20. August 2010, Über Merga Bien, die Hexenverfolgung und fallende Vorurteile, 6.16 Uhr

Kaffee, Zigarette.
Meine Finger ruhen über der Tastatur, fahnden nach den rechten Buchstaben, um aufzuschreiben, was sich gestern ereignete. Womit sollte ich anfangen? Mit dem Interview für den Hessischen Rundfunk? Das lief irgendwie, auch wenn ich an einer Stelle – ganz wie in alten Schulzeiten – plötzlich einen Hänger hatte, befiel mich doch ein starres Verharren des bereits geöffneten Mundes.
Ich hoffe die Stelle wird heraus geschnitten, aber es wäre auch nicht weiter schlimm, wenn sie meine Wortfindungsschwierigkeiten im Gesendeten beließen. Ein tatsächliches Interview mit einer Prise medialer Realität. Leszek Skurski und ich redeten uns um Kopf um Verstand, die Worte fielen geradezu aus unseren Mündern; ich konnte mich allerdings schon kurze Zeit später gar nicht mehr erinnern, was ich überhaupt gesagt hatte. Ein Akt der totalen Amnesie. Schweiß lief über meine Stirn. Ich würde doch niemanden beleidigt haben? Ich hatte etwas über den Islam gesagt. Was war es nur? Ich sah in Gedanken bereits Todeskommandos, die sich an meine Fersen hefteten.

Kaum hatten wir den Herrn vom Hessischen Rundfunk verabschiedet, betrat plötzlich Frau X den Raum.
Ich schluckte. Sah noch einmal hin. Das war sie. Frau X. Angehörige des Zentralkomitees der Merga Bien. Eine unsere schärfsten Gegnerinnen. Sie lächelte. Gegner lächeln nicht. Diese tat es trotzdem. Sie reichte uns die Hand.
Schon gerieten wir mit ihr in ein Gespräch über die Hexenverfolgung im Allgemeinen und über unser Projekt im Besonderen. Das Gespräch lief gut, nein, mehr als gut.
Dies sollte Frau X sein, die ich bei einem Treffen kürzlich ganz anders erlebt hatte? Ich konnte es nicht glauben. Eine sympathische, weltoffene Frau. Kirchenfeindlich. So jemanden muss man ja aus tiefstem Herzen mögen. Ja, derart fallen Feindbilder wie Kartenhäuser in sich zusammen.
Wir redeten auf sie ein, ich will jetzt hier nicht von Engelszungen reden, sie möge doch zur heutigen Ausstellungseröffnung kommen. Damit tat sie sich dann doch etwas schwer. Sie erzählte von der Theatertruppe, die uns die Aufführung des Stückes „Scheiterhaufen“ abgesagt hatte, von den Schwierigkeiten, sie biss die Zähne zusammen, aber hinter den Zahnreihen konnte man den Wunsch aufblitzen sehen, der sie in die Zunge zwickte und flüsterte: Geh hin zur Ausstellungseröffnung. Diesen einen Schatten heute hatte sie übersprungen, überflogen wie eine Ozeanfliegerin, warum also nicht auch noch den zweiten Schatten mit einem noch größeren Schritt überqueren? Dachte sie dies alles? Ich meinte es ihrem Gesicht ablesen zu können.
So plapperten wir die Zeit in Grund und Boden, noch hing kein Bild. Frau X verabschiedete sich. Leszek Skurski öffnete eine Flasche Wein. Seraphe kaufte für die Truppe beim Türken nebenan diverse Speisen ein. Wir setzten uns um einen alten Holztisch. Tranken. Aßen. Schwatzten.
Irgendwann war es zu spät für Sternchen. Wir verabschiedeten uns. Fuhren heim. Im Magen einen Döner und das seltsame Gefühl, einen Tag erlebt zu haben, der wieder einmal so ganz anders verlaufen war wie erwartet.

Ich greife nach meinem Kaffee. Kalt. Ich werde mir den Becher füllen, eine Zigarette rauchen und dann …

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