Der Bändiger kommt seit drei Jahren, dreizehn Tagen, zehn Stunden und, lassen Sie mich auf meine Uhr sehen, vierzig Sekunden, nein, einundvierzig Sekunden, nun gut, das mit den Sekunden sollten wir uns vielleicht ersparen.
Der Bändiger betritt Punkt acht Uhr die U-Bahn-Station.
Zunächst weicht er einer Herde von Menschen aus.
Dann aber durchstöbert er die Mülleimer. Er befindet sich stets auf der Suche nach brauchbaren Gegenständen.
Er weiß, die Mülleimer wollen überprüft sein. Dankbar strecken sie ihm das geöffnete Maul entgegen.
Der Bändiger, geübt im Kampf gegen Drachen und in der Befreiung von Prinzessinnen, verschwindet mit seinem Kopf im Maul des Eimers.
Der Mundgeruch der Eimer stößt ihm übel auf. Er räumt den Magen des kleinen Gesellen auf, der sich nicht rührt.
Mülleimer gehören zu einer Spezies, die es sich angewöhnt hat, starr in die Welt zu blicken.
Sie schlucken jede Unannehmlichkeit.
Sie spielen das tote Tier.
Im Magen findet der Bändiger eine alte Socke. Das beunruhigt den Bändiger.
Du wirst doch keinen Menschen verschluckt und verdaut haben, sagt er.
Der Mülleimer schweigt sich aus. Die Frage scheint ihn unangenehm verwirrt zu haben.
Mülleimer sind bekannt, Verhöre mit einer stoischen Ruhe überstehen zu können.
Der Bändiger weiß um die Wichtigkeit seiner Arbeit.
Plötzlich vernimmt der Bändiger ein Knurren. Er weiß nicht, kam es vom Eimer oder aus seinem eigenen Magen.
Er tritt zurück.
Alles ist gut, sagt er zu dem Eimer.
Neben ihm steht plötzlich ein Anzugträgermännchen.
Weg, weg, verscheucht er das Männchen.
Dies ist eine gefahrvolle Situation.
Aber nun ist er ja vor Ort. Der Bändiger. Nun kann den Herden nichts geschehen.
Er spricht weiter auf den Eimer ein. Horcht.
Der Eimer scheint sich beruhigt zu haben. Gut so.
Der Bändiger setzt sein Tagewerk fort. Eimer für Eimer operiert er Inhalte der unverdaulichen Art aus den Mägen.
Die Eimer zeigen an diesem Tag kein weiteres ungewöhnliches Verhalten.
Die Menschenherden können galoppieren.
Ach, was wissen die schon von der gefährlichen Arbeit des Bändigers.
Sie übersehen ihn.
Hin und wieder wirft man ihm eine Münze vor die rastenden Füße. Der Bändiger nimmt sie auf.
Ein totes Insekt, denkt der Bändiger und lässt es in seiner Tasche verschwinden.
Am Abend schleppt der Bändiger seinen müden Körper an die Oberfläche zurück.
Er wird sich nun den Schlagen zuwenden, ist er doch in seinem zweiten Beruf ein Schlangenbeschwörer.
Der Bändiger erwirbt durch die Übergabe einiger Insekten eine Schlange.
Er setzt sich mit der Schlange unter einen Baum im Park.
Er sieht der Schlange in die Augen. Dann würgt er sie am Hals. Er saugt ihr das Gift aus dem Körper.
Er schluckt das Gift.
Er weiß: Irgendwann wird das Gift mich umbringen.
Trotzdem setzt er seine Arbeit fort. Es gibt so viele Schlangen. Und er opfert sich.
Das Schlangengift bereitet merkwürdige Träume.
Er sieht sich in einem Dschungel. Die Tiere rufen seinen Namen.
Wenn er am Morgen dann erwacht, hat er seinen Namen, seinen geheimen Dschungelnamen, vergessen.
Er stemmt sich nach oben. Die Hände klamm von der Kälte der Nacht.
Er geht hinüber zur U-Bahn-Station.
Er kommt seit drei Jahren und vierzehn Tagen. Er war nie krank. Hat keinen Urlaub gemacht.
Er betritt die Station.
Die Eimer können sein Kommen riechen. Sie öffnen die Mäuler und warten auf ihn.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
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