schreie nichts Ungewöhnliches. Sie waren die Begleitmusik des Tages und der Nacht.
Es trafen immer mehr Züge ein. Vor allem nachts. Mondscheinzüge des Todes. Waggons voller Menschen. Sie kippten sie wie Unrat oder Müll ins Lager.
Ausgemergelte und hagere Gestalten. Hier fiel das nicht auf. Hier sahen alle so aus.
Sie schleiften den Rest seines Körpers in unsere Baracke. Ließen ihn keuchend in seinem Blut liegen. Der neben mir meinte, ihn zu kennen.
„Ich glaube, er war Pianist“, sagte er.
„Warschau?“
„Könnte sein.“
„Und sein Name?“
„Ich weiß es nicht.“
Kann schon sein, dass er Pianist war. Er sprach nie mit uns. Hielt nur noch einige Tage durch.
„Der Mann muss ärztlich versorgt werden.“
Der das gesagt hatte, wurde von den Wachen nach draußen gezerrt. Verschwand für immer. Also hielten wir unsere Mäuler.
Der Pianist bewegte sich einige Male. Schaffte es in die Ecke. Blieb dort. Hob zitternd seine Hände und spielte auf einer unsichtbaren Tastatur.
„Was spielt er?“
„Ich weiß es nicht.“
Die haben ihn einfach zertreten. Wie einen Käfer. Die haben uns alle einfach zertreten.
„Lebt Chrzaszcz noch?“
„Ich weiß es nicht.“
Wir hoben die Köpfe. Hörten die Züge, die ankamen. Sahen zum Pianisten rüber. Sein Gesicht steckte unter einer Kruste aus getrocknetem Blut. Seine Hände zitterten in der Luft.
„Wir könnten ihm ein Leben schenken“, sagte ich.
„Was meinst du?“
„Wir nennen ihn Chrzaszcz. Er hat in den größten Konzerthallen der Welt gespielt. Er ist ein begnadeter Pianist. Er hat drei Kinder. Nein, warte … Er hat keine Kinder. Er hat seine große Liebe bisher noch nicht gefunden. Aber er weiß, dass sie irgendwo dort draußen ist. Er hofft darauf, sie irgendwann zu finden. Nur deshalb spielt er sich die Finger wund. Und dann, als er seine große Liebe endlich findet, da sieht er, dass sie sich in den Klauen eines deutschen Soldaten befindet. Er kämpft um sie. Will sie dem Deutschen entreißen. Also spinnt der Deutsche eine Intrige. Er beginnt einen Krieg. Lässt Lager errichten. Steckt alle Juden in diese Lager …“
„Aber warum sollte er das tun?“
„Wer?“
„Der deutsche Soldat.“
„Weil der Pianist Jude ist. Und von dem Tag an, da er merkt, dass sich das Herz seiner geraubten Liebe einem anderen zugewandt hat, einem jüdischen Pianisten, hasst er alle Juden. Er will sie vernichten. Aber vor allem will er diesen einen Juden vernichten.“
„Und der dort drüben ist dieser Jude?“
„Ja“, sagte ich. „Der dort drüben. Der ist es.“
Wir sahen ehrfurchtsvoll zu ihm hin.
„Aber jetzt hat er ihn doch. Jetzt kann er aufhören, uns alle vernichten zu wollen.“
„Das könnte er natürlich. Aber er will es nicht.“
Wir sahen beide wieder zu Chrzaszcz. Nickten ihm zu. Er sah es nicht.
Er starb im Morgengrauen. Abwesend. Vielleicht war er mit seinen Gedanken bei der Musik. Oder bei seiner Geliebten. Vielleicht nirgendwo.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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