Diese dort, so zeigte man mir mit Kuchen im Mund, während ich die Kaffeetasse hob, diese dort, wir befinden uns, Sie ahnen es vielleicht, auf dem bereits im gestrigen Tagebucheintrag angekündigten Familientreffen, diese dort sei, sagte man, nicht irgendwer sagte das, sondern Onkel Alphonse, der Onkel Alphonse, der, so erklärte man mir später mit hochgezogenen Augenbrauen und einem Nicken, mit unzähligen bunten Luftballons von Rom nach Kapstadt geflogen sei, nie gehört, antwortete ich, Schritt für Schritt beim Spaziergang setzend, denn man berichtete mir von Onkel Alphonse und seinen Flugabenteuern beim jährlichen traditionellen Gang zum Friedhof, der uns, ich werde Ihnen da noch ein Bild nachreichen müssen, eine Überraschung offenbarte, denn wir gingen auf einen Friedhof der besonderen Art, auf dem die Toten liegen (oder bald liegen), deren Todesdatum in der Zukunft liegt, die also noch unter uns weilen, lachend und Kuchen essend und Geschichten erzählend, von denen man aber schon genau weiß, wann sie unter die Erde kommen werden, arme Schweine, dachte ich, während wir zum Friedhof liefen und man mir von Onkel Alphonse und seinem Flug erzählte, eben jenem Onkel Alphonse, der mir am Kaffeetisch von der Dame berichtete, von der ich eingangs und ursprünglich erzählen wollte, nur abgelenkt von den Nebensächlichkeiten des Erzählstrangs, den ich hier an dieser Stelle aufnehmend, mit den Worten weiterlaufen lassen will, wie mir Onkel Alphonse von einer Dame am Kopfende berichtete, die sich Marie Sertuno nennt, die sich natürlich nicht nur so nennt, sondern die tatsächlich auch so heißt, eigentlich nicht, sagte Onkel Alphonse, eigentlich war ihr Name Karin Nagemüller, aber sie benannte sich in den fünfziger Jahren um, ja warum denn das?, ich solle ihn aussprechen lassen!, bellte Onkel Alphonse mich an, so könne er nicht bis zum Ende denken, er würde die ganzen Worte verlieren, sagte Onkel Alphonse, sich unter den Tisch bückend und etwas aufhebend, vom dem er später, da verabschiedeten wir uns längst, behauptete, es seien einzelne Wörter gewesen, die nötig für seine Geschichte über Marie Sertuno gewesen seien, die aber durcheinander in seiner Hand gelandet, den Sinn seiner Geschichte entstellt hätten, die keine Geschichte gewesen sei, sondern die reinste Wahrheit und nichts als die Wahrheit, sagte Onkel Alphonse, der einen Hut trug, der an einen Wasserbüffelkopf erinnerte, ein großer merkwürdiger Hut, der mich von der Seite ansah und blinzelte und später, da ging Onkel Alphonse bereits, auch, ich versichere es Ihnen bei meinem Leben, gähnte, ich war mir sicher, derartiges gesehen zu haben, aber der Rest der Familie stritt es ab, sodass ich schließlich stumm blieb und nichts zum Fall mit dem blinzelnden Hut mehr beitrug, denn ich wollte ja nicht als Verrückter abgestempelt werden, zumal der Tag vorbei und ich alle erst beim Weihnachtsfest wiedersehen würde, sicherlich auch Marie Sertuno, von der Onkel Alphonse erzählte, sie sei in den fünfziger Jahren eine berühmte Darstellerin in Horrorfilmen gewesen, und wenn auch nicht berühmt, so wäre sie doch aber berüchtigt gewesen, Kinski, Sie kennen doch Kinski?, hatte Onkel Alphonse gefragt, sich dabei ein Kuchenstück in den Mund geschoben, jaja!, also, Kinski hat über sie gesagt, sie sei der leibhaftige Tod, der versucht habe, sich als Dame zu verkleiden, sagte Onkel Alphonse und kicherte dabei, Kuchenbrösel spritzten aus seinem Mund und mir ins Gesicht, während ich mir die Dame ansah, über die er sprach und die alt und verfallen und mit einem Buckel ausgestattet auf ihrem Platz saß und kein Wort sprach, die, so Onkel Alphonse, in Filmen wie, das berittene Grauen, wir kommen um halb Fünf und schlachten euch um halb Sechs gespielt habe, Filme, die längst vergessen seien, so wie sie, Marie Sertuno, aber jetzt, sagte Onkel Alphonse und stieß mich in die Seite, jetzt wollen wir zum Friedhof derer, die noch nicht gestorben sind, ich sah ihn verwirrt an, gehorchte aber, stand auf und trottete der Familie hinterher, hin zum Friedhof, von dem ich Ihnen noch ein Bild nachliefern werde, denn auf so einen Friedhof kommt man nicht alle Tage und ist man dort, sollte man Sorge tragen, zu überprüfen, ob man Gast oder Bewohner ist, denn, so Onkel Alphonse kichernd und noch immer Kuchenbrösel verspritzend, stellen die Toten hier fest, dass man zu ihnen gehört, dann lassen sie einen nicht mehr fort, nein, nein, Sie lassen einen einfach nicht mehr fort.
Archivierung!
Die Pathologie wird von der Universität Innsbruck im Rahmen des Forschungsprojektes DILIMAG, sowie dem DEUTSCHEN LITERATURARCHIV MARBACH archiviert.- "In Pissoirs geht man Stufen hinunter, in Bunker, in Krematorien, in die Pathologie, in Weinkeller. Es lassen sich mythologische Beziehungen zum Hinabsteigen herstellen." Hubert Fichte, Die Palette
Über Guido Rohm
Er kam, sah und schrieb. Der Schriftsteller Guido Rohm , geboren 1970, lebt und raucht in Fulda. Romane von ihm tragen sensible Titel wie „Blut ist ein Fluss“ und „Blutschneise“.
-
Kategorien
- Alfred Harth
- Anmerkungen
- Anzeigen
- Bücher
- Comic
- Deutsche Ikonen
- Die Beunruhigten
- Die Irrfahrten des Otto Seuse
- Filme
- Fleisch
- Fototagebuch
- Fremde Federn
- Fundbüro Clemens Setz
- Fundstücke
- Galerie
- Gastautoren
- Gedichte
- Kameraauge
- Kriminelles Tagebuch
- Kritik
- Kurzmeldungen
- Lesestoff
- Listen
- Logbuch
- Markus Michalek
- Miniaturen
- Narrenturm
- Noir
- Parallelpathologie
- Pathologie
- Poetische Essays
- Projekte
- Rückblicke
- Satiren
- Sätze
- Spielereien
- Veranstaltungen
- Vermischtes
- Wahnsinnsjournal
Archive
HAFTUNGSAUSSCHLUSS
Der Autor diese Weblogs erklärt hiermit ausdrücklich, dass zum Zeitpunkt der Linksetzung keine illegalen Inhalte auf den zu verlinkenden Seiten erkennbar waren. Auf die aktuelle und zukünftige Gestaltung, die Inhalte oder die Urheberschaft der gelinkten/verknüpften Seiten hat der Autor keinerlei Einfluss. Deshalb distanziert er sich hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten /verknüpften Seiten, die nach der Linksetzung verändert wurden. Diese Feststellung gilt für alle innerhalb des eigenen Internetangebotes gesetzten Links und Verweise sowie für Fremdeinträge in vom Autor eingerichteten Gästebüchern, Diskussionsforen und Mailinglisten, insbesondere für Fremdeinträge innerhalb dieses Weblogs. Für illegale, fehlerhafte oder unvollständige Inhalte und insbesondere für Schäden, die aus der Nutzung oder Nichtnutzung solcherart dargebotener Informationen entstehen, haftet allein der Anbieter der Seite, auf welche verwiesen wurde, nicht derjenige, der über Links auf die jeweilige Veröffentlichung lediglich verweist.Impressum
Guido Rohm, 36100 Petersberg E-Mail: HIERMeta
Die reisenden Onkel Alphonses dieser Welt bieten schier unerschöpflichen Schreibstoff. Wie gut, dass es sie gibt 🙂 http://schreibhunger.wordpress.com/2011/12/29/fonsensdag/
… und wenn es sie nicht gäbe, dann müsste man sie wohl erfinden.