16. September 2010, Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, 5.52 Uhr

Kaffee, Zigarette.
Weil ich mit ihm einschlief, wachte ich auch wieder mit auf, er wankte neben mir her, das Gesicht fahl wie es sich für einen Toten gehört, die Augen aber waren wach, er schickte seine Blicke wie Blitze durch die Wohnung, und wer noch immer nicht weiß, von wem ich schreibe, dem sei es endlich verraten: Fassbinder natürlich.
Der saß nun also neben mir, mein liebster Künstler, der zum Schluss vor lauter Arbeit und Kreativität nicht einmal mehr an die tägliche Rasur, ja, an die Körperpflege insgesamt dachte; da hatte er keine Zeit für, spürend, jeder Film könnte der letzte Film gewesen sein.
Ob er denn auch einen Kaffee wolle, fragte ich ihn, er verneinte, räusperte sich, meinte, er würde schon gerne eine Tasse trinken, aber leider sei das mit dem Trinken für einen Toten nicht so einfach.
Ich nahm ihn mit auf eine Zigarette auf den Balkon, bekam ein schlechtes Gewissen, denn er blickte jedem meiner Züge sehnsüchtig hinter her, wischte sich über den Mund, Speichel war da zwar keiner, wohl aber die Erinnerung daran. Also drückte ich die Kippe nach einigen Zügen aus. Wir gingen zurück zu meinem Schreibtisch. Ich stellte ihm die Pathologie vor, zeigte ihm die gestrigen Kommentare, der ist von Melusine Barby, die gehört schon fast zur Gedankenfamilie, der ist von einer Olga, die schreibt vom Schauspiel, aber das sei doch gar nicht so verkehrt, sagte Fassbinder, ich nickte, ja, schon, aber mit dem Leben als Schauspiel ist es natürlich so eine Sache, weil natürlich viele Menschen die Kulissen für ihren Auftritt vorgegeben bekommen. Die können sich nicht frei entscheiden, in welchem Stück sie spielen wollen, die müssen dann halt ihren Text auf einem Müllberg aufsagen, weil da nichts ist, eben nur dieser Müllberg.
Wir sprachen laut, vielleicht zu laut, deshalb begann ich zu flüstern, weil die Damen, ich zeigte auf die Tür nebenan, weil die Damen noch schlafen, du kennst sie ja bereits, die Seraphe, das Sternchen. Da nickte er nur, stumm, und wohl hauptsächlich darüber begeistert, endlich wieder einmal auf Erden wandeln zu dürfen.
Er wäre bei meinem gestrigen Gespräch mit M dabei gewesen, unten in der Stadt in diesem Lädchen, ja, sagte ich, das Lädchen suche ich inzwischen gerne auf, da kann man einen guten Kaffee trinken, nette Leute findet man auch, es ist sehr schön dort.
Und ihr wollt einen Roman zusammen schreiben, fragte Rainer, du und M, meine ich, so fuhr er fort und ich nickte und sagte nur, wir werden sehen, denn gemeinsam einen Roman schreiben, das ist nicht so einfach, aber wenn es einen geben sollte, dann muss es ein archaisches Ding werden, eine Ohrfeige von einem Roman.
Ich berichtete ihm von der Erzählung, die beim Textem-Verlag erscheinen werde, wir redeten über dies und das, ich verstand mich großartig mit ihm, er sah mich aber die ganze Zeit über mit traurigen Augen an.
Was ist denn los, fragte ich.
Ich würde so gerne wieder einen Film drehen, sagte er.
Verstehe.
Ich wusste nicht, wie ich ihm helfen könnte, denn ich hatte zum Glück keinerlei Beziehungen im Jenseits.
Es sei jetzt Zeit, sagte er plötzlich, also öffnete ich das Buch „Fassbinder über Fassbinder“ für ihn, er sprang hinein, denn dort war einer seiner vieler Häfen, ich winkte ihm, versprach bald wieder darin zu lesen und legte es vorsichtig neben die Tastatur.
So einen Morgen lässt man sich gefallen, dachte ich, ging in die Küche, um den Becher zu füllen.
Ich trank noch einen Kaffee, rauchte eine Zigarette, dachte dabei an Rainer, und dann …

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Eine Antwort zu 16. September 2010, Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder, 5.52 Uhr

  1. olga schreibt:

    Jedem ausnahmslos jedem Menschen ist die Kulisse für seinen Auftritt vorgegeben und niemand kann sich frei entscheiden in welchem Stück er spielen will. Der Mensch bewegt sich nicht im luftleeren Raum. Aktion- Reaktion- Interaktion, auch auf dem Müllberg, ebenso wie im goldenen Käfig.

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