Und dann stehe ich plötzlich draußen, meine Zunge fährt über die Unterlippe, so als ob ich die Freiheit tatsächlich schmecken könnte, ich stehe auf einer verlassenen Nebenstraße, sehe mich um, da ist nichts, nur die Gefängnismauer, gegenüber der Gefängnismauer leer stehende Metzgereien, mein Anzug spannt, weil ich an Muskelmasse zugelegt habe, und plötzlich höre ich ein Quietschen, ich drehe mich um, da sehe ich sie kommen, ein altes Weib, eine Pennerin, verwahrlost und dreckig, mit langen speckigen Haaren, die einen Holzwagen hinter sich her zerrt, sie kommt langsam voran, hält immer wieder an, sie schnappt nach Luft, die Augen sind aufgerissen, als würde sie erschrocken aufmerken, als hätte sie vor etwas angst, vielleicht hat sie das auch, vielleicht liegt es am Gefängnis, an diesen Mauern, den verlassenen Metzgereien, wie will man hier schon Luft bekommen, mir geht es ja ähnlich, nur weg hier, denke ich, aber meine Füße versagen mir den Dienst, ich fühle mich, als würde ich in einem Sumpf fest stecken, ich hebe den Kopf, blinzele in die Sonne, was für ein erbärmlich heißer Sommertag, Hundstage, ich schatte meine Augen mit der rechten Hand ab, blicke zu der Alten, sie steht wieder da, schnappt wieder nach Luft, ich setzte den ersten Schritt, ging doch, geh weiter, denke ich, nur weg hier, sonst kommen sie noch raus und sperren dich wieder weg, die werden schon einen Grund finden, werden sagen, verurteilt wegen Herumlungerns, wegen Belästigung, irgendetwas, die finden immer einen Grund, die wird man nicht los, ich setze den nächsten Schritt, die Alte läuft auch weiter, nur noch wenige Meter, dann treffen wir zusammen, ich sehe sie mir an, sie sieht wirklich widerlich aus, verfilztes Haar, da wird sich einiges Ungeziefer finden lassen, sie stinkt, ich kann es jetzt bereits riechen, dreh um, denke ich, weg von diesem Abschaum, dreh dich um, lauf in die andere Richtung, aber meine Füße gehorchen nicht, sie laufen weiter auf die Alte zu, bis sie schließlich vor ihr zum Stehen kommen, mach Platz, Junge, knurrt sie, dann hustet sie, was machst du denn hier, Alte, frage ich sie, hier ist Endstation, hier ist das Gefängnis, sie drückt den Rücken durch, ach, sagt sie, da kommen doch nur die Idioten rein, die Schwächlinge, die nichts aus ihrem Leben machen können, na, na, du siehst mir aber auch nicht gerade nach einer erfolgreichen Geschäftsfrau aus, sage ich, sie rümpft die Nase und faucht, du stinkst danach, wonach, frage ich, du stinkst nach dem Gefängnis, ich nicke nur kurz, sage, ich war wohl drin, aber jetzt, was, fragt sie, jetzt beginnt für mich ein neues Leben, papperlapapp, sagt sie, du hast nur ein Leben, da gibt es kein anderes, ich sehe sie an, ihre Augen spiegeln den Alkohol wider, den sie heute schon getrunken hat, noch einen weiteren Schritt und ich stehe neben dem Holzwagen, na, was hast du denn hier alles, lass deine ungewaschenen Pfoten von meinem Besitz, keift sie, natürlich ist da nur Müll drin, Zeitungen, alte Zeitungen, lass die, sagt sie, damit decke ich mich in den kalten Nächten zu, und glaub mir eins, die Nächte werden im Alter immer kälter, also suche ich weiter, halte plötzlich einen Rahmen in der Hand, was will man denn mit einem Rahmen ohne Bild, frage ich sie, das Weib schreit plötzlich auf, sie macht einen unbeholfenen Schritt auf mich zu, hebt die Hand, hält inne, lass den Rahmen, der ist mir, der geht dich gar nichts an, ich lege ihn erschrocken zurück, denn ich will natürlich kein Aufsehen erregen, nicht heute und hier, na, sag schon, was ist damit, sie dreht sich wieder um, will weiter gehen, sie murmelt etwas, ich laufe also mit ihr, der ist mir geblieben, das ist das einzige, was mir von ihm geblieben ist, von wem denn, frage ich sie, eine Wolke aus Gestank hebt sich und fährt mir in die Nase, ich drehe mich nur für einen kurzen Augenblick weg, und als ich mich wieder zu ihr gesellen will, da ist sie bereits fort, sie ist am Ende der Straße, ich kann es nicht glauben, nicht fassen, wie konnte das denn geschehen, es waren doch nur einige Sekunden, wenn überhaupt, es war ein Atemzug, sie biegt um die Ecke, schwindet aus meinem Blick, was ist denn nur mit mir los, denke ich, klar, so etwas macht mich nervös, ich blicke noch einmal kurz zur Gefängnismauer, nur weg hier, denke ich, ich laufe los, schwerfällig wie einer, dem sie Ketten angelegt haben, oder der durch Tiefschnee muss, aber ich komme voran, irgendwie, ich setze Schritt vor Schritt, der Schweiß läuft in Strömen, und endlich erreiche ich die Ecke, ich streife sie mit meiner Schulter, die nächste Straße ist geschafft, wieder eine Nebenstraße, wieder die Gefängnismauer, verflucht, denke ich, die Alte ist nicht mehr zu sehen, sie muss doch aber irgendwo sein, ein Sonnenstich, denke ich, du hast einen Sonnenstich, ich laufe weiter, weil mir nichts anderes übrig bleibt.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
-
Kategorien
- Alfred Harth
- Anmerkungen
- Anzeigen
- Bücher
- Comic
- Deutsche Ikonen
- Die Beunruhigten
- Die Irrfahrten des Otto Seuse
- Filme
- Fleisch
- Fototagebuch
- Fremde Federn
- Fundbüro Clemens Setz
- Fundstücke
- Galerie
- Gastautoren
- Gedichte
- Kameraauge
- Kriminelles Tagebuch
- Kritik
- Kurzmeldungen
- Lesestoff
- Listen
- Logbuch
- Markus Michalek
- Miniaturen
- Narrenturm
- Noir
- Parallelpathologie
- Pathologie
- Poetische Essays
- Projekte
- Rückblicke
- Satiren
- Sätze
- Spielereien
- Veranstaltungen
- Vermischtes
- Wahnsinnsjournal
Archive
HAFTUNGSAUSSCHLUSS
Der Autor diese Weblogs erklärt hiermit ausdrücklich, dass zum Zeitpunkt der Linksetzung keine illegalen Inhalte auf den zu verlinkenden Seiten erkennbar waren. Auf die aktuelle und zukünftige Gestaltung, die Inhalte oder die Urheberschaft der gelinkten/verknüpften Seiten hat der Autor keinerlei Einfluss. Deshalb distanziert er sich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten /verknüpften Seiten, die nach der Linksetzung verändert wurden. Diese Feststellung gilt für alle innerhalb des eigenen Internetangebotes gesetzten Links und Verweise sowie für Fremdeinträge in vom Autor eingerichteten Gästebüchern, Diskussionsforen und Mailinglisten, insbesondere für Fremdeinträge innerhalb dieses Weblogs. Für illegale, fehlerhafte oder unvollständige Inhalte und insbesondere für Schäden, die aus der Nutzung oder Nichtnutzung solcherart dargebotener Informationen entstehen, haftet allein der Anbieter der Seite, auf welche verwiesen wurde, nicht derjenige, der über Links auf die jeweilige Veröffentlichung lediglich verweist.Impressum
Guido Rohm, 36100 Petersberg E-Mail: HIERMeta
Der Rahmen: das Werkzeug des Voyeurs. Guckkasten-Bühne, Einblick ohne Ausblick, im Bild sein: stillgestellt, ausgestellt, eingestellt.
Ich habe zu Hause einen „Rahmenkasten“: Passepartouts in allen Größen. „Bilder machen“ ist eine Form der Gefangennahme, daher heißt es auch: „den Rahmen sprengen“.
Liebe Melusine,
das sind schön und klug formulierte Gedanken, die mir sehr gefallen; zumal sie den eigenen Geist anregen.